Dem US-Justizministerium nach werden jährlich beinahe 800.000 Kinder unter 18 Jahren als vermisst gemeldet oder 2.185 Kinder pro Tag. Aktuell sind es 198 Kinder und Jugendliche, die im Bundesstaat Texas vermisst werden – einer davon ist Nicholas Barclay, der heute 31 Jahre alt wäre. Im Alter von 13 Jahren verschwand er im Juni 1994 in San Antonio, Texas und wurde seither nicht mehr gesehen. Und auch wenn seine Familie der Überzeugung ist, dass er nicht mehr lebt, will sie ihn dennoch finden. “You just wanna find out what happened to him”, sagt seine Schwester Carey Gibson in Bart Laytons Dokumentarfilm The Imposter. Layton rekapituliert darin jenes Jahr 1997, als es schien, dass Nicholas wieder aufgetaucht sei.
Doch am anderen Ende der Telefonleitung war kein Verantwortlicher aus Texas, nicht einmal aus den USA, sondern der Anruf an Carey Gibson kam aus Spanien. Dort sei Nicholas in einem Kinderheim gefunden worden, nachdem er einem Sexsklavenring entflohen war. Sofort flog Gibson über den Atlantik, um ihren Bruder nach Hause zu holen. Nur, die Person, die sie abholen kam, war nicht ihr Bruder Nicholas. Statt eines 16-jährigen Jungen wartete ein 23-jähriger Twen auf sie, das französische Chamäleon Frédéric Bourdin. “From as soon as I remember, I wanted to be someone else”, erzählt dieser Layton. Und früh zeigt sich, dass die Geschichte von The Imposter nicht die eines verlorenen Jungen ist, sondern derer zwei.
Als Sohn eines Algeriers hatte es Bourdin im Kindesalter nie leicht, ein Gefühl von Liebe bekam er von seiner Mutter nach eigenen Aussagen nicht vermittelt. Er war unerwünscht und nicht gewollt – entsprechend war alles, wonach er sich immer sehnte, eine Familie zu haben. Seine Entscheidung, zu Nicholas Barclay zu werden, war dabei Zufall. Grundsätzlich war es ihm darum gegangen, in ein Kinderheim gebracht zu werden. Er adoptierte den Look und das Verhalten von Teenagern und stellte sich stumm. “It’s very hard to read a kid that doesn’t speak”, weiß Bourdin. Das Kinderheim wollte sich damit jedoch nicht begnügen, der 23-Jährige musste eine Identität beanspruchen und wählte die des vermissten Nicholas Barclay.
“He looked nothing like me”, sagt der dunkelhaarige Bourdin über den blonden und blauäugigen Nicholas. Dennoch zog er sein Unternehmen durch, färbte sich die Haare, ließ sich Tätowierungen nachstechen und sprach so wenig wie möglich, um seinen Akzent zu kaschieren. “I could convince anyone of anything”, schmunzelt Bourdin. Er überzeugte letztlich nicht nur die spanischen Behörden, sondern auch Gibson und „ihre“ Mutter Beverly Dollarhyde. “He had changed so much”, urteilt die zwar, schiebt es aber auf das von Nicholas durchstandene Trauma. Ihre Familie hatten nun ihren Jungen wieder, Bourdin hingegen hatte nun endlich eine Familie. “I never dreamt of so much”, gesteht er aufrichtig. “I was born again.”
Was folgt, sind Schulbesuche, Fernsehauftritte, Befragungen durch das FBI, ein privater Ermittler und stets die unterschwellige Frage, ob niemanden aufgefallen ist, dass dieser Junge nicht Nicholas sein konnte? Aber wie auch, wo ihn ja „seine“ Familie aufgenommen hatte? “No one would be wrong about something like that”, sagt FBI-Agentin Nancy Fisher, die den Fall von Nicholas vermeintlicher Versklavung verfolgte. The Imposter zieht einen speziell zu Beginn in seinen Bann, wenn Layton den charismatischen Bourdin seine Vorgehensweise des Identitätendiebstahls rekapitulieren und nachspielen lässt. Und es sind jene Reenactments des Films, die ihm mit seine spannungsintensive Stärke und Klasse verleihen.
Die Schauspieler für die Interviewten sehen diesen ungemein ähnlich, Layton legt Bourdins Worte Lippensynchron auf die Reenactments und liefert eine beeindruckende Mise en scene. Zwar flacht The Imposter im zweiten Akt etwas ab, nimmt jedoch zum Schluss erneut Fahrt auf, als die Fassade zu bröckeln beginnt und sich Risse aufzutun scheinen, die lange vorher existierten. Bart Layton gelang eine eindringliche und packende Dokumentation, die es mit jedem Spielfilm aufnehmen kann und die in dem so abstoßenden wie sympathischen Frédéric Bourdin eine der ambivalentesten Figuren des Jahres bietet. In einer Geschichte so bizarr, dass man kaum glauben kann, dass sie sich wirklich ereignet hat.
Doch am anderen Ende der Telefonleitung war kein Verantwortlicher aus Texas, nicht einmal aus den USA, sondern der Anruf an Carey Gibson kam aus Spanien. Dort sei Nicholas in einem Kinderheim gefunden worden, nachdem er einem Sexsklavenring entflohen war. Sofort flog Gibson über den Atlantik, um ihren Bruder nach Hause zu holen. Nur, die Person, die sie abholen kam, war nicht ihr Bruder Nicholas. Statt eines 16-jährigen Jungen wartete ein 23-jähriger Twen auf sie, das französische Chamäleon Frédéric Bourdin. “From as soon as I remember, I wanted to be someone else”, erzählt dieser Layton. Und früh zeigt sich, dass die Geschichte von The Imposter nicht die eines verlorenen Jungen ist, sondern derer zwei.
Als Sohn eines Algeriers hatte es Bourdin im Kindesalter nie leicht, ein Gefühl von Liebe bekam er von seiner Mutter nach eigenen Aussagen nicht vermittelt. Er war unerwünscht und nicht gewollt – entsprechend war alles, wonach er sich immer sehnte, eine Familie zu haben. Seine Entscheidung, zu Nicholas Barclay zu werden, war dabei Zufall. Grundsätzlich war es ihm darum gegangen, in ein Kinderheim gebracht zu werden. Er adoptierte den Look und das Verhalten von Teenagern und stellte sich stumm. “It’s very hard to read a kid that doesn’t speak”, weiß Bourdin. Das Kinderheim wollte sich damit jedoch nicht begnügen, der 23-Jährige musste eine Identität beanspruchen und wählte die des vermissten Nicholas Barclay.
“He looked nothing like me”, sagt der dunkelhaarige Bourdin über den blonden und blauäugigen Nicholas. Dennoch zog er sein Unternehmen durch, färbte sich die Haare, ließ sich Tätowierungen nachstechen und sprach so wenig wie möglich, um seinen Akzent zu kaschieren. “I could convince anyone of anything”, schmunzelt Bourdin. Er überzeugte letztlich nicht nur die spanischen Behörden, sondern auch Gibson und „ihre“ Mutter Beverly Dollarhyde. “He had changed so much”, urteilt die zwar, schiebt es aber auf das von Nicholas durchstandene Trauma. Ihre Familie hatten nun ihren Jungen wieder, Bourdin hingegen hatte nun endlich eine Familie. “I never dreamt of so much”, gesteht er aufrichtig. “I was born again.”
Was folgt, sind Schulbesuche, Fernsehauftritte, Befragungen durch das FBI, ein privater Ermittler und stets die unterschwellige Frage, ob niemanden aufgefallen ist, dass dieser Junge nicht Nicholas sein konnte? Aber wie auch, wo ihn ja „seine“ Familie aufgenommen hatte? “No one would be wrong about something like that”, sagt FBI-Agentin Nancy Fisher, die den Fall von Nicholas vermeintlicher Versklavung verfolgte. The Imposter zieht einen speziell zu Beginn in seinen Bann, wenn Layton den charismatischen Bourdin seine Vorgehensweise des Identitätendiebstahls rekapitulieren und nachspielen lässt. Und es sind jene Reenactments des Films, die ihm mit seine spannungsintensive Stärke und Klasse verleihen.
Die Schauspieler für die Interviewten sehen diesen ungemein ähnlich, Layton legt Bourdins Worte Lippensynchron auf die Reenactments und liefert eine beeindruckende Mise en scene. Zwar flacht The Imposter im zweiten Akt etwas ab, nimmt jedoch zum Schluss erneut Fahrt auf, als die Fassade zu bröckeln beginnt und sich Risse aufzutun scheinen, die lange vorher existierten. Bart Layton gelang eine eindringliche und packende Dokumentation, die es mit jedem Spielfilm aufnehmen kann und die in dem so abstoßenden wie sympathischen Frédéric Bourdin eine der ambivalentesten Figuren des Jahres bietet. In einer Geschichte so bizarr, dass man kaum glauben kann, dass sie sich wirklich ereignet hat.
8.5/10
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen