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31. Dezember 2020

I’m Thinking of Ending Things

I suppose I watch too many movies.


« Non, je ne regrette rien », singt Édith Piaf in ihrem gleichnamigen Lied. Sie bereue nichts – etwas, das die Figuren in Charlie Kaufmans Filmen nicht unbedingt von sich sagen. So auch in seinem jüngsten Werk I’m Thinking of Ending Things, das dieses Jahr direkt auf dem Streaming-Dienst Netflix landete und sich wie immer um Einsamkeit, Liebe, Beziehungen und personelle Leere dreht. Nominell wird darin vom Antrittsbesuch einer jungen Frau bei den Eltern ihres neuen Freundes erzählt. Im Kern geht es Kaufman jedoch weniger um das Spezielle, sondern wie immer das Allgemeine. Nicht um das Leben einer einzelnen Person, vielmehr das Leben generell. All seine Höhen und Tiefen – kompakt kondensiert in einem einzigen Abend.

Eine junge Liebe ist es, die Lucy (Jessie Buckley) und Jake (Jesse Plemons) ein. Vor einem Monat lernten sie sich erst bei einem Bar-Quiz kennen, doch Lucy – wie der Filmtitel vorwegnimmt – denkt bereits jetzt daran, einen Schlussstrich zu ziehen. “The idea is new. But it feels old at the same time”, fasst sie ihr Dilemma oxymoronisch zusammen. Ähnlich verhält es sich mit dem Besuch bei Jakes Eltern, dem ersten gemeinsamen Trip des Paares, der dennoch zugleich Nostalgie erwecke, wie Lucy sinniert. Die aufkommende Stille während der Fahrt versucht Jake dadurch im Keim zu ersticken, indem er seine Freundin nach deren Biologie-Studium und ihrer Ganglien-Forschung befragt oder Lucy von ihr selbstverfasste Gedichte zum Besten geben lässt.

Der Ausflug zu Jakes Elternhaus führt nicht nur zur Vorstellung bei seinen Erzeugern, sondern unweigerlich auch in seine Kindheit. Gegenwart und Vergangenheit treffen aufeinander und werfen Schatten auf die Zukunft. Kaufman beginnt im Verlauf verstärkt, die Realitätsschrauben zu lockern – was ist Schein, was Sein? Handelt es sich um einen unzuverlässigen Erzähler, ein unzuverlässiges Publikum oder vielleicht beides? Lucys Name ändert sich zuerst in Louisa, dann in Lucia und wieder zur Lucy; ihr Studienfach wiederum wechselt im Laufe des Abends von Biologie zu Quantenphysik und Gerontologie. “I’m feeling confused”, gesteht Jakes Vater (David Thewlis) später einmal – womöglich wie auch mancher Zuschauer.

Zeit und Raum verschmelzen mehr und mehr. In einer Szene ist Jakes Mutter (Toni Collette) jung, in der nächsten ein Pflegefall. Sein Vater erst gewitzt, dann dement. Wahrnehmen kann dies nur das Publikum. “We’re stationary and time passes through us”, sagt Lucy mal. “Time is another thing that exists only in the brain”, philosophiert Jake an einer anderen. Dass Zeit im Geiste wahrgenommen werden, beschrieb bereits Augustinus. In dieses Verständnis fügt sich gut ein, dass wir die Anfänge von Lucys und Jakes Beziehung erleben, die gleichzeitig deren Ende markieren. Alles ist im Fluss, das Spiel mit Zeit zeichnete bereits Charlie Kaufmans meisterhaftes Regie-Debüt Synecdoche, New York, das vor elf Jahren erschien, aus.

I’m Thinking of Ending Things
fokussiert sich zwar weitestgehend auf Lucy, erzählt aber im Grunde von Jake. Von seinem Selbstbild und seiner Einordnung von diesem in seiner Umwelt. Jake liebt Musicals, allen voran Okalahoma!, besitzt rudimentäres Wissen über Ganglien, kennt die Werke von Anna Gavon, Leo Tolstoi oder David Foster Wallace und schätzt die Gedichte von William Wordsworth. Letzterer hatte viele von ihnen einer Dame, die ebenfalls Lucy hieß, gewidmet – “a beautiful, idealized woman”, wie Jake weiß. Er hat hohe Ansprüche an sich selbst, scheint diese aber nie entsprechend verwirklicht zu haben. Wovon auch gewisse Anspannungen während des Abendessens im Beisein seiner beiden Eltern zeugen.

Bestimmt, entnervt und aggressiv gebiert sich Jake. Nervös, gar ängstlich wirken die Blicke, die seine Mutter wandern lässt. “Jake can be controlling”, sagt sie und die Atmosphäre erinnert an Joe Dantes Segment “It’s a Good Life” aus Twilight Zone: The Movie. Bloß kein falsches Wort sagen, bloß keinen Zorn auf sich ziehen. Jakes Eltern wirken bereits abverurteilt in dieser lebenslangen Haft jenes emotionalen Gefängnisses, für Lucy, so suggeriert der Film, besteht noch Hoffnung – “I’m thinking of ending things”. Wenn nicht jetzt, wann dann? Lieber jetzt, als nie. Oder wie es Lucy nennt: “the lie of it all”, all diese Platitüden. Gott hat einen Plan, alles wird gut, es ist nie zu spät. Die Hoffnung ruht auf der Zukunft, wenn Heute zu Gestern wird.

Nur: Menschen können nicht in der Gegenwart leben, wirft Lucy ein. “So they invented hope.” Darin begründet liegt der Glaube, der Monotonie des Alltags zu entkommen, in einer Nebenhandlung in einem Schulhausmeister (Guy Boyd) personifiziert. Dessen Tage sind immer gleich, ein stagnierendes Manifest in einem Meer an Pubertät und Erwachsenwerden. Wo die Schüler der Einrichtung entkommen, zählt der Hausmeister zum Inventar. Wo die Jugendlichen weiterziehen, in eine erwartungsvolle Zukunft, markiert der Hausmeister mit seiner Gegenwart ihre Vergangenheit. “The onslought of identical days” beschrieb Lucy in ihrem rezitierten Gedicht. “It’s like you wrote it about me”, bemerkt Jake, ohne die Tragik zu erkennen.

Lucy, erwidert sie, zielte auf “universality in the specific” ab. Pars pro toto oder, um wieder auf Kaufman zu verweisen, eine Synekdoche. I’m Thinking of Ending Things besitzt viel vom Humor seines Auteurs, obgleich weniger subtil als in seinen früheren Werken. Gerade dann, wenn sich bei Wiederholungssichtungen zeigt, wie eindeutig der Film im Grunde in seiner ursprünglichen vermeintlichen Uneindeutigkeit ist. Wenn Jake hinweist, dass die Menschen von David Foster Wallaces Selbstmord mehr wissen als seinen Büchern (“suicide becomes the story”) oder ein Zitat von Pauline Kael zu A Woman Under the Influence sich auf Lucy und ihre vielen Interessen münzen ließe (“nothing that she does is memorable because she does so much”).

“We hope for the future, and then we turn to the past, and then we begin slowly and desperately to hope for the past”
, beschrieb Henri Barbusse in seinem Werk Light. Eine Zeile, die Jake gefallen könnte. “So many wrong turns” habe er in seinem Leben genommen, bedauert Jake dann auf der nächtlichen Heimfahrt. “The world is larger... than the inside of your head”, realisiert er – allerdings womöglich zu spät. Hätte, wäre, wenn... – die Rückbesinnung auf das Vergangene mit Hoffnung für die Gegenwart bildete bereits das Fundament in Kaufmans jüngstem Film Anomalisa. Prinzipiell fügt sich Jake ganz gut ein in die männliche Galerie an Protagonisten, denen ihr Ego(zentrismus) im Leben am meisten im Weg zum Glück steht.

Glücklich ist im Universum von Charlie Kaufman keine Figur, gefangen in Repetition, bis eine Erlösung erfolgt. Ein trostloses Bild, nicht unähnlich der verschneiten Landschaft, die Lucy und Jake passieren. “Beautiful... in a bleak kind of way”, beschreibt Lucy diese – und könnte zugleich über I’m Thinking of Ending Things sprechen. Der verliert sich in seinen Schlussminuten ein wenig in seinen vielen Referenzen, ist letztlich – zumindest nach der ersten Sichtung – vielleicht etwas zu verkopft und durchgeplant, als dass seine Kreativität einen vollends einnimmt (ähnlich haderte auch Anomalisa). “Do it or do not do it – you will regret both”, wusste schon Søren Kierkegaard in seinem Buch Either/Or. Folglich kann man am Ende also nur verlieren.

8.5/10

6. November 2010

Mary and Max

The tears were the best gift he ever received.

Es gibt Menschen, für die sind Animationsfilme automatisch Kinderfilme. Diesen Menschen sollte man nie Kon Satoshis Perfect Blue oder Adam Elliots Mary and Max schenken, würden sie diese doch vermutlich direkt an ihre Kinder weiterreichen. Animationsfilme wie Mary and Max ermöglichen bisweilen, eine Geschichte zu erzählen, die mit realen Darstellern wohl nicht ohne weiteres umsetzbar gewesen wäre. Beispielsweise einen 44-jährigen am Asperger-Syndrom leidenden New Yorker, der eine lebensnotwendige Brieffreundschaft mit einer bebrillten und drangsalierten 8-jährigen Australierin eingeht. Regisseur Adam Elliot, der sich mit seinem knetanimierten Filmdebüt anschickt, das Monopol von Nick Park in diesem Subgenre zu brechen, erzählt diese Geschichte um Freundschaft, Mobbing, Einsamkeit und Tod auf eine derart berührende Weise, dass sie Mary and Max wohl zum besten Animationsfilm des Kinojahres 2010 macht.

Elliots auf eigene Erfahrungen aufbauende Geschichte erzählt von zwei tristen Leben in zwei tristen Welten. Speziell Max’ New York ist eine trüb-graue Angelegenheit, die den Film fast schon zum Schwarzweißwerk werden lässt. Letztlich passt sich hier die Umwelt dem Wesen der Hauptfigur an. Philip Seymour Hoffman spricht Max Jerry Horovitz, einen Misanthropen, der über das menschliche Verhalten rätselt und am liebsten Schokoladen-Hot-Dogs verspeist, obschon er dies als ess-gestörtes und übergewichtiges Mitglied von Overeater Anonymous lassen sollte. Es liegt nicht nur an Max’ semitischem Hintergrund, dass Elliots New York Episode mitunter wirkt, wie eine Knetversion eines Woody-Allen-Films. Etwas farbenfroher, zumindest in ihrer Umwelt, geht es dagegen im Leben der kleinen Mary Daisy Dinkle, gesprochen von Bethany Whitmore, zu. Was ihr Sozial- und Familienleben angeht, sieht dies jedoch ganz anders aus.

In der Schule wird sie wegen eines Muttermals auf der Stirn gehänselt, zu Hause vertreibt sich ihr Vater seine Freizeit lieber mit dem Ausstopfen von Vögeln, während die kleptomanische Mutter dem Sherry frönt. Marys Welt ist bedrückend-traurig und wie melancholisch Bethany Whitmore ihre Knetfigur synchronisiert, geht einem als Zuschauer Mal um Mal zu Herzen. Dass sich diese beiden verlorenen Seelen nun begegnen, verdankt sich dem Zufall - oder Schicksal, je nach Sichtweise. Um herauszufinden, ob Babys auch in den USA so entstehen, wie es Mary von ihrer Mutter beigebracht wurde (man findet sie am Boden eines Bierglases), pickt die 8-Jährige willkürlich eine Adresse aus einem New Yorker Telefonbuch - und stößt auf Max. Fortan füllen sie sich gegenseitig die emotionale Leere in ihren Seelen und versorgen sich jeweils mit Schokolade und einem Sozialleben, welches speziell Mary mehr und mehr am Leben hält.

Es ist sicherlich auch der Umstand, dass hier ein kleines Mädchen mit einem Asperger-Patienten kommuniziert, der Mary and Max seine kreative Vielseitigkeit verleiht. So unterbricht Max seine Briefgedanken an Mary gerne mit Zwischenfragen wie “Have you ever been a communist?“, während sein Gegenüber wiederum wissen will: “Do sheep shrink when it rains?“. Gerade Max’ Integration in die „normale“ Gesellschaft amüsiert durch Einfälle wie seinen imaginären Jugendfreund Mr. Ravioli, der, als er nicht mehr gebraucht wird, in der Ecke sitzt und Bücher liest (und zwar ganz Besondere) oder dass sein Psychiater auf den Namen „Dr. Hazelhof“ hört. Wo Max mit sich und seiner Umwelt im Reinen ist, zeigt sich Marys Welt aufgrund der Umstände weniger komisch denn deprimierend. Dass sie sich ihr Spielzeug aus Abfällen basteln und gesüßte Kondensmilch trinken muss, sind verstörende Bilder von Kindesvernachlässigung.

Auch sonst wartet Elliots Debüt nicht gerade mit leichten Themen auf. Totschlag, Todesfälle und Selbstmord decken eine große Palette ab, ohne dass all diese Themen allzu sehr auf die zwar melancholische aber dennoch im Kern lebensbejahende Stimmung drücken. Dies verdankt sich zum einen dem neugewonnenen Lebensgeist von Mary und Max in ihrer Freundschaft (“You are my best friend“, schreibt Max), aber auch an der aufmunternden musikalischen Untermalung, die insbesondere Marys Alltag kennzeichnet. Dennoch ist in Mary and Max nicht alles Gold was glänzt. So weiß zum einen Toni Collette die erwachsene Mary nicht mehr mit derselben Wärme und Verletztheit zu synchronisieren, wie zuvor Whitmore. Zum anderen ist der von Barry Humphries gesprochene Erzähler zu oft anwesend und auf die Dauer eher lästig. Denn Filme wie WALL•E haben gezeigt, dass auch in Stummheit viel gesagt werden kann.

Hinzu kommen einige inhaltliche Einbindungen, die verloren gehen, da sie ohne Anfang und Ende präsentiert werden. Allen voran Marys Schwarm und späterer Ehemann Damien Popodopolous (Eric Bana), aber auch eine klinische Einweisung von Max, sowie die mehrjährige Differenz zwischen Akt zwei und drei wird reichlich schnell abgehakt. Allerdings sind dies nur kleinere Diskrepanzen in einem an und für sich sehr überzeugenden, weil unterhaltsamen und ausgesprochen berührenden, (Animations-)Film. Selten trifft man in diesem Genre Beiträge, die derart erwachsen mit ihrer Geschichte umgehen, wie Mary and Max. Man könne sich seine Warzen nicht aussuchen, sagt Dr. Hazelhof an einer Stelle zu Max. Aber man kann sich seine Freunde aussuchen. “I am glad I have chosen you“ schreibt Max in einem seiner letzten Briefe an Mary. Und wenn der Abspann einsetzt, ist auch der Zuschauer froh, sich für diesen Film entschieden zu haben.

8/10