Today’s youth… unbelievable.
Eine von Konfuzius’ Lehren lautet: “study the past if you would define the future” – oder umgangssprachlich: Aus Fehlern lernen. Ein Prozess, aus dem sich Erfahrung generiert. Lebenserfahrung, wenn man so will. Fehler sind somit in gewisser Weise der Pfad von der Kindheit ins Erwachsenenalter. In Shih-Ching Tsous erster Solo-Regiearbeit Zuopiezi nuhai [Left-Handed Girl] gibt es eigentlich keine Figur, die nicht auf eine Ansammlung von Fehlern zurückblickt – und gleichzeitig auch über die Filmlaufzeit weiterhin solche begeht. Sie alle hadern mit ihrem Leben und ihrer Situation, mitunter hilft es nur, die alte Identität abzuschütteln und eine neue anzunehmen. Insbesondere den beiden Hauptfiguren steht diese Option aber nicht offen.
Nach einigen Jahren kehrt Shu-Fen (Janel Tsai) mit ihren Töchtern I-Ann (Shih-Yuan Ma) und I-Jing (Nina Ye) zurück nach Taipei. Die Familie strebt nach einem Neuanfang, ein Nudel-Imbiss in einer der vielen Einkaufsstraßen soll den Weg hierzu ebnen. I-Ann hält von den Plänen ihrer Mutter nicht viel, verfügt aber selbst aufgrund ihrer abgebrochenen Schulausbildung über wenig Handlungsspielraum. “If you make money, you can have opinions”, macht ihr Shu-Fen klar. Meinungsfreiheit ist etwas, das man sich leisten können muss. Wobei es weniger um Meinungen geht, als um Optionen. Und um die Entscheidungen, die man trifft. Und mit deren Konsequenzen man zu leben hat – oft über viele Jahrzehnte hinweg. Teilweise bis zum Tod.
I-Jing ist hierbei die jüngste Generation, die womöglich droht, in diesen Malström hineingezogen zu werden, auch deswegen, weil die Erwachsenen um sie herum ihr wenig Beachtung schenken und damit ihre Erziehung vernachlässigen. “Why are you so aggressive?”, fragt das Mädchen in einer Szene keck die große Schwester. Eigentlich eine rhetorische Frage, da I-Anns Frust nicht aus einer Situation heraus geboren ist, vielmehr ist die junge Frau um die 20 mit ihrer Gesamtsituation unzufrieden. Ihr bleibt nur die Option, sich als Betelnuss-Mädchen zu verdingen, während ihre ehemaligen Schulkameraden ihr Glück an der Universität versuchen – aber selbst sie ändern hierfür ihre Namen, um dort bessere Aussichten zu haben.
“A married daughter’s like water that’s poured out”, begründet Shu-Fens Mutter A-Ming (Teng-hung Hsia) ihren Unwillen, der Tochter mal wieder finanziell unter die Arme zu greifen, als die bei ihrer Stand-Miete wegen der Krankenhausrechnungen ihres Mannes hinterher ist. Auch ihre anderen Töchter hatten in der Vergangenheit ihre Probleme, wie wir erfahren. Nur der einzige Sohn, der sich ins Ausland abgesetzt hat, scheint wenig zu bereuen – allenfalls später, dass er in die Heimat zurückgekommen ist. I-Jing versucht diese Welt der Erwachsenen auf ihre Weise zu navigieren, eine abergläubische Bemerkung ihres Großvaters bezüglich ihrer Linkshändigkeit verunsichert aber in der Folge dann auch zunehmend sie.
Left-Handed Girl weist in Sachen Tonalität viele Anleihen der Werke von Sean Baker auf, mit dem Shih-Ching Tsou einst Take Out inszenierte, Tsou dann in der Folge die Werke Bakers produzierte – mit Ausnahme seines Oscar-Preisträgers Anora, da die Regisseurin mit ihrer Produktion für ihr Solo-Debüt beschäftigt war. Baker unterstützt sie hier beim Drehbuch und übernahm auch den Schnitt, es dürfte zudem kein Zufall sein, dass Shu-Fens sympathischer Standnachbar Johnny (Teng-Hui Huang) mit seiner Frisur wie ein taiwanisches Double ihres langjährigen Produktionspartners aussieht. Left-Handed Girl erinnert stark an Bakers Meisterwerk The Florida Project, insbesondere aufgrund des emotionalen Fokus auf Nina Ye.
Und dafür, dass er mit einem iPhone gedreht wurde, ist er durchaus ansehnlich, wenn auch in dem ein oder anderen Moment etwas überbelichtet und zu hell. Doch Taipeh als Setting überzeugt ebenso wie das Schauspielensemble, Sean Bakers dynamischer Schnitt und die musikalische Untermalung, die ebenfalls von Lorne Balfes Score zu The Florida Project inspiriert scheint. In seinen finalen 20 Minuten zwingt sich Zuopiezi nuhai allerdings etwas unnötig in ein zu dramatisches Korsett hinein, das es gar nicht wirklich gebraucht hätte; scheinbar, damit sich die Hauptfiguren einer abschließenden Katharsis gegenübersehen – und einer entscheidenden Entscheidung, um aus einem Fehler doch noch eine Erfahrung zu machen.
“Better a diamond with a flaw than a pebble without”, sagte Konfuzius ebenso, fast, als spräche er über I-Ann und Shu-Fen. Shih-Ching Tsou beweist, dass sie hinter der Kamera auch ohne Sean Baker eine gute Figur macht, selbst wenn Zuopiezi nuhai trotz seines innewohnenden Charmes nicht vollends so vereinnahmend gerät wie Bakers Werke à la Red Rocket, Starlet und The Florida Project. Im qualitativ überschaubaren Sortiment von Streaming-Riese Netflix, wo Left-Handed Girl letztlich gelandet ist, darf der Film aber durchaus als Diamant erachtet werden. Vielleicht folgt ja noch eine physische Auswertung auf Blu-ray. In dem Fall könnte man wie Johnny bei seinen Haushaltsprodukten versichern: “You’ll not regret buying it.”
6.5/10



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