21. Juli 2023

Fumer fait tousser [Smoking Causes Coughing]

All’s well that ends well.

Obschon Superhelden außergewöhnliche Personen darstellen, gebären sich Superhelden-Filme auch dank des ermüdend-repetitiven MCU heutzutage mehr als gewöhnlich. Da braucht es schon ein wenig Kreativität, um diesem Genre-Golem wieder Leben einzuhauchen. Bei Quentin Dupieux ist man hier sicher an der richtigen Adresse, ist der Franzose doch alles andere als unoriginell. In Fumer fait tousser – in Englisch: Smoking Causes Coughing – inszeniert er seine ganz eigene Version der „Avengers“. Das Quintett der Tobacco Force schlägt sich buchstäblich jede Woche mit extraterrestrischen Widersachern, von anthropomorphen Reptilien bis hin zu Lézardin (Benoît Poelvoorde), der plant, bis zum Jahresende die Erde zu zerstören.

Eine ernstzunehmende Bedrohung, weshalb es umso beunruhigender ist, dass der soziale Zusammenhalt innerhalb der Tobacco Force nicht gerade zum besten bestellt ist. Nur mit Ach und Krach gelang es Teammitglied Mercure (Jean-Paul Zadi) im letzten Konflikt noch, seine Spezialkraft freizuschalten. Weshalb Tobacco-Force-Leader Chief Didier (Alain Chabat), eine sprechende Ratte, kurzerhand seine Truppe zu einer Arbeitsklausur-Woche verdonnert, um an ihrer Teamfähigkeit zu arbeiten. Dort beginnt sich das Team abends, pseudo-gruselige Lagerfeuer-Geschichten zu erzählen, während Mitglied Nicotine (Anaïs Demoustier) mit ihren aufwellenden romantischen Gefühlen für Chief Didier klarzukommen versucht.

Fumer fait tousser ist eine charmante Persiflage auf das Super-Sentai- und Tokusatsu-Genre mit spürbar französischem Anstrich. Eingewoben in das große Ganze werden hierbei die Lagerfeuer-Erzählungen als amüsante Vignette-Elemente, zum einen zwei Pärchen, die ein Wochenende in einem Ferienhaus verbringen wollen, ehe die Entdeckung eines meditativen altmodischen Huts die Ereignisse auf den Kopf stellt. In einer anderen Erzählung steht wiederum ein Arbeitsunfall in einem Sägewerk im Fokus und seine Folgen innerhalb eines Familiengeflechts. Was die vermeintlichen Gruselgeschichten mit der Haupthandlung eint, ist die fortschreitende Abkopplung innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Menschen.

Der Film thematisiert dies an vielen Stellen, beispielsweise wenn Team-Leader Benzène (Gilles Lellouche) dem Kollegen Méthanol (Vincent Lacoste) am Rande eines Kampfes von seinem Malheur berichtet, in Anwesenheit eines Veganers über Salami philosophiert zu haben. Auch die Kommunikation des Teams mit seinem Roboter Norbert (Ferdinand Canaud) wirkt zunehmend „lost in translation“, während Nicotine falsche Signale von Chief Didier zu empfangen scheint und nur augenscheinlich von ihrer Kameradin Ammoniaque (Oulaya Amamra) getröstet wird. Auch die Paare in der Ferienhaus-Vignette oder Sägewerk-Leiterin Tony (Blanche Gardin) sowie ihre Schwester und Neffe Michaël (Anthony Sonigo) haben Gesprächsbedarf.

Da passt es ins Bild, dass das Team in seinem Untergrund-Bunker im dortigen Kühlschrank einen ganzen Supermarkt inklusive Bedienung vorfindet, an der später Méthanol vorbeireden wird. “What am I doing with these people?”, fragt sich Agathe (Doria Tiller) nach dem Aufsetzen des Denkhutes in Hinblick auf ihre Beziehung und die gemeinsamen Freunde. Und im Grunde könnte sich das auch jedes Mitglied der Tobacco Force beim Anblick von einander fragen. Fumer fait tousser bewegt sich dabei stets in gewisser Weise auf einer Metaebene, wenn Agathes Mann ihr sagt “You can’t wear that dumb thing all day”, während sich gleichzeitig die Tobacco Force nie ihrer Super-Sentai-Anzüge entledigt – nicht einmal zum Schlafen.

“I still think it’s crap”, kommentiert an einer Stelle ein junges Mädchen (Thémis Terrier-Thiebaux) einen Videoclip von Benzène in Aktion – und könnte damit in gewisser Weise auch Dupieux’ Film selbst meinen. Die Tobacco Force ist dabei ein buntes Gemisch aus scheinbar ausgebrannten und wiederum jungen und dynamischen Mitgliedern, die zwar wöchentlich die Welt retten, dann aber dennoch verschreckt sind, wenn sie nachts ein Geräusch im Gebüsch hören. “Let me tell you something life-changing”, klärt Benzène zu Beginn einen jungen Fan auf. Und lebensverändernd sind auch die Erlebnisse, denen sich alle Figuren gegenübersehen, insofern sie es nicht schaffen, wieder eine gemeinsame Linie der Kommunikation zu finden.

Entsprechend dem Tokusatsu-Genre sind die Effekte entsprechend gestaltet. Das Grundgerüst wirkt wie ein Mash-up aus Power Rangers, denen Marvin the Paranoid Android aus A Hitchhiker’s Guide to the Galaxy an die Seite gestellt wird. Chief Didier ist ein Highlight für sich, als unentwegt grünen Schleim sabbernde und offenbar notgeile Puppe, während das gesamte Ensemble durch die Bank in seinen Rollen zu überzeugen vermag, obgleich manche von ihnen wie Anaïs Demoustier oder Jean-Paul Zadi etwas bessere Szenen erhalten als ein Vincent Lacoste. Auch die Vignetten-Darsteller gefallen, allen voran Adèle Exarchopoulos untermauert ihr komödiantisches Talent, aber auch Raphaël Quenard holt das Maximum aus seinem Part. 

Aller Argumentation zum Trotz ist Fumer fait tousser natürlich kein allzu tief schürfender oder nachdenklich stimmender Film, der dem Publikum eine bestimmte Botschaft subtil mitgeben möchte. Primär ist es eine überzeichnete Blödelei, deren Vergnügungsfaktor davon abhängt, wie sehr man sich mit dem Humor von Quentin Dupieux arrangiert. Hilfreich ist da, dass sich die Tobacco Force durchweg selbst ernst nimmt, auch wenn es die übrigen Figuren nur bedingt tun. Dass der Film nur knapp 80 Minuten lang ist, trägt seinen Teil zur Kurzweil bei, verleiht dem Ganzen den Charme einer längeren Sitcom-Folge. Unabhängig davon, wie viel Spaß man mit Fumer fait tousser hat, dürfte eins klar sein: Außergewöhnlich ist der Film allemal.

8.5/10

20. März 2023

Beurokeo [Broker]

Thank you for being born.

Seine Familie, so besagt es ein Sprichwort, kann man sich nicht aussuchen. Hiervon können die Figuren in Kore-eda Hirokazus Filmen wie Aruitemo aruitemo [Still Walking], Umi yori mo mada fukaku [After the Storm] oder La vérité ein Lied singen, hadern Eltern doch mit den Personen, zu denen ihre Kinder geworden sind und umgekehrt die Kinder mit jenen Charakteren, die ihre Eltern schon immer waren. Zuletzt hatte Kore-eda aber mit Manbiki kazoku [Shoplifters] eine neue Perspektive auf dieses Familienbild geworfen, war jene Familie doch weniger auf Blut basiert, als vielmehr ein Zusammenschluss von Gleichgesinnten. Eine Behelfs-Familie ist es auch, der wir in Beurokeo [Broker] begegnen, den Kore-eda in Südkorea inszeniert hat.

In diesem verkaufen die Kleinkriminellen Sang-hyun (Song Kang-ho) und Dong-soo (Gang Dong-won) Neugeborene, die sie aus einer Babyklappe stehlen, an Pärchen, die selbst keine Kinder haben können. Darunter auch Woo-song, den dessen Mutter, die Prostituierte Moon So-young (Ji-eun Lee), in einer regnerischen Nacht vor einer Babyklappe aufgibt – nur um tags darauf doch nach ihrem Sohn zu suchen. Kurzerhand holen Sang-hyun und Dong-soo also die junge Mutter mit ins Boot und machen sie zur Partnerin in ihrem Geschäft. Gleichzeitig sind die beiden Polizistinnen Su-jin (Bae Doona) und Lee (Lee Joo-young) dem Trio auf der Spur – und dabei nicht die einzigen Beamten, die sich wegen So-young in Ermittlungen wiederfinden.

“I’ll come back for you” hatte So-young dabei in einer Notiz Woo-song versprochen. Kein Einzelfall, erzählt ihr später Dong-soo. Aber nur eine von 40 Müttern würde tatsächlich wieder zurückkehren. Dong-soo weiß das nur zu gut, stammt selbst aus einem Waisenheim, in dem die Figuren später einen Zwischenstopp machen. Auch seine Mutter hatte ihm eine solche Notiz hinterlassen, sporadisch schaut er selbst nach Jahrzehnten noch in seinem Heim nach, ob sie inzwischen tatsächlich für ihn zurückgekehrt ist. Das Heim avancierte zum Zuhause, die anderen Kinder quasi zu einer ersten Ersatzfamilie. Dong-soo spricht dabei nicht von „zurückgelassenen“ oder „aufgegebenen“ Kindern, sondern sehr viel härter von „weggeworfenen“.

Auch Sang-hyun kennt nach eigenen Angaben “nothing but rejection” – er ist selbst Vater einer Tochter, die ihn aber scheinbar nicht in ihrem Leben haben will. Der junge Hae-jin (Seung-soo Im) aus Dong-soos Heim hätte gerne eine Familie, schließt sich kurzerhand dem Trio und Wong-soo an. Als Amoretten beschreibt Sang-hyun sich und Dong-soo gegenüber So-young, ihr Tun als Fürsorge, Dong-soo hingegen nennt es Schutz. Während die junge Mutter derartige Beschreibungen sarkastisch kommentiert, sind sie vom Kern nicht so weit weg, erwecken Sang-hyun und Dong-soo doch die Liebe zwischen kinderlosen Eltern und elternlosen Kindern, anstatt dass sie in Waisenhäusern zu jungen verbitterten Erwachsenen heranreifen.

Über So-youngs Hintergründe lernen wir wenig, immerhin, dass sie neben anderen Mädchen und jungen Frauen bei einer Dame unterkommt, die von allen „Mama“ genannt wird. Auch hier begegnet uns also wieder diese Form der Behelfs-Familie wieder, die So-young im Laufe des Films gegen eine andere solche eintauscht. “Let’s be happy with us”, begrüßt Sang-hyun eingangs Woo-song, dem er sich so erzieherisch widmet, wie er es bei seiner leiblichen Tochter nicht darf. Letztlich weitet sich diese Einladung über das Neugeborene hinaus aus, schließt auch dessen Mutter und Hae-jin ein. Es ist eine Sammlung von Abgelehnten, die erst durch- und miteinander die Wertschätzung erfahren, die ihnen zuvor lange verwehrt geblieben war.

Fehlende Wertschätzung ist zugleich etwas, das Ermittlerin Su-jin ihrem fürsorglichen Ehemann entgegenbringt, der sie und Lee bekocht oder mit frischen Klamotten versieht. Fehlende Wertschätzung erfuhr auch jene Ehefrau von So-youngs Freier, der zum Vater von Woo-song avancierte. Es handelt sich um C-Handlungsstränge, die Kore-eda noch in die Handlung verstrickt, denen sich das Drehbuch aber nicht wirklich widmet – ähnlich jenen Schulden, die Sang-hyun gegenüber einer Bande begleichen muss. Weniger wäre in Beurokeo mehr gewesen, zumal die Dramatisierung in die eigentliche Handlung im Grunde genommen gar nicht reinspielt, selbst wenn im Finale doch noch Zusammenhänge untereinander hergestellt werden.

Ähnlich unzureichend homogen gerät mit Abstrichen auch die Verortung nach Südkorea. Wie zuletzt La vérité sehr französisch ausfiel, gebiert sich Beurokeo durchweg koreanisch – was einerseits für Kore-eda Hirokazus Anpassungsfähigkeit an die fremden Kulturen spricht, andererseits fühlen sich seine beiden ersten ausländischen Filme aber zweifelsohne weniger „kore-edaesk“ an gegenüber seinem vorangegangenen japanischen Œuvre. Gewisse Elemente scheinen somit “lost in translation” und nicht übertragbar – da fügt sich gut ein, dass Bae Doona berichtet hat, dass sie das ins Koreanische übersetzte Drehbuch doch vorzog, im japanischen Original zu lesen, um alle Nuancen ihrer Figur und Dialoge korrekt erfassen zu können.

Beurokeo untersucht oberflächlicher als Manbiki kazoku oder Soshite chichi ni naru [Like Father, Like Son], wie ein Familienkonstrukt aussieht und sich losgelöst von Blutsbande zusammensetzen kann. Die Figuren sind weniger eine Einheit, als dass sie aneinander Halt finden, aber im Kern dann doch sehr auf sich fokussiert sind, während sie sich der Frage stellen müssen, was richtig und was falsch ist. Innerhalb seiner Filmografie markiert Beurokeo damit alles andere als Kore-edas Oberklasse, doch selbst ein eher gewöhnlicher Kore-eda ist im Vergleich mit dem, was sonst im Kino landet (oder mit Filmpreisen bedacht wird) noch höherrangig anzusiedeln. Sodass man dem Regisseur einen Zettel beilegen würde: I’ll come back for you.

7/10

8. Januar 2023

Filmjahresrückblick 2022: Die Top Ten

To the power of independent cinema. 
(RJ, X

Ewan McGregor würde sicher sagen: “Hello there.” Wo sich Jahre früher mitunter zogen, vergehen sie mit fortschreitendem Alter immer schneller. Ehe man sich versieht, sind also zwölf Monate ins Land gezogen, ein Kalender- und Filmjahr damit zu seinem erneuten Ende gekommen. Hier im Blog gab es derweil keine Veränderungen, es blieb ein weiteres Jahr ohne Reviews, aus den bereits genannten Gründen, dass aufgrund etwaiger Verpflichtungen schlicht die Zeit fehlt. Zumindest für den traditionellen Jahresrückblick soll aber dann doch Raum sein, dieses Mal auch wieder etwas ausführlicher als 2021, nachdem die Corona-Pandemie im Frühjahr für beendet erklärt wurde (obschon sie bis heute munter weiter grassiert).

Die vermeintliche Rückkehr zur Normalität zeigt sich auch in meinem Filmkonsum, der im Vorjahr auf 106 Filme gefallen war, während ich aus dem aktuellen Filmjahr diesmal nun immerhin 155 Filme gesehen habe. Aufgrund der anhaltenden Pandemie jedoch wie gehabt zuvorderst in den eigenen vier Wänden und primär via iTunes, Mubi und Co., obschon ich doch auch in 2022 erneut drei Mal den Weg ins Kino fand (bzw. drei Werke aus dem Filmjahr im Kino sah, den Dritten nominell vergangene Woche und somit 2023), um mit The Batman und Avatar: The Way of Water lobgepreistem Bombast-Kino bzw. CGI-Technik-Spektakel beizuwohnen, aber ebenso mit Jerzy Skolimowskis EO einem Arthouse-Liebling der Filmkritiker.

Wie Marilyn Monroe in Blonde zog es das Publikum 2022 zurück ins Kino.
Schaffte es im Vorjahr bereits Spider-Man: No Way Home finanztechnisch an die Zeiten vor der Pandemie anzuknüpfen, so normalisierte sich die Lage an den Kinokassen weitestgehend in 2023. Als Retter des Kinos wurde im Sommer dabei Joseph Kosinskis Legacysequel-Remake Top Gun: Maverick gefeiert, das mit Mach-10 jenseits eines Einspiels von 1,4 Milliarden Dollar flog. Was aber dennoch nur zu Platz 2 der ertragreichsten Filme des Jahres reicht, da James “King of the World” Cameron zum Jahresende nach 13 Jahren Produktionszeit Avatar: The Way of Water veröffentlichte, innerhalb von rund einem Monat an Tom Cruises Karriere-Hit vorbeizog. Auf Platz 3 schaffte es Colin Trevorrows Trilogie-Abschluss Jurassic World: Dominion.

Alle drei von ihnen konnten die Milliarden-Dollar-Grenze reißen, 45 Millionen fehlten am Ende Dr. Strange and the Multiverse of Madness hierzu, der sich knapp vor Minions: The Rise of Gru behaupten konnte. An den Erfolg seines Vorgängers konnte Black Panther: Wakanda Forever nach Chadwick Bosemans Ableben nicht anknüpfen – und spielte rund eine halbe Milliarde weniger ein als dieser. Der siebterfolgreichste Film des Jahres war der viel gelobte The Batman (weit entfernt vom Erfolg eines Aquaman), gefolgt von Thor: Love and Thunder sowie den chinesischen Filmen Chang Jin Hu Zhi Shui Men Qiao [Water Gate Bridge], der Fortsetzung des Vorjahres-Hits Battle at Lake Changjin, und der Sci-Fi-Komödie  Du Xing Yue Qiu [Moon Man].

Sequels dominierten auch 2022 die weltweiten Kinokassen.
Die Tendenz, dass Top Gun: Maverick kurz vor knapp als erfolgreichster Film des Jahres abgefangen wurde, zieht sich dann auch durch einige Länder-Jahrescharts (Quelle: Box Office Mojo). So war er in Frankreich, den Niederlanden, Portugal, Ungarn, Tschechien, der Schweiz und Finnland lange auf dem ersten Platz, musste jedoch letztlich Avatar: The Way of Water weichen. Auch in Deutschland, Spanien, Bulgarien und Vietnam verdrängte das Avatar-Sequel den vorherigen Spitzenreiter, in diesem Fall Minions: The Rise of Gru. Doch auch in Belgien, Dänemark, Italien, Thailand und Österreich markierte The Way of Water den Jahressieger. Auffällig ist dabei, dass es Top Gun: Maverick in Österreich nur auf Platz 10 schaffte.

Behaupten konnte sich Top Gun: Maverick – Stand heute (8. Januar) – dafür in Großbritannien, Australien, Neuseeland, Südafrika, Schweden, Norwegen und Kroatien. Wo er in Deutschland noch das Nachsehen hatte, blieb Minions: The Rise of Gru in Griechenland, Polen, Argentinien, Israel, Chile, Peru, der Slowakei und Island ungeschlagen. Jurassic World: Dominion setzte sich in Mexiko, Ecuador, Venezuela, Bolivien, Uruguay, Ägypten und Nigeria durch. Länder, die eher Einheimisches bevorzugen, taten dies auch dieses Jahr: In diesem Fall sind das Südkorea (Beomjoidosi 2), Japan (One Piece Film Red), Indien (RRR), China (Water Gate Bridge), die Türkei (Bergen) und Rumänien (Teambuilding, bislang noch vor Avatar).

Jahressieger: Fast fünf Millionen Deutsche wollten Avatar: The Way of Water sehen.
Ausreißer aus diesem Schema waren nur zwei Länder: Brasilien bevorzugte Dr. Strange and the Multiverse of Madness, während Russland scheinbar am meisten Gefallen an Uncharted fand (unklar ist, wie viele Filme dort überhaupt veröffentlicht wurden im Verbund mit dem Ukrainekrieg). Unklar bleibt auch die Frage nach den beliebtesten Filmen des Jahres gemäß der Internet Movie Datebase (IMDb), da dort inzwischen verstärkt indische Fans zugegen sind, die einheimische Filme stark bewerten. In Hinblick auf die Zahl der abgegebenen Stimmen (Voraussetzung: sechsstellig) dürfte The Kashmir Files (8.7/10) hier die Nase vorn haben (Stand: 8. Januar), vor Top Gun: Maverick (8.3/10) und Everything Everywhere All at Once (8.1/10).

Zumindest bei der Popularität hat Tom Cruise also James Cameron ein Schnippchen geschlagen, gehört mit dem größten Filmerfolg seiner Karriere zu den Gewinnern des Jahres. Wie auch James Cameron selbst, der es den Zweiflern wenn schon nicht inhaltlich, dann zumindest an den Kassen zeigte, die nicht daran glauben wollten, dass sein Avatar-Sequel auf Nachfrage stoßen wird. Ein gutes Jahr hatten zudem Colin Farrell (The Banshees of Inisherin, After Yang, The Batman, Thirteen Lives) und Tilda Swinton (The Souvenir: Part II, The Eternal Daughter, Three Thousand Years of Longing, Memoria) mit gleich vier Filmen sowie Jenna Ortega (The Fallout, X, Scream sowie Wednesday). Auch Brendan Fraser ist wieder ein gefragter Mann.

Beste Darstellerleistungen: Fedja van Huêt, Frankie Corio, Seidi Haarla.
Frasers Rolle in The Whale brachte ihm eine Golden-Globe-Nominierung für die Preisverleihung kommende Woche ein. Wenn es um überzeugende Schauspielleistungen in 2022 geht, ist aufgrund seiner Versatilität auch Colin Farrell zu nennen, im Gedächtnis blieb mir jedoch vor allem Fedja van Huêt in Gæsterne [Speak No Evil], nicht zuletzt auch, weil er mich an einen jungen Christopher McDonald erinnert. Bei den Darstellerinnen erfreute ich mich am natürlichen und authentischen Spiel von Seidi Haarla in Hytti nro 6 [Compartment No. 6]. Bei den Jungschauspielern bewies Jonas Carpignano mit Swamy Rotolo in A Chiara mal wieder ein Händchen, doch Frankie Corio beeindruckte im allenthalben geschätzten Aftersun ein wenig mehr.

Es war wieder ein durchwachsenes Filmjahr, gefühlt noch schwächer als das vorherige, auch wenn der allgemeine Tenor einen der besten Jahrgänge seit langem ausgemacht haben will. Kreativität und Originalität nehmen weiter ab – bestes Beispiel: die Vielzahl an Filmen (Bardo, Belfast, Armageddon Time, demnächst The Fabelmans), in denen alte Regisseure sich an ihrem Leben bzw. ihrer Kindheit ergötzen. Ein Loch, das leider auch von den Streaming-Portalen um AppleTV+, Disney+ und Netflix nicht gestopft wird, die sich eher darin überbieten, wer die schlimmeren Filme produziert. Keine Meisterwerke, aber immerhin die zehn Filme, die mich noch am meisten überzeugen konnten, stelle ich nun jedenfalls in meiner Top Ten des Jahres 2022 vor (das vollständige Ranking findet sich wie gehabt auf Letterboxd): 


10.
X (Ti West, USA/CDN 2022): Zwar alles andere als Ti Wests bester Film (in seiner Reduktion aber stringenter als das dazugehörige Prequel Pearl), gefällt der Ansatz, Elemente von The Texas Chain Saw Massacre mit einer Hommage an Vintage-Sexfilme zu kreuzen. In gewisser Weise zugleich auch Metakommentar, lässt X die künstlerischen Ansprüche, Sehnsucht nach Ruhm sowie Gier der Kommerzialisierung seiner Figuren aufeinanderprallen, während diese junge Gruppe der womöglich hilfsbereitesten und freundlichsten Porno-Crew in letzter Konsequenz mit der Unbarmherzigkeit des Alters und dem Echo ihrer Begierdenerweckung konfrontiert wird.

9.
After Blue (Paradise Sale) (Bertrand Mandico, F 2021): Im Grunde gebiert sich After Blue (Paradise Sale) als eine Nouvelle-Vague-Version von Mad Max Beyond Thunderdome, erinnert an Hollywoods Sci-Fi-B-Movies der 1980er Jahre in seinen liebevoll billigen Kostümen und Art Direction, gewürzt mit einer Prise Lewis Carroll. Bertrand Mandico bleibt dabei weitestgehend der Ästhetik und Motive aus seinem Meisterwerk Les garçons sauvages treu, lässt die Männlichkeit kurzerhand sterben, hebt das weibliche Geschlecht auf ein Podest und lässt seine Hauptfigur Unheil über ihre Welt bringen, wenn sie quasi buchstäblich ihre Gelüste in Person von Kate Bush zutage fördert.

8.
Crimes of the Future (David Cronenberg, CDN/GR/UK 2022): David Cronenberg hält uns als Gesellschaft in Crimes of the Future den Spiegel vor – alles ist eine Performance, jeder strebt danach, sich zu inszenieren. Das Leben ist unverdaulich geworden, die Gegenwart ein Verbrechen, Lust und Begierde nur noch in öffentlich zur Schau gestellter Selbstverstümmelung zu finden. Amouröse Avancen werden abgewiesen, weil ein Ding der Vergangenheit. Der Kanadier greift Ideen aus seinem Œuvre (prominent: Videodrome und eXistenZ) auf, wenn Schmerz zu Kunst und Kunst zu Schmerz wird, der Körper die Realität markiert. Lang lebe das neue Fleisch.

7.
Escape from Kabul (Jamie Roberts, USA/UK/F 2022): Rund zwei Wochen dauerte im August 2021 die Evakuierung der US-Streitkräfte aus Kabul, gleichbedeutend mit der Aufgabe des seit Jahrzehnten währenden Krieges vor Ort – und letztlich der Freiheit und Liberalität der Afghanen. Jamie Roberts skizziert in Escape from Kabul kompakt das Drama und den Wahnsinn, der sich am Kabuler Flughafen abgespielt hat. Talking Heads mit geretteten und zurückgelassenen Afghanen, verantwortlichen US-Militärs und sogar Taliban-Mitgliedern – es fehlen lediglich Vertreter der zuständigen Biden-Administration – runden diese ergreifende Dokumentation ab.

6.
Heojil kyolshim (Park Chan-wook, ROK 2022): Einem Déjà-vu sieht sich der Mordermittler Jang Hae-jun (Park Hae-il) in Park Chan-wooks Heojil kyolshim [Decision to Leave] gegenüber, wenn er innerhalb eines Jahres gleich zwei Mal zu einem Tatort mit der Leiche von Song Seo-raes (Tang Wei) Ehemann gerufen wird. Was sich daraus entspinnt, ist die einfühlsamste Liebesgeschichte des Jahres zwischen einem Polizisten, der mehr mit seinem Beruf denn seiner Frau verheiratet ist, und einer Exil-Chinesin, die nur als Mordverdächtige ihr Liebesglück finden zu können scheint. Das Ende steht dieser romantischen Tragik in nichts nach, setzt ihr vielmehr die Krone auf.

5.
Les Amours d’Anaïs (Charline Bourgeois-Tacquet, F 2021): Selten sieht man einen Film, der gänzlich vom Charme und Charisma seiner Hauptfigur allein getragen wird. Les Amours d’Anaïs [Der Sommer mit Anaïs] präsentiert dem Publikum ein Anaïs-zentrisches Weltbild, in welchem alle anderen Figuren sich an Anaïs Demoustiers Hauptfigur auszurichten haben, einem egozentrischen Millennial, dem keiner wirklich böse sein kann. Charline Bourgeois-Tacquets Regiedebüt erinnert zu Beginn noch an Noah Baumbachs Frances Ha, widmet sich dann aber weniger der Orientierungslosigkeit seiner Protagonistin als der Flüchtigkeit der Dinge und der Relevanz von Egoismen.

4.
Madres paralelas (Pedro Almodóvar, ES/F 2021): Die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, ist eine der subtil-vordergründigen Botschaften von Pedro Almodóvars jüngstem Film Madres paralelas [Parallele Mütter]. In diesem sehnt sich Penélope Cruz’ Fotografin nicht nur nach Frieden für die von Falangisten ermordeten Vorfahren ihres Heimatdorfes, sondern sieht sich obendrein mit einer bei der Geburt vertauschten Tochter und den daraus für sie und die andere Mutter, Ana (Milena Smit), resultierenden Folgen jeweils für sich und ihre Beziehung zueinander konfrontiert. Ein Film darüber, wie uns Schmerz definiert und durch Akzeptanz vollends überwunden wird.

3.
Red Rocket (Sean Baker, USA 2021): Egozentrik, Pornographie und der Drang zum Kommerz sind auch allesamt Elemente in Sean Bakers vergnüglichem Red Rocket, in dem der abgehalfterte Pornostar Mikey (Simon Rex) in seine texanische Heimatstadt zurückkehrt, um einen zweiten Anlauf zu starten. Der Film vermag dabei weniger über die Branche zu sagen als Bakers Starlet, verschafft zugleich nicht dieselben Eindrücke in die Lebenswelt seiner Protagonisten wie zuvor in The Florida Project, fasziniert jedoch aufgrund der optimistischen Energie seiner narzisstischen Hauptfigur, die sich fast schon parasitär an andere heftet, um voranzukommen.

2.
Les Olympiades (Jacques Audiard, F 2021): In Les Olympiades [Wo in Paris die Sonne aufgeht] widmet sich Jacques Audiard, basierend auf Werken des Cartoonisten Adrian Tomine und unterstützt von einem superben Soundtrack durch Rone, drei verwobenen Handlungssträngen über vier junge Menschen auf der Suche nach Liebe, Sex und Zugehörigkeit im 13. Arrondissement von Paris. Das stärkste Segment – für sich genommen die beste Geschichte des Filmjahres – lässt eine von Noémie Merlant gespielte Immobilienmaklerin sich verstärkt in der Online-Beziehung zu ihrer Camgirl-Doppelgängerin (Jehnny Beth) verlieren. Manchmal ist Liebe nur eine Verwechslung entfernt.

1.
Cow (Andrea Arnold, UK 2021): Versklavt, vergewaltigt, des Nachwuchses beraubt, prostituiert und letztlich eigentlich weniger getötet als vielmehr erlöst – Andrea Arnold liefert mit ihrer Dokumentation Cow über das Leben und den Tod einer Milchkuh ein schonungsloses und doch stellenweise durchaus poetisches Porträt über die Herzlosigkeit der Massentierhaltung einerseits. Gleichzeitig lässt sich Cow aber nicht nur als Film über das Leben einer Kuh, sondern unsere Existenz im Allgemeinen lesen: ein trostloses Dasein, angetrieben von der Ausbeutung durch Arbeit, definiert durch die Beziehung zu unseren Kindern. Und am Ende sterben wir doch alleine.