11. Januar 2011

The Wire - Season Three

Call it a crisis of leadership.

Für den US-amerikanischen Fernsehkritker Ken Tucker ist The Wire “television’s richest, most satisfying experience”. Wer sich das Bonusmaterial zur HBO-Serie ansieht, stößt immer wieder auf Hinweise von Polizisten, Anwälten oder FBI-Agenten, die bestätigen, wie authentisch die Show sei. Und für ihre Schöpfer, David Simon und Ed Burns, erzählt The Wire nicht von gut zwei Dutzend Charakteren oder einer bestimmten Handlung, sondern von Baltimore, Maryland. Eine Stadt, die gleichzeitig was das urbane Leben angeht, für viele andere US-Städte steht. Insofern scheint es konsequent, dass sich die dritte Staffel nach dem Vorjahr mit Fokus auf die Docks nun wieder verstärkt dem Drogenhandel widmet.

Die Aufmerksamkeit der Spezialeinheit von Lieutenant Daniels (Lance Reddick) und Detective McNulty (Dominic West) ist wieder auf das Barksdale-Drogenkartell unter der Kontrolle von Stringer Bell (Idris Elba) gewandert. Während Freamon (Clarke Peters) und Prez (Jim True-Frost) versuchen, Stringers Stimme auf einer ihrer abgehörten Aufnahmen zu erwischen, muss dieser sich mit wachsender Corner-Konkurrenz in Form von Marlo Stanfield (Jamie Hector) auseinandersetzen. Unterdessen ist dem idealistischen Stadtrat Tommy Carcetti (Aidan Gillen) die ansteigende Mordrate ein Dorn im Auge. Selbige führt wiederum dazu, dass Polizeimajor Colvin (Robert Wisdom) über ein riskantes Projekt nachdenkt.

Der Blick der Serienmacher wandert also vom Hafen Baltimores und den dortigen schmutzigen Geschäften zur Korruption des Rathauses. Mit Stadtrat Carcetti wird zugleich eine Figur eingeführt, deren Handlungen diese Staffel primär durch die Langeweile und Bedeutungslosigkeit ihres Jobs motiviert werden. Als Mittelsmann hat Carcetti nur bedingt Einfluss auf Bürgermeister Royce (Glynn Turman), dafür jedoch umso mehr auf Burrell und seinen Stellvertreter, Colonel Rawls (John Dorman). Und wenn The Wire etwas etablierte, dann, dass die Scheiße immer bergab rollt. Demzufolge gibt Burrell den Druck, den er von Carcetti ob der steigenden Morde in der Stadt erhält, direkt an seine Untergebenen wie Colvin weiter.

Colvin wiederum ist in einer Position, in der sich auch Daniels zu Beginn der zweiten Staffel wiederfand. Er steht ein halbes Jahr vor seiner Pensionierung, was auch seine Bereitwilligkeit erklärt, nicht nach den Regeln zu spielen. Was Colvin erkennt, ist, dass der Krieg gegen die Drogen nicht gewonnen werden kann. Schließlich hatten bereits Carver (Seth Gilliam) und Herc (Domenick Lombardozzi) in der Pilotfolge diskutiert, dass „Krieg“ der falsche Begriff ist, weil ihm ein Ende folgt. Denn das Problem sind nicht die Drogendealer, sondern ihre Kunden. Und die verschwinden nicht. Und was macht man mit einem Krieg, den man nicht gewinnen kann? Man verlagert das Schlachtfeld weg von der Heimat.

So wird relativ früh in der dritten Staffel ein verlassenes Viertel eingeführt, in welches Colvin alle Dealer abzuschieben versucht, damit die Corner für die Bevölkerung frei werden. Als Lockmittel dient ihm das Versprechen, dass die Polizei den Drogengeschäften in jenem Viertel, von den Dealern rund um Bodie (J.D. Williams) missverständlich „Hamsterdam“ nach der Hauptstadt der Niederlande genannt, keinen Einhalt gebieten wird. Die Folge ist, dass in der bisher gelungensten Episode der gesamten Serie, Straight and True, Hamsterdam quasi zu einem Drogen-Outlet mutiert, in welches Colvins Männer wie Carver und Herc nur dazu da sind, zu vermeiden, dass es zu Gewaltausschreitungen und Morden kommt.

Die Resultate zeigen sich sofort: die Straßenecken sind leer, die Bürger können vor ihr Haus treten und zugleich kriegt jeder seine Drogen, die er davor auch bekommen hätte. Für Außenstehende wie McNulty, Greggs (Sonja Sohn) und Sydnor (Corey Parker Robinson) wirkt dies auf den ersten Blick zwar, als hätte Colvin Drogen legalisiert, stattdessen platzierte er sie jedoch, wie in All Due Respect formuliert, lediglich in eine Papiertüte. Für seine Dezernatsstatistik wirkt seine Entscheidung Wunder und auch auf die Beziehungen zwischen Polizisten und Dealern hat Hamsterdam einen scheinbar gesunden Einfluss. Dass dies nicht mehr wie eine Momentaufnahme sein kann, ist Colvin natürlich durchaus bewusst.

Ein weiterer Grund, weshalb Hamsterdam wohl möglich war, ist Strings Versuch, alle Drogenbosse von Baltimore wie Prop Joe (Robert F. Chew) zu einer Kooperation zu vereinen. Keine Gangfights mehr, da alle dasselbe Produkt verkaufen. Ein Plan, der weitestgehend aufgeht, abgesehen vom immer dramatischer werdenden Beef zwischen dem in Homecoming frühzeitig entlassenen Avon (Wood Harris) und dem aufsteigenden und gleichzeitig skrupellosen Marlo. Die dritte Staffel markiert diesbezüglich einen endgültigen Bruch zwischen String und Avon, der sich bereits im Vorjahr angekündigt hatte. Denn wo Avon sich weiterhin der Straße verschreibt („I want my corners.“), plant String seinen Milieuaufstieg.

In Hamsterdam wird er das erste Mal in Gesellschaft von Senator Clay Davies (Isiah Whitlock, Jr.) gezeigt, der bereits in der ersten Staffel in Kontakt zum Barksdale-Kartell stand. Damals wurde String auch als Besucher eines Makroökonomiekurses gezeigt, ein Feld, in welches er nun weiter vordringen und sich von der Illegalität der Straße abkapseln möchte. Damit folgt String dem Thema der Reformation, dem sich The Wire im dritten Jahr verschreibt. Eine solche strebt auch Carcetti an, wenn er leise Hoffnungen auf eine Kandidatur als Bürgermeister hegt. Und einer Reformation unterzieht sich der frisch entlassene Cutty (Chad Coleman), der nicht mehr im Stande ist, für Avon Drecksarbeit zu erledigen.

Inhaltlich driftet die Serie also wieder zurück zu den Drogendealern, die im Vorjahr eine Nebenhandlung waren. Dagegen gelingt es der neuen Blickrichtung gen Politik nicht ganz so prominent zu sein, wie zuvor den Docks von Baltimore. Dennoch vermag The Wire in seiner dritten Staffel erneut eine qualitative Schippe draufzulegen. Die charakterlichen Ergänzungen bilden dabei den Trumpf, den die Show verstärkt in der kommenden Staffel ausspielen wird. Speziell Carcetti ist eine extrem undurchsichtige Figur, deren Motivation zwischen Egozentrik und Altruismus schwankt und die somit zu vorsichtiger Sympathie einlädt. Anders verhält es sich da schon mit den übrigen Neuankömmlingen.

Zuerst scheint Jamie Hectors Marlo Stanfield ein Phantom zu sein, das nicht mal Bodie zu einem Gespräch bereit steht. Wie es Marlo geschafft hat, innerhalb von zwei Jahren eine derartige Stellung in Baltimores Westside einzunehmen, bleibt zwar offen, dennoch stellt er sich mit seinen beiden Soldaten Chris (Gbenga Akinnagbe) und der beängstigenden und zugleich auf bizarre Weise unterhaltsamen Snoop (Felicia Pearson) als ernstzunehmender Gegner für Avon und dessen Street Soldier Slim Charles (Anwan Glover) heraus. Letztere Rolle gebührt eigentlich auch Cutty, der sich jedoch von dieser Welt abzuwenden beginnt, was der Zuschauer primär dank Colemans sympathischem Spiel verfolgt.

Ebenso wie der Konflikt mit Marlo artet auch der Zwist mit Omar (Michael K. Williams) für das Barksdale-Kartell  im Laufe der Staffel weiter aus, während Omar zugleich in eine Nebenhandlung mit Bunk (Wendell Pierce) verstrickt wird. Andere beliebte Figuren wie Bubbles (Andre Royo) geraten dieses Jahr dafür etwas ins Hintertreffen. Zu ihnen zählt auch Kima, die vor der Verantwortung, nun Elternteil zu sein, ähnlich wie McNulty in Alkohol und Affären flüchtet und sich auch sonst hauptsächlich an dessen Fersen heftet (und damit Bunk ersetzt). Damit zählt sie jedoch neben McNulty und Daniels immer noch zum Triumvirat der Charaktere, denen The Wire einen tieferen Blick in ihr Privatleben zu gönnen bereit ist.

Obschon die dritte Staffel thematisch wieder weitestgehend am ersten Jahr anknüpft, wirkt The Wire inzwischen narrativ wie qualitativ stärker und überzeugender, was vielleicht auch mit der Vertrautheit und Identifikation zusammenhängt. Ein Grund könnte aber zudem sein, dass man zum Ende der Staffel dieses Mal nicht denselben Weg wählte, wie in den beiden Jahren zuvor. Neben der perfekten Folge Straight and True bleiben dabei besonders Middle Ground und Back Burners in Erinnerung. Und wenn The Wire schon nicht “television’s richest, most satisfying experience” ist, so ist Ken Tucker doch zuzustimmen: “No other TV project has come close to showing the humanity of both the victims and victimisers of crime“.

8.5/10

2 Kommentare:

  1. Deutlich besser als Staffel 1, aber ein Rückschritt von der nahezu perfekten Staffel 2.

    7/10

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  2. Ich bin perplex. Rauf, runter, rauf, runter - vielleicht kannst du ja der 4. Staffel was abgewinnen, die gilt objektiv bei Kritikern als das Highlight der Fernsehgeschichte.

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