6. Dezember 2024

Tótem

Elaborar. 

Es ist naheliegend, dass man nur um etwas trauert, was für einen von Wert ist. “If we love, we grieve”, beschrieb es der US-Dichter Thomas Lynch. Sei es eine verlorene Liebe oder ein verlorenes Leben. Lila Avilés widmet sich in ihrem zweiten Film Tótem der Trauerbewältigung einer Großfamilie – obgleich die Person, die sie beweinen, noch gar nicht gestorben ist. Tona (Mateo García Elizondo) ist 27 Jahre alt und scheinbar unheilbar krank. An seinem Geburtstag, vermutlich den letzten, den er erleben wird, wollen ihm seine ältesten Schwestern eine Feier widmen. Eine Geburtstagsfeier, die zugleich eine Totenwache ist. Tona steht dabei weniger im Fokus als seine Familie, allen voran seine sieben Jahre alte Tochter Sol (Naíma Sentíes).

Der Film beginnt relativ losgelöst, wenn wir Sol und ihre Mutter Lucía (Iazua Larios) auf dem Weg zu den Feiervorbereitungen begegnen. Erst einmal im Elternhaus von Tona angekommen, legt sich ein Schleier von Schwermut über die Bilder. “If things were bad before, they’re far worse now. It makes me so fucking sad, because I can’t control it”, beschreibt eine Frau, die bei Sols Großvater (Alberto Amador) in Therapie ist, diesem in einer Sitzung die Probleme in ihrem Liebesleben. Könnte aber im Grunde auch der Siebenjährigen aus der Seele sprechen. Die Begegnung mit ihrem Vater wird hinausgezögert, begründet damit, dass dieser sich ausruhen müsse. Wie verschiedene Einblicke zeigen, ist das Leben für Tona zur Last verkommen.

Für Sol dürfte es die erste Konfrontation mit dem Konzept Tod sein, auch wenn sie über Fragen herausfindet, dass vor ihrem Vater schon dessen Mutter in demselben Zimmer dem Ende entgegenblickte. Dass Tona mit 27 Jahren extrem jung ist, mag die Verarbeitung seines designierten Ablebens noch komplizierter machen, speziell für seine Tochter. Dass Tona seinen letzten Tagen entgegenblickt, ist weniger der Krankheit geschuldet, als der Tatsache, dass die Familie finanziell alle Möglichkeiten für seine Behandlung ausgeschöpft hat. Selbst beim Gehalt für seine aufopferungsvolle Pflegerin Cruz (Teresita Sánchez) ist man hinterher, gleichwohl Tonas älteste Schwester Alejandra (Marisol Gasé) Geld für eine „Exorzistin“ übrig hat.

“Look at these women crying. That’s a lot of sadness, a lot of pain”, stellt Letztere beim Anblick von Bildern an den Wänden fest, die jene, die Tona selbst malte, wieder verdrängt haben. Auch diese Feststellung lässt sich auf die Frauen in Tonas Leben transferieren, von Sol und Alejandra über Cruz, Lucía oder seine zweitälteste Schwester Nuri (Montserrat Marañón). In der Tat ist Tótem ein unwahrscheinlich warmherziger und liebevoller Blick ins Leben dieser mexikanischen Großfamilie, in der Eltern an ihren Kindern verzweifeln und diese von ihren Erzeugern genervt sind. Aber ebenso ein Film von teils unerträglicher Traurigkeit, gerade in all jenen Momenten, wenn Naíma Sentíes mit stummem Blick versucht, die Dinge zu verarbeiten.

Besonders das Mädchen spürt eine Ohnmacht, vor der aber auch Nuri nicht gefeit ist. Avilés gelingt es, die Melancholie des Ganzen immer wieder aufzubrechen, meist dadurch, vom Tod aufs Leben zu schwenken, in Form von der nächsten Generation mit Sols Cousins und Cousinen, die selbst im Gegensatz zu der Siebenjährigen eher peripher von dem erstickenden Wehmut im Haus beeinträchtigt scheinen. Sentíes ist hierbei das Herzstück des Films, geschickt das Spiel zwischen Tränen und Lachen beherrschend. Doch das ganze Ensemble bringt die Figuren glaubwürdig zum Leben, vielleicht mit Abstrichen von den späteren Partygästen und Tonas anderen beiden Geschwistern, die weniger integriert wirken als Alejandra und Nuri.

Tótem ist ein Film, der sehr nah dran an seinen Charakteren ist, einerseits aufgrund des Bildformats (1.33 : 1), andererseits, da er Sol, Tona oder Nuri in Momenten auf die Pelle rückt, die für diese sehr persönlich sind. Seine Welt wirkt somit sehr klein, ist aber auch sehr groß, da es stets noch einen weiteren Raum im Haus zu erkunden gibt oder einen Garten, der neue Welten öffnet. Lila Avilés erzählt auf berührende Weise davon, Loszulassen, während man noch mitten in der Umarmung steckt. Manchmal gebe es Dinge, die man sehen möchte, aber dies nicht möglich ist, sagt Tona später Sol, als diese endlich zu ihm vordringen darf. Aber sie würden, so Tona, einen dennoch nicht loslassen. Genauso wenig wie Tótem den Zuschauer.

7/10

7. September 2024

Gasoline Rainbow

That's a baby fucking horse. 

Freiheit kann etwas Erdrückendes sein. Wenn einem alles offen steht, aber die Orientierung fehlt. Das Ende der Schulzeit gilt oft als befreiend. Keine Zwänge mehr, endlich ist man sein eigener Herr. Doch meist legt man die eine Zwangsjacke ab, um dafür eine andere überzustreifen. In Gasoline Rainbow unternehmen die fünf Freunde Makai, Nichole, Nathaly, Micah und Tony nach dem Schulabschluss einen Road Trip: Vom Mittleren Westen der USA wollen sie in einem Van die 513 Meilen zum Pazifik überbrücken, um dort das Meer zu sehen. “One last fun adventure”, erläutert Nathaly die Beweggründe des Quintetts. “’cause when we get back, we all have to get fucking jobs.” Ihre Freiheit hat somit ein kurzes Haltbarkeitsdatum. 

Bill Ross IV und Turner Ross liefern wie in ihren Vorgängerfilmen Bloody Nose, Empty Pockets und Tchoupitoulas in Gasoline Rainbow erneut ein „Amalgam aus Erlebnissen“, wie Turner Ross jene Vermischung aus quasi-inszenierten dokumentarischen Momenten einmal nannte, denen sich er und sein Bruder widmen. Laiendarsteller werden mit einem gewollten Szenario oder einer Umgebung konfrontiert, können in dieser entweder sie selbst sein oder aber eine gekünstelte Version von sich. Das Ergebnis ist fabriziert und authentisch zugleich – keine Dokumentation tatsächlicher Momente, aber eine Darbietung von Momenten, die sich real anfühlen. Der Film gebiert sich als Amalgam aus Erlebnissen, indem er ähnliche des Zuschauers evoziert.

Im Kern handelt es sich um einem Film über die Jugend – die Jugend von heute, also Gen Z, aber auch die Jugend, die jedem einst innegewohnt hat. Womit sich Makai, Micah, Nichole, Nathaly und Tony konfrontiert sehen, sind keine Herausforderungen für ihre spezifische Generation, sondern jene, denen sich alle auf ihrem Weg von Kindes- ins Erwachsenenalter gegenübersehen. Die Freiheit des Schulabschlusses mündet in den Ketten des Kapitalismus, der Notwendigkeit einer Arbeit. Man verlässt das eine Gehege und landet im nächsten. “You can't escape everything”, ist Micah bewusst. “You kinda just have to deal with it.” Aber noch nicht jetzt, weshalb sich das Quintett aufmacht, zu einem letzten Hurra auf die Jugend.

“I stole the right to live, as if there was no time”, singt Michael Hurley in  „I Stole the Right to Live“, das in einer Szene auf der Tonspur zu hören ist. In ihrem Van können die fünf Freunde sie selbst sein. Sie gebären sich als Außenseiter, nicht unähnlich zu den Protagonisten in Bloody Nose, Empty Pockets, die ebenfalls eine Nischengruppe der Gesellschaft repräsentierten. Auch wenn sie nicht zwingend aus dem Rahmen gefallen wirken. Der Road Trip erlaubt es ihnen, die Entscheidungen, die sie zu treffen haben, noch etwas hinauszuschieben. Auf ihrem Weg gen Portland treffen sie andere Figuren, die womöglich einst ähnlich wie die Fünf vor einer Kreuzung auf der Straße des Lebens standen, aber unterschiedliche Abzweigungen nahmen.

Da passt es ins Bild, das später in einer Szene ein Millennial mit Nichole gemeinsam Howard Shores „The Shire“ lauscht, repräsentieren die Hobbits aus The Lord of the Rings doch Sorglosigkeit und joie de vivre par excellence. Ebenso treffend wirkt es, dass die fünf jungen Erwachsenen die Teilnahme an einer „End of the World“-Party anstreben – diese aber nicht auffinden können. Das Ende ihrer Welt muss also buchstäblich verschoben werden. “We’ll see it and hear it when we see and hear it”, sinniert Gary, selbst eine Art Lost Boy aus Nimmerland, dem sie in Portland begegnen und der sie zu der besagten Feier lotsen soll. Als sie diese letztlich aufspüren, zeigt sich, dass sich diese doch ganz anders darstellt, als von ihnen gedacht.

Man kann sich mit den Figuren in Gasoline Rainbow identifizieren, da man ihre Ängste, Probleme und Hoffnungen nachvollzieht – gleichzeitig schenken die Laiendarsteller dem Publikum aber auch reale Einblicke in ihr eigenes Leben, zum Beispiel wenn Nathaly die Deportation ihres Vaters nach Mexiko reflektiert und wie sich dies auf ihr Familiengebilde ausgewirkt hat. “In the same old town, I saw your face / You seemed so sad, I felt the same”, heißt es im Refrain aus „Changes“ von Antonio Williams und Kerry McCoy, was sich beinahe wie eine Hymne für diesen Film anschickt. Nathaly, Nichole, Makai, Micah und Tony sind sympathisch und gewinnend wie Gasoline Rainbow selbst. Humanistisches Kino in seiner einnehmendsten Art.

7.5/10

7. Januar 2024

Filmjahresrückblick 2023: Die Top Ten

Film as such is dead.
 
(Rámon, Los delincuentes) 

Und so sieht man sich wieder, hier bei Symparanekromenoi. Man sollte eigentlich meinen, wenn man diese Filmjahresrückblicke seit 16 Jahren macht, dass man ein wenig Routine lernt, aber auch im vergangenen Jahr war es mal wieder so, dass erst gegen Ende langsam etwas Tempo reinkam in das Bestreben, sich ausgiebiger dem Film-Portfolio des Jahreskalenders zu widmen. Immerhin wurde dem Blog zeitweise neues Leben eingehaucht, in Form von gleich zwei Filmbesprechungen, die ich zuvor einerseits wegen der inzwischen zu knappen Zeit für das Verfassen der Texte, andererseits wegen der kaum noch nennenswerten Resonanz eingeschläfert hatte. Was mit dem obligatorischen Filmjahresrückblick aber selbst nichts zu tun hat. 

Den will ich auch dieses Jahr wie gehabt dazu nutzen, persönlich auf 2023 zurückzuschauen, aber auch einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Auch für mich war dabei erstaunlich, dass ich mich letztlich neun Mal im Kino wiederfinden sollte – eine Verdreifachung des Vorjahreswertes, wenn auch keineswegs auf dem Niveau von vor der Pandemie (was jedoch nicht so sehr an Corona lag, als an einem Arbeitsplatzwechsel seither). Wo ich das Niveau nicht halten konnte, war bei der Zahl der gesichteten Filme, eben auch, weil ich erst zum Winterbeginn anfing, meine Aufmerksamkeit der Klasse von 2023 zu widmen. So standen am Ende letztlich 140 Filme aus dem vergangenen Jahr zu Buche, die ich sichtete – 15 weniger als in 2022 also.

Die Top Ten der erfolgreichsten Filme 2023 komplettieren vor allem Fortsetzungen.
Den neun Kinobesuchen zum Trotz lockte mich das Kino-Event schlechthin dabei nicht hinterm Ofen hervor: „Barbenheimer“ holte ich – separat – später zuhause nach. Superhelden-Müdigkeit machte sich in 2023 breit, sodass es letztlich Greta Gerwigs Barbie war, der mit einem weltweiten Einspiel von rund 1,4 Milliarden Dollar zum erfolgreichsten Film des Jahres avancierte. Damit konnte sich die Puppen-Verfilmung knapp vor The Super Mario Bros. durchsetzen, der mit einem Einspiel von etwa 1,3 Milliarden Dollar zum Klassenschlager mutierte. Nicht minder überraschend ging der dritte Platz an Christopher Nolans Biopic Oppenheimer, dem am Ende mit 950 Millionen Dollar nicht viel fehlte, um die Milliarden-Grenze zu reißen.

Mit Pixars Elemental außen vor, sind es erneut vor allem Sequels wie Spider-Man: Across the Spider-Verse, die für das Klingeln der Kassen sorgten. Oder auch nicht. Gegenüber 2022 spielten die übrigen sieben erfolgreichsten Filme nämlich in Summe 20 Prozent weniger ein. Guardians of the Galaxy Volume 3 konnte ein desaströses Jahr für Disney noch etwas herausreißen, dass sich die Live-Action-Adaption von The Little Mermaid, Elemental und Ant-Man and the Wasp: Quantumania unter den zehn Kassenmagneten wiederfinden, sollte wie bei Fast X oder Mission: Impossible – Dead Reckoning (der über ein Viertel weniger einbrachte als Fallout) nicht irritieren – sie alle blieben hinter den finanziellen Erwartungen zurück.

Viele Zuschauer suchten den Gang ins Kino aka das Empire of Light.
Die Erwartungen weitestgehend für Fans erfüllen konnte derweil das zweite von drei Abenteuern von Miles Morales in Spider-Man: Across the Spider-Verse, der gegenüber dem Oscarprämierten Vorgänger über 80 Prozent zulegte und bei den Nutzern der Internet Movie Database (IMDb) mit einer Wertung von 8.6/10 den populärsten Film 2023 markiert (Stand: 6. Januar 2024). Ihm folgen zwei weitere von Kinobesuchern geschätzte Beiträge des Jahres: Christopher Nolans episches Trinity-Biopic Oppenheimer, das auf eine Wertung von 8.4/10 kommt und damit der zweitbeliebteste Film des Jahres ist, sowie Tohos Godzilla Minus One auf dem dritten Rang und ebenfalls einer Bewertung von 8.4/10, aber bei weniger Stimmabgaben.

Wo Barbie hier nicht aufs Treppchen steigen konnte, schwang sich die Matel-Verfilmung aber dennoch auf, die weltweiten Kinokassen an sich zu reißen. In den USA und auch in Deutschland zog Barbie die Zuschauer an, derer fast sechs Millionen suchten dabei hierzulande das Kino auf. Auch auf der iberischen Halbinsel war Barbie in Spanien und Portugal der Jahressieger, genauso wie im Vereinigten Königreich und seinen vormaligen Kolonien Australien und Neuseeland, ebenso in Südafrika, Island, Tschechien, Bulgarien, Polen, der Schweiz sowie in Brasilien und in Argentinien. Dagegen reizte Oppenheimer – laut Box Office Mojo – am meisten die Besucher in Schweden, Belgien, Dänemark, Österreich, der Türkei und Saudi-Arabien.

Jahressieger: Fast sechs Millionen Deutsche strömten für Barbie in die Kinosäle.
Das „Barbenheimer“-Phänomen zeigte sich augenscheinlich in Norwegen, Kroatien, Slowenien, Rumänien, Griechenland, Finnland und Ungarn, wo Barbie knapp vor Oppenheimer stand respektive vice versa in den Niederlanden und Slowenien, wo es umgekehrt der Fall war. The Super Mario Bros. wiederum setzte sich in Japan, Frankreich, Israel und der Ukraine sowie in Mittel- und Südamerika (Mexiko, Bolivien, Peru, Ecuador, Uruguay, Chile, Kolumbien, Paraguay, Venezuela) durch, während scheinbar Fast X den ersten Platz in Thailand und Nigeria für sich beanspruchte. Nationales bevorzugten dafür Italien (C’è ancora domani), China (Gu zhu yi zhi), Russland (Cheburashka), Indien (Jawan) sowie Südkorea (Seoul-ui bom).

Zu den sonstigen Gewinnern gehört speziell Greta Gerwig, die mit Barbie den erfolgreichsten Film einer Frau aller Zeiten ablieferte und auch finanziell von den Milliarden-Einnahmen profitieren dürfte. Christopher Nolan holte mit Oppenheimer ebenso das Maximum heraus. Nicht beklagen werden sich vermutlich auch Daniel Kwan und Daniel Scheinert die gleich drei der sieben Oscars für Everything Everywhere All at Once im März abräumten. Dort staubte Brendan Fraser im Rahmen seines Karriere-Comebacks in The Whale ebenfalls einen Oscar ab. Universal wird sich freuen, dieses Jahr das finanziell einträglichste Studio zu sein und somit vor Disney zu stehen, was nicht zuletzt auch auf The Super Mario Bros. zurückzuführen ist.

Beste Darstellerleistungen: Hong Chau, Abby Ryder Fortson, Benoît Magimel.
Was die schauspielerischen Leistungen anbelangt, hat Brendan Fraser sicher eine für sein Talent beachtliche Darbietung in The Whale gebracht, mich selbst beeindruckte jedoch dort Hong Chau in ihrer Nebenrolle deutlich mehr. Auch in Kelly Reichardts Showing Up konnte sie überzeugen, schaute zudem in Wes Andersons Asteroid City vorbei. Stärker als Brendan Fraser blieb mir bei den Männern dafür Benoît Magimel in Erinnerung, der in Albert Serras Pacifiction Anflüge von Gérard Depardieu zeigt, auch in Revoir Paris überzeugte. Bei den Jungdarstellern vermochte Abby Ryder Fortson quasi im Alleingang Kelly Fremon Craigs Are You There God? It’s me, Margaret. zu tragen, womit sie sich gegen Ebla Mari in The Old Oak durchsetzte. 

Namhafte Regisseure lieferten im Vorjahr wieder Werke ab, darunter Steven Spielberg mit The Fabelmans, Miyazaki Hayao mit Kimitachi wa dô ikiru ka [The Boy and the Heron] oder Todd Haynes mit May December. Viele große Regisseure verdingen sich aber nunmehr verstärkt für Streaming-Anbieter, dieses Mal David Fincher (The Killer) für Netflix, das Martin Scorsese an AppleTV+ verlor, wo er Killers of the Flower Moon inszenierte so wie Ridley Scott, der für Apple Napoleon ins Gefecht schickte. Ein Trend, der wohl leider zunehmen dürfte. Wie dem auch sei, Zeit, einen Abschluss zu finden und auf meine persönliche Top Ten für das Jahr 2023 zu sprechen zu kommen (mit dem gesamten Ranking aller 140 Filme wie gehabt auf Letterboxd):


10. L’innocent (Louis Garrel, F 2022): Louis Garrel inszeniert L’innocent [The Innocent] als einen durchaus gewitzt geschriebenen Mix aus Krimi- und Beziehungskomödie, wobei ein Sohn aus Liebe zu seiner Mutter ihrem aktuellen Ehemann bei einem Überfall aushelfen muss. Dabei stiehlt ihm Noémie Merlant immer wieder die Show mit ihrer enthusiastischen Bereitschaft zur Verbrechensausübung in diesem kurzweiligen Heist-Abenteuer. Die Dynamik der drei Hauptfiguren miteinander weiß zu gefallen, auch wenn der Film hier letztlich unnötig in bekannte Muster verfällt.

9.
Monica (Andrea Pallaoro, USA/I 2022): Die Vergangenheit holt die Hauptfigur in Andrea Pallaoros Monica ein, wenn eine Transfrau zurück in ihr Elternhaus kehrt, um bei der Pflege ihrer sterbenskranken Mutter zu helfen. Das Ergebnis ist thematisch dicht, übertüncht auch die nur rudimentär gezeichneten Figuren. Monica gerät dabei überzeugend, weil man viel aus Situationen heraus- respektive hineinlesen kann – oder gar muss. Pallaoro traut dem Publikum dies zu und Patricia Clarkson veredelt dies dem Zuschauer dann mit der fraglos emotionalsten Performance des Jahres.

8.
Pacifiction (Albert Serra, F/ES/D/P 2022): In Pacifiction vermag Albert Serra den Eindruck zu erwecken, dass unheimlich viel passiert, während zugleich augenscheinlich nichts geschieht. Über zweieinhalb Stunden hinweg erzeugt der Regisseur eine Anspannung der lockersten Sorte, wenn eine scheinbar machtlose Figur versucht, auf einer in einem Meer aus Paranoia treibenden Insel (s)eine Daseinsberechtigung einzufordern. Das Ergebnis ist somit eindeutig uneindeutig, während Serra über dieses vermeintliche Paradies faszinierend die subtile Gefahr von totaler Vernichtung wabern lässt.

7. Suzume no Tojimari (Shinkai Makoto, J 2022): Im Gegensatz zu seinen Vorgängern gewichtet Shinkai Makoto in Suzume no Tojimari [Suzume] dieses Mal das Handlungselement deutlich stärker, was dem Film nicht unbedingt immer vollends zum Vorteil gereicht. Er ist eigentlich dann am stärksten, wenn er sich auf die Figuren und ihre Interaktionen fokussieren kann, statt sie buchstäblich Türen traumatischer Erlebnisse schließen zu lassen. Nichtsdestotrotz weiß Shinkai auch hier berührende und humorvolle Momente zu schaffen, wenn eine Waise lernt, auf eigenen Beinen zu stehen.

6. Beurokeo (Kore-eda Hirokazu, ROK 2022): Niemand ist mehr vom Konzept der Familie fasziniert als Kore-eda Hirokazu. Nach La vérité zieht es den Japaner hierfür erneut ins Ausland, diesmal ins Nachbarland Südkorea wo wie in Manbiki kazoku [Shoplifters] in Beurokeo [Broker] nicht miteinander verwandte Figuren zu einem Familienbündnis zusammenschließen lässt. Sie alle eint das Gefühl einer erlebten Abweisung seitens der Gesellschaft; Akzeptanz und Liebe erfahren sie nur von einander. Das Ergebnis ist zwar nicht auf dem Level seines japanischen Œuvres, aber dennoch einnehmend.

5. All These Sons (Joshua Altman/Bing Liu, USA 2021): Aus der Vergangenheit lernen, um eine bessere Zukunft zu gestalten – das ist die Motivation der Charaktere in Joshua Altmans und Bing Lius Dokumentation All These Sons über die Rehabilitation von Gang-Mitgliedern aus Chicago und ihren Versuch, dem Kreislauf von Gewalt und Schießereien zu entkommen. Der Film folgt der Tradition von Steve James’ Meisterwerk The Interrupters, legt den Fokus aber auf die Suche nach Vergebung und Erlösung, die nur möglich erscheinen, wenn sich die Betroffenen selbst auch offen dafür zeigen.

4. Beau Is Afraid (Ari Aster, USA/UK/FIN/CDN 2023): Herrlich absurd fällt in Beau Is Afraid das Unterfangen von Ari Aster aus, die ganze menschliche Existenz mit all ihren Extremen, Bedürfnissen und Sorgen in eine Laufzeit von drei Stunden zu packen. Was hält das Leben einem offen und wie findet man sich in ihm wieder – Fragen, die zu beantworten Joaquin Phoenix’ Figur eigentlich versucht, zu vermeiden. Unterteilt in quasi vier Segmente reüssiert die erste Hälfte des Films dabei mehr als die zweite Hälfte, aber besser als die ersten 40 Minuten kann Kino eigentlich kaum mehr werden.

3. Syk pike (Kristoffer Borgli, N/S/DK/F 2022): Man kann als Zuschauer aus Kristoffer Borglis Syk pike [Sick of Myself] mitnehmen, was man möchte. So vermag der Film einerseits eine beißende Satire auf den gegenwärtigen Gen-Z-Narzismus zu sein, andererseits aber auch ein demaskierendes Porträt einer toxischen Beziehung zweier Tweens, die sich in einem Wettstreit untereinander nach Aufmerksamkeit zu verlieren drohen. Wie nehmen wir unsere Umgebung wahr und wie werden wir wahrgenommen von unserer Umgebung? Syk pike ist wunderbar bitterböse und durchweg vergnüglich.

2. De Humani Corporis Fabrica (Lucien Castaing-Taylor/Verena Paravel, F/CH/USA 2022): Geradezu hypnotisch verfolgt man die Einblicke, die einem Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel in ihrer jüngsten Dokumentation in den menschlichen Körper bieten. De Humani Corporis Fabrica zeigt die Geburt und den Tod, während die Kamera in Harnleiter eindringt, an Gehirnen und Augen operiert wird, Tumore untersucht und Wirbelsäulen stabilisiert werden, derweil Krankenschwestern die dünne Personaldecke lamentieren und ein Chirurg beklagt, heute noch gar keine Erektion gehabt zu haben.

1. Fumer fait tousser (Quentin Dupieux, F/MC 2022): Quentin Dupieux gibt mit einer Teambildungsmaßnahme der besonderen Art  Fumer fait tousser [Smoking Causes Coughing] den Rahmen, wenn Verbrechensbekämpfer im Super-Sentai-Stil an ihrem Zusammenhalt arbeiten müssen, so denn sie die Welt retten wollen. Und sich dabei zunehmend in Vignetten verlieren, die repräsentativ für die verstärkte Abkopplung der Gesellschaft von sich selbst stehen. Dies alles ergibt eine grandios überzeichnete Blödelei, die wunderbar gespielt und urkomisch ist – wenn man mit dem Humor etwas anfängt.