9. Februar 2012

Die Unsichtbare

Ich esse und esse und kann nicht genug davon bekommen.

Eine unscheinbare, schüchterne junge Frau wird wider Erwarten mit einer Bühnen-Hauptrolle gesegnet und beginnt sich daraufhin, angefeuert von ihrem dominanten Regisseur, mehr und mehr in ihrer vorgesehenen Figur zu verlieren. Was bei Natalie Portman im Frühjahr für ihre Leistung in Darren Aronofskys Black Swan zu einem Oscar als Beste Hauptdarstellerin gereicht hat, gerät auch bei Stine Fischer Christensen nicht minder eindrucksvoll. Mutet Christian Schwochows Die Unsichtbare zwar zu Beginn wie die deutsche Antwort auf Aronofskys Ballett-Thriller an, so zeigt sich jedoch bald, dass sein Film ein weitaus besseres Gespür für seine Hauptfigur besitzt.

Gab Portman eine Ballerina, die unter der Erwartungshaltung und dem Erbe ihrer Mutter zu zerbrechen drohte, wird die emotionale Basis von Stine Fischer Christensens Rolle weitaus realistischer ausgearbeitet. Ihre Fine ist von Haus aus die Unsichtbare, fokussierte sich die Aufmerksamkeit ihrer Mutter (Dagmar Menzel) doch stets auf Fines jüngere und geistig behinderte Schwester Jule. Von fehlender Wertschätzung und daraus resultierender Unsicherheit gebeutelt, wird Finde zwar in einem Schauspielstudiengang aufgenommen, aber dort nicht wirklich gefördert. Umso überraschender erhält sie dann von einem renommierten Theaterregisseur den Zuschlag.

Es ist jene ungewohnte Aufmerksamkeit, die Fine dazu führt, sich mehr und mehr auf die Wünsche und Vorschläge des Regisseurs Friedmann (Ulrich Noethen) einzulassen. Um diesen nicht zu enttäuschen, beginnt die jungfräuliche Fine ihre Rolle auch im Privatleben zu spielen und ein extrovertierteres Verhalten an ihrem Nachbarn, dem Tunnelbauer Joachim, auszuprobieren. Bemerkenswert ist, dass Fine durch ihre Hauptrolle nicht sichtbarer wird, da sie sich selbst weiterhin hinter ihrer Rolle versteckt. Zwar kehrt Friedmann in psychologischen Gesprächen Momente der wahren Fine an die Oberfläche heraus, missbraucht diese jedoch nur für sein Stück.

Der größte qualitative Unterschied zwischen Die Unsichtbare und Black Swan lässt sich in der Tochter-Mutter-Beziehung ausmachen. Spielten bei Aronofsky Natalie Portman und Barbara Hershey beide eher nebeneinander, so agieren Stine Fischer Christensen und Dagmar Manzel bei Schwochow vielmehr miteinander. Beide fühlen sich an wie Mutter und Tochter, man spürt die Frustration von Fine und die Beanspruchung sowie den Stress von ihrer Mutter ob Stress in der Arbeit und die Erziehung der Jüngsten. Dass auch diese insgeheim eine Unsichtbare zu sein scheint, zeigt sich zu Beginn, als die Politesse von einem falsch parkenden Porschefahrer verprügelt wird.

Blieb Hershey ebenso unnahbar wie über weite Strecken auch die sich manisch verlierende Portman, konfrontiert Schwochow das Publikum mit atmenden, realen Figuren. Als Fine beginnt, sich mehr und mehr auf Joachim (Ronald Zehrfeld) einzulassen, merkt man ihr die Unsicherheit an, wie viel von ihrem Tun nun ihre Rolle war und inwieweit Joachim sich für sie interessiert oder nur für die Charakterzüge ihrer Figur. Sehr gefällig und auch authentisch spielt die gebürtige Dänin Christensen den Part der Deutsch-Dänin Fine und ist dabei Vorreiterin eines durchweg überzeugenden Ensembles, mit Gastauftritten von Gudrun Landgrebe und Corinna Harfouch.

In diesem finden sich auch Anna Maria Mühe und Ulrich Matthes wieder, die vor drei Jahren bereits in Christian Schwochows Debüt- und Abschlussfilm Novemberkind mitspielten. Auch in diesem suchte eine junge Frau nach ihrer Identität und einem Platz in ihrer Umgebung. Mit Die Unsichtbare vermag Schwochow – der erneut mit Mutter Heide das Drehbuch schrieb – zu untermauern, dass sein starkes Debüt keineswegs eine Eintagsfliege war. Denn mit einem Gespür für seine Figur(en) legt er eindrucksvoll mit seinem zweiten Werk nach. Damit gilt der in Bergen auf Rügen geborene Regisseur spätestens jetzt als einer der vielversprechendsten Deutschen seiner Zunft.

8/10

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