27. Februar 2010

A Clockwork Orange [Uhrwerk Orange]

What’s it going to be then, eh?

Es vergeht kaum eine Woche ohne dass in Deutschland Jugendliche andere Menschen auf offener Straße oder in Bus und Bahn krankenhausreif prügeln. Dank der Medien ein allgegenwärtiges Thema, aber kein rein aktuelles. So erzählte Stanley Kubricks A Clockwork Orange vor fast 40 Jahren bereits die Geschichte gewaltgeiler junger Delinquenten. Der Film selbst basierte dabei auf dem gleichnamigen Roman von Anthony Burgess, der gut zehn Jahre zuvor erschien, ein Jahr nach den Jugend-Gangs in West Side Story. Auch Rebel Without a Cause zeigt, dass Jugendgewalt schon 1955 ihren Weg ins Kino fand. Zwar erklärt das Bundesamt für Statistik, dass die Zahl jugendlicher Straftäter seit 1990 kontinuierlich gestiegen ist, ein neues Phänomen ist die Gewaltbereitschaft junger Menschen deshalb keineswegs. So wenig Jugendgewalt in dieser Hinsicht aktuell ist, desto aktueller ist aber vielleicht gerade Burgess’ Kultroman über die Katharsis des jungen Alex.

Burgess präsentiert seinem Leser mit Alex, der selbst als “your humble narrator” gelegentlich die vierte Wand durchbricht, einen durchweg unsympathischen Charakter. Einen 15-jährigen Delinquenten, in Kubricks Film vom damals 27-jährigen Malcolm McDowell kongenial porträtiert, der sein Elternhaus sowie die unmittelbare Umgebung terrorisiert. Alex und seine Freunde leben in ihrer eigenen Welt mit ihrer eigenen Sprache. “Nadsat“ nannte Burgess sein Mischmasch aus Russisch und Englisch, das von “droogs” (Kumpel), “tolchocks” (Schlägen), “twenty-to-one” (Gewalt) und anderen “veshches” (Dingen) erzählt. Was in der Reclam-Ausgabe mittels Fußnoten funktioniert, steht im Film für sich. Verständlich, dass Kubrick nicht unentwegt in “nadsat” verfällt, mehr als löblich, dass er dieses dennoch unkommentiert in A Clockwork Orange integriert hat. Wie ohnehin der Film weitestgehend perfekt Anthony Burgess’ literarische Vorlage adaptiert.

“The night belonged to me and my droogs and all the rest of the nadsats, (…) but the day was for the starry ones”, erklärt Alex im Buch an einer Stelle. Es gibt also eine Aufspaltung in Tag und Nacht, während Letzterer man sich am besten nicht nach draußen traut (was auch Alex’ Vater bestätigt). Die Nacht gehört den Jugendlichen, die ihr Unheil treiben, von Diebstahl über “twenty-to-one” bis hin zur “ultra-violence” (Vergewaltigung). Ein durchschnittlicher Abend für Alex und seine “droogs”, die sich in billigen Kneipen von alten Alkoholikerinnen ein Alibi durch Freigetränke erkaufen. Kubrick adaptiert einen solchen Abend zu Beginn nahezu identisch aus Burgess’ Roman, der die gesamte Palette der Grausamkeiten beinhaltet. Selbst andere Jugendbanden wie die von Billyboy werden aufgemischt, sodass Alex in jener Szene sogar wie ein Ritter in schillernder Rüstung wirkt, wenn er Billyboys “devotchka” (Mädchen) vor dessen “ultra-violence” rettet.

Seiner Zeit war A Clockwork Orange ein Skandalfilm, der für den britischen Markt erst 2000 wieder zugänglich gemacht als Nachahmer ihr Unwesen im Königreich getrieben hatten. Dabei ist der Film selbst sehr viel entschärfter als Burgess’ Roman, angefangen mit der Vergewaltigung von Mrs. Alexander in der Mitte des ersten Teils. Diese wird lediglich angedeutet, jedoch vollkommen ausgeblendet. Hinzu kommt Alex’ Bekanntschaft im Plattenladen, in der zum einen die beiden “devotchkas” nicht 10 Jahre alt sind, sondern eher im selben Alter wie Alex selbst. Zugleich erscheint ihre Ménage à trois einvernehmlich und nicht wie die Vergewaltigung zweier unschuldiger Kinder. Später wird Kubrick zudem Alex’ zweiten und im Gefängnis verübten Mord aussparen, wie der Film auch im weiteren Verlauf was die Gewalt angeht – man denke an Alex’ Aufeinandertreffen mit Dim und Pete – nie wirklich schockieren kann, geschweige denn dies überhaupt will.

Schockierender als die explizite Darstellung der Gewalt scheint also allein ihre Thematisierung zu sein, selbst wenn Kubrick sie nicht mit der Kamera einfängt. Eine Selbstreflexion der Jugendlichen findet nicht statt, weder im Film, noch im Roman. “They don’t go into what is the cause of goodness, so why of the other shop?”, ist Alex das Thema im Buch auch leid. Was er und seine “droogs” verbrechen, machen sie aus Spaß an der Freude. Der Konsequenzen sind sie sich dabei bewusst. “If I get loveted, well, too bad for me”, meint Alex dort. Woher der Spaß am Leid der Anderen kommt, wird nicht erörtert. Eine perverse Befriedigung, wie man sie eben in jüngeren Jahren gelegentlich verspüren mag. Die Ironie ist, dass sich Alex im ersten Teil der Handlung gar nicht bewusst ist, dass ihm die Sympathie seiner Leser beziehungsweise Zuschauer fehlt. Die Wendung, die Burgess betreibt, ist die, dass sich dies im Laufe der nächsten beiden Kapitel ändern wird.

Es ist Alex’ Liebe zur klassischen Musik, die ihn von seinen “droogs” abhebt und letztlich den weiteren Verlauf seines Lebens bestimmt. Ein Zwist mit Dim & Co. führt zu jenem Überfall, der eine alte “ptitsa” (Frau) das Leben und Alex durch den Verrat seiner “droogs” die Freiheit kosten wird. Er hat sein Glück ausgereizt, es kommt, was kommen musste und absehbar war. Dem Aufenthalt im Gefängnis widmet sich Kubrick nur sporadisch. In wenigen Szenen wird die Brücke zum Ludovico-Programm geschlagen. Einer Idee des neuen Innenministers, die – und darauf kommt es Alex an – Straferlass gewährt. Hier beginnt die Moralitätsfrage der Geschichte einzusetzen, wenn Burgess und Kubrick das Konditionierungsprogramm der Ludovico-Technik vorstellen. Eine ungewollte Auseinandersetzung mit Gewaltdarstellungen und ein Serum sollen zu einem korrigierten Verhalten führen. Was Alex im Begriff ist für seine Freiheit aufzugeben, ist nichts weniger, als seine Menschlichkeit.

“Goodness comes from within (..) Goodness is something chosen. When a man cannot choose, he ceases to be a man”, erklärt der Gefängniskaplan Alex, als dieser zum ersten Mal das Ludovico-Programm zur Sprache bringt. Bevor Alex dank seiner Bestrebungen ins Programm aufgenommen wird, erneuert der Kaplan seine Warnung: “What does God want? Does God want goodness or the choice of goodness? Is a man who chooses the bad perhaps in some way better than a man who has the good imposed upon him?” Wenn ein Mensch sich nun gut verhält, weil er so konditioniert ist, ist er dann noch ein Mensch, da sich dieser ja durch die Eigenschaft seines freien Willens auszeichnet? Heiligt der Zweck der sozialen Integration die Mittel, die dazu nötig sind? Alex denkt natürlich nicht soweit, sieht lediglich die Freiheit als Folge all dieser medizinischen Experimente. Dass er infolgedessen seine geliebte Musik opfern muss, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Die vermeintliche Resozialisierung geschieht und nach einer öffentlichen Demütigung als Demonstration ist Alex äußerlich frei, sein Wille bleibt jedoch eingesperrt. Damit er nun endlich merkt, in welcher Lage er sich befindet, wiederholen sich im dritten Teil der Geschichte die Ereignisse des Beginns. Zu Hause ist Alex nicht mehr willkommen, bemitleidenswert in die Ferne starrend wird er von einem ehemaligen Opfer wiedererkannt und muss selbst “tolchocks” einstecken. Gewalt erzeugt Gegengewalt, das machen nicht nur der Obdachlose und seine Kumpanen deutlich, sondern auch Dim und Pete, die inzwischen bei der Polizei gelandet sind und nun ihrem ehemaligem Peiniger gegenüberstehen. Am deutlichsten wird dies in der Darstellung von Mr. Alexander (Patrick Magee), der vom Opfer zum Täter mutiert und Alex vice versa. Ein Kreislauf, den Kubrick zum Schluss abschließt, auch wenn die eigentliche Geschichte von Burgess im Roman hier noch gar nicht endet.

Kubrick verwehrt uns die Moral von der Geschichte, scheint Alex nach seinem Suizidversuch wieder „normal“, womit das Dilemma im Grunde von vorne startet. In Burgess’ 21. Kapitel beginnt derweil Alex’ Metanoia: Vom Staat wird er mit einem ansprechenden Arbeitsplatz versehen, wo er nicht nur gut verdient, sondern auch seine geliebte Musik hören kann. Als er dann mit seinen neuen “droogs” in seiner alten Bar sitzt, realisiert Alex, dass er dieses Lebens überdrüssig wird. Bei den “tolchocks” schaut er nur noch zu und auf Raubzüge möchte er auch nicht gehen. Seine Katharsis vollzieht sich schließlich vollends, als er in Pete einen seiner alten “droogs” in einem Cafe trifft. “I was like growing up”, resümiert Alex, nachdem in ihm plötzlich die innere Sehnsucht nach einer Familie angefacht wird. “Youth must go”, reinterpretiert er im Grunde die Worte Paulus’ aus dem 1. Kor., Kapitel 13, Vers 11 („Als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war“).

Mit dem Alter kommt die Weisheit. So erklärt das Bundesamt für Statistik, dass die Gewaltverbrechen der Jugendlichen im Alter zurückgehen. Und nicht von ungefähr umfasst Burgess’ Geschichte 21 Kapitel, ist dies doch jenes Alter, in dem weithin der Reifeprozess als abgeschlossen erachtet wird. Eine hoffnungsvolle Note, die sicher nicht für alle betroffenen Jugendlichen zutrifft, aber doch bei einigen. Im jugendlichen Akt der Rebellion gegen die Eltern und das System muss die Einsicht von selbst erfolgen, dass Letzteres notwendig und sinnvoll ist. “Goodness is something chosen”, sagte der Kaplan. Mit Güte wird man nicht geboren, sondern sie ist etwas, das man wählt. Nicht grundsätzlich, sondern immer wieder. Nicht alle Jugendliche, die gegenwärtig Leute in öffentlichen Verkehrsmitteln schlagen, werden in zehn Jahren ganz „normal“ leben. Aber einige. Wie auch in zehn Jahren vermutlich noch Jugendgewalt ein Thema sein wird. Und weitere zehn Jahre danach.

Ein Kreislauf, dessen sich auch Alex bewusst wird und den Kubrick der Figur in seiner Adaption versagt. Er stellt ihn vielmehr als unbelehrbar dar. So gelungen A Clockwork Orange bis dahin auch war, ist das Ende des Filmes doch fehlgeleitet und seiner eigentlichen Botschaft beraubt. Zugleich reflektiert Alex auch bei Burgess nicht über sein Handeln, sieht nicht ein, dass er sich falsch verhalten hat. Er ist bloß seiner Handlungen überdrüssig. Ein wirklicher Zugang zur Figur scheint somit weder bei Kubrick noch bei Burgess möglich. Letztlich bleibt es vermutlich ein reines Problem der Pubertät, das heute so aktuell ist, wie es schon immer war. Schließlich soll bereits Sokrates gesagt haben: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Und wieso sollte sich ändern, was bereits vor 2.400 Jahren Gültigkeit besaß?

8.5/10

7 Kommentare:

  1. Puh, das Buch habe ich auf Englisch mal versucht, aber wenn man ständig Wörter nachgucken muss... war mir echt zu anstrengend mit dem Nadsat.

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  2. Nicht nur das Ende ist eine einzige Fehlleitung. Kubrik selbst ist schon der Fehler.

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  3. @David: am Anfang ist es schon recht anstrengend zu lesen aber irgendwann hat man das Nadsat raus und das lesen geht flüssiger.

    Ansonsten kann ich mich nur anschließen: klasse Buch und eine perfekte Film-Adaption.

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  4. Nicht nur das Ende ist eine einzige Fehlleitung. Kubrik selbst ist schon der Fehler.

    Dieses ständige Genöle in Sachen Kubrick wird langsam aber sicher langweilig.

    So gelungen A Clockwork Orange bis dahin auch war, ist das Ende des Filmes doch ungemein fehlgeleitet und seiner eigentlichen Botschaft beraubt.

    Ansonsten: Ich muss endlich auch mal den Roman lesen. Weiß man denn, bzw. hat Kubrick sich vielleicht mal dazu geäußert, warum er das Ende geändert hat?

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  5. Kubrick hat per se das Ende nicht geändert, sondern das der amerikanischen Buchfassung übernommen. In Amerika strich man das letzte Kapitel, weil es zu happy-endig war. Kubrick hat Burgess' Fassung erst nach Vollendung des Drehbuchs gelesen und fand es dann nicht mehr passend.

    @David: Candide hat recht. Nach spätestens 60 Seiten hat man sich ins nadsat reingelesen, dann läuft es relativ flüssig.

    @Rajko: Hehe, etwas anderes hätte mich auch überrascht bei dir.

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  6. Ich sehe das Ende nicht als fehlgeleitet an. Eine moralische Kehrtwende hätte dem Film nicht gutgetan, ebenso wenig wie es dem Buch gut tut, bei dem ich die gekürzte Version ohne das 21. Kapitel bevorzuge, denn Alex' Erwachsenwerden nähme dem Film seinen satirischen Grundton, stattdessen änderte sich mit Alex zwar der Motor der Geschichte, aber nicht die düstere Welt, in der diese spielt, soll heißen: Auch wenn Alex der Gewalt letztendlich überdrüssig wird, so ändert sich im Großen und Ganzen doch gar nichts, der zuvor ins Absurde gezogene Nihilismus würde dadurch universell und greifbar real, was, wie ich finde, der Geschichte nicht gerecht wird. So, wie der Film ist, ist er eine satirisch überhöhte Mahnung vor der Spirale der Gewalt, ohne allerdings allzu sehr mit dem moralischen Zeigefinger zu winken, und das macht ihn gut, wirklich gut.

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  7. @C.H.:

    Welches Genöle? Es gibt nie Gelegenheit in Sachen Kubrick zu nölen, weil ich a) nie was über Kubrick bei mir schreibe und b) insgesamt max. 3 mal irgendwo was zu Kubrick kommentiert habe. :)

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