6. Januar 2025

Filmjahresrückblick 2024: Die Top Ten

Cinemas can be places of kindness. 
(Kleber Mendonça Filho, Retratos Fantasmas)

Der frühe Vogel fängt den Wurm, weshalb ich dieses Jahr früher anfing, Beiträge für den Filmjahresrückblick im Blog nachzuholen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Denn zuletzt war der Dezember immer sehr dicht getaktet, um alles noch irgendwie unterzubringen – dieses Mal begann ich schon im Spätsommer, mich den Kernwerken von 2024 zu widmen. Was den Nebeneffekt hatte (ob positiv oder negativ sei dahingestellt), dass sich mein Konsum doch deutlich auswuchs gegenüber den vergangenen Jahren: Mit letztlich 176 gesehenen Filmen auf so viele wie seit sieben Jahren nicht mehr, als ich 2017 auf den (bis heute) Rekordwert von 217 Filmen kam.

Entgegen meiner Erwartung war ich dabei verhältnismäßig oft im Kino, zwölf Mal; der höchste Wert seit 2019, als ich auf 13 Besuche kam. Nur einer dieser Kinobesuche spiegelt sich derweil in meiner Top Ten auch wieder, der Großteil meines Konsums entfiel wie gehabt auf das Heimkino, nicht zuletzt dank solch interessanter Kataloge wie sie der Criterion Channel oder Mubi aufweisen. Mit meiner Zahl an Kinobesuchen scheine ich aber womöglich dennoch eine positive Ausnahme zu sein, denn die prognostizierten rund 90 Millionen Kinotickets in diesem Jahr markieren den niedrigsten Wert im deutschen Kino des 21. Jahrhunderts, die Corona-Jahre außen vor gelassen.

Fortsetzungen dominieren wieder einmal die Top Ten der erfolgreichsten Filme 2024.

Dies scheint jedoch kein deutsches Phänomen zu sein, wenn man sich die weltweiten Gesamteinnahmen getreu Box Office Mojo ansieht: Auch dort wird abseits der Pandemie für 2024 der geringste Ertrag der vergangenen 20 Jahre verzeichnet. Was nicht heißt, dass es nicht auch Filme gab, welche die Kasse zum Klingeln brachten. Zwei von ihnen gelang es, die Marke von einer Milliarde Dollar zu reißen, der erfolgreichste Film des Jahres war dabei Pixars Inside Out 2, der Disney rund 1,7 Milliarden Dollar bescherte. Auf dem zweiten Platz folgt ebenfalls ein Disney-Werk, konkreter eines der Marvel-Tochter, mit Deadpool & Wolverine, der auf 1,3 Milliarden Euro kommt.

Gru und die Minions bleiben ein Erfolgsgarant für DreamWorks, sodass Despicable Me 4 mit 969 Millionen Dollar immerhin noch den dritten Platz der Jahrescharts sichert und den Disney-Hattrick verhindert, lauert dahinter doch Moana 2 mit 960 Millionen Dollar. Und mit Ausnahme der Broadway-Adaption Wicked: Part I (auf Rang 6) sind die übrigen sieben Filme der Kassen-Top-Ten erneut Franchise-Filme, seien es zweite Teile wie Dune: Part Two (Platz 5) oder Prequels wie Mufasa: The Lion King (Platz 10), Trilogie-Abschlüsse wie Venom: The Last Dance (Platz 9) sowie vierte Abenteuer wie Godzilla x Kong: The New Empire und Kung Fu Panda 4 (Rang 7 und 8).

Die Zahl der Kinobesuche war 2024 die niedrigste seit 20 Jahren.

Überraschend ist, dass die drei erfolgreichsten Filme nicht die populärsten in der Internet Movie Datebase (IMDb) darstellen, wo sich an der Spitze zwei Filme aus der Top Ten wiederfinden. Die beste Wertung erzielt der als bildgewaltig gepriesene Dune: Part Two mit 8.5/10, der sich vor The Wild Robot platziert, der eine 8.2/10 erhielt. Berücksichtigt man Abstimmungen, hinter denen wenigstens eine sechsstellige Nutzerzahl steht, positioniert sich dann Wicked: Part I auf den dritten Rang mit einer Wertung von 7.9/10 (Stand: 5. Januar 2025). Der erfolgreichste deutsche Film des Jahres wiederum ist Die Schule der Magische Tiere 3 mit 2,9 Millionen Besuchern.

Was nicht heißt, dass dies der Deutschen liebster Film in 2024 war – konkret bedeutet dies „bloß“ Platz 5 der nationalen Kinocharts. Die wird von Inside Out 2 angeführt, womit Deutschland keineswegs alleine ist. Auch in Italien, Großbritannien, Spanien, Portugal und Norwegen sowie Österreich, Ungarn, Tschechien, der Schweiz, Belgien, Dänemark, Finnland und Griechenland stürmte Pixar die Gefühlswelt der Zuschauer. Ebenso in den USA, wo Inside Out 2 mit 652 Millionen Dollar mehr einspielte als Godzilla x Kong weltweit. Traditionell laufen auch in Südamerika Animationsfilme stets am besten: Ebenso Tradition hat, dass sich die Länder dabei nicht immer einig sind.

Der meistbesuchte deutsche Film des Jahres war Die Schule der Magischen Tiere 3.

Während Argentinien, Brasilien, Chile und Kolumbien – ebenso wie Mexiko – es mit Inside Out 2 hielten, strömten Uruguay und Bolivien (wie auch Ägypten) lieber in Despicable Me 4. Tierisch bevorzugten es unterdessen Peru und Paraguay, die Kung Fu Panda 4 zu ihrem Jahressieger erkoren – genauso wie Kenia und Nigeria. Zwar lief es für Deadpool & Wolverine international überall gut, die Konkurrenz hinter sich lassen konnten die Comicbuch-Helden nur in den Niederlanden, Schweden, Kroatien, Südafrika Australien, Indonesien und Indien. Dagegen stieg man in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu Bad Boys: Ride or Die ins Auto.

Für gewöhnlich eher Hollywood-orientiert, hievte Frankreich in 2024 mit Un p’tit truc en plus [Was ist schon normal?] mal wieder einen einheimischen Film auf den ersten Platz – der in Deutschland nur auf Rang 68 landete. Frankreich war aber nicht alleine, nationale Werke wurden in Europa auch in Bulgarien (Gundi – Legenda za lyubovta) und Polen (Akademia Pana Kleksa) bevorzugt, ebenso in der Türkei (Lohusa), Russland (Kholop 2), China (Zhua wa wa [Successor]) sowie Vietnam (Mai) mit jeweils Komödien sowie in Südkorea (Pamyo [Exhuma]) und in Japan (Meitantei Konan Hyakuman Doru no Michishirube [Detective Conan: The Million Dollar Pentragam]).

Beste Darstellerleistungen: Colman Domingo, Maisy Stella, Ilinca Manolache.

Zu den Gewinnern des Jahres dürfte gerade angesichts der jüngeren Fehlerfolge Disney zählen, die mit Inside Out 2, Deadpool & Wolverine sowie Moana 2 drei der vier einträglichsten Filme mit allein fast vier Milliarden Dollar stellen. Christopher Nolan erhielt für Oppenheimer im Frühjahr seinen Regie-Oscar – und einen zweiten für den Besten Film dazu. Glenn Powell (Anyone But You, Hit Man, Twisters) und Cailee Spaeny (Civil War, Alien: Romulus, Priscilla) warteten mit drei Filmen auf und spielten sich ebenso in den Fokus wie Josh O’Connor (Challengers, La Chimera, Aisha, Lee) und Sydney Sweeney (Anyone But You, Madame Web, Immaculate, Reality).

Derzeit läuft derweil die Filmpreis-Maschine an: Für mich hinterließ Colman Domingo in Sing Sing Eindruck, wo er geschickt Zuversicht und Hoffnungslosigkeit spiegelte. Überzeugen konnte bei den Jungdarstellern Zoe Ziegler in Janet Planet, aber den Zuschlag gebe ich Maisy Stella, die quasi im Alleingang My Old Ass schultert und dafür sorgt, dass diese Komödie halbwegs funktioniert. Léa Seydoux ist in mehreren Rollen und Facetten in La Bête [The Beast] und Le deuxième acte [The Second Act] zu sehen, meine Stimme erhält allerdings letztlich jedoch Ilinca Manolache in Nu Aștepta Prea Mult de la Sfârșitul Lumii [Do Not Expect Too Much from the End of the World].

Ansonsten war 2024 das Jahr, in dem Auteure wie Kevin Costner (Horizon: An American Saga – Chapter 1) und Francis Ford Coppola (Megalopolis) mit eigenem Geld originäre Visionen verfilmten – auch wenn Kritik und Publikum nur bedingt (oder gar nicht) mitgingen. Es war nicht der einzige Coppola-Film, Tochter Sofia (Priscilla) und Enkelin Gia (The Last Showgirl) waren ebenfalls aktiv, mit Clint Eastwood (Juror #2) gab sich ein anderer Altmeister die Ehre, womöglich letztmals. Apropos Ehre geben: Während eine Auflistung aller gesehenen Beiträge aus 2024 erneut auf Letterboxd vorliegt, folgen nun von diesen meine zehn favorisierten Filme des Jahres:


10. Natsu e no tunnel, Sayonara no deguchi (Taguchi Tomohisa, J 2022): In einem Jahr ohne Animationsfilme von Hosoda oder Shinkai ist Natsu e no tunnel, Sayonara no deguchi [The Tunnel to Summer, the Exit of Goodbyes] eine willkommene Alternative, wenn zwei Jugendliche in ihrem Streben nach Veränderung aneinander Halt finden. Die Bewältigung von Trauer und Schuld ist Kern der Geschichte, verbunden mit der moralischen Frage, was man für seinen Herzenswunsch zu opfern gewillt ist. “Please wait a moment”, heißt es im Film mehrmals. Eine Anweisung, die man nur zu gerne befolgt. 

9. Daaaaaalí! (Quentin Dupieux, F 2023): Daaaaaalí! ist ein Traum von einem Film, in welchem Quentin Dupieux seinen üblichen absurden Humor ganz in den Dienst des spanischen Surrealisten stellt. Der wird kurzerhand von sechs verschiedenen Darstellern gespielt, die im Verlauf das von Anaïs Demoustier angestrebte Interview kapern, die Biografie über sich selbst zum Meta-Werk über den Versuch, ein biografisches Interview zu drehen, verkehren. Gewitzte Kommentare über Urheberrecht und den echten Wert von Kunst gibt es obendrauf. Das Ergebnis ist wahrlich außergewöhnlich. 

8. Joker: Folie à Deux (Todd Phillips, USA/CDN 2024): Über eine Milliarde Dollar spielte vor fünf Jahren Joker als Mashup aus Scorsese-Filmen und DC Comics ein – in dessen Fortsetzung Joker: Folie à Deux hält Regisseur Todd Phillips nun den Fans den Spiegel vor, inszeniert das Sequel als Abrechnung mit toxischen Fangemeinden. Die sind wie die Welt von Gotham selbst an der eigentlichen Hauptfigur gar nicht interessiert, sondern an deren destruktivem Alter Ego. Joker: Folie à Deux geht mit sich selbst ins Gericht und macht dabei mit dem Publikum kurzen Prozess. That’s entertainment! 

7. La Chimera (Alice Rohrwacher, I/F/CH/TR 2023): Der Wunsch, sich mit dem Schicksal anzulegen, treibt in Alice Rohrwachers rustikal-charmantem La Chimera den abgewrackten britischen Archäologen Arthur an, der sich inzwischen im ländlichen Italien als Grabräuber etruskischer Artefakte verdingt, wo er nach einer abgesessenen Haftstrafe kurzerhand zurückkehrt. Welche Bedeutung haben diese verloren geglaubten Gegenstände, die an Vergangenes erinnern? Und welche wiederum Erinnerungen, die wir nicht bereit sind, zu verlieren? La Chimera ist ein Film von unschätzbarem Wert. 

6. Cuando acecha la maldad (Demián Rugna, RA/USA 2023): In Demián Rugnas Cuando acecha la maldad [When Evil Lurks] scheint dämonische Besessenheit fast das natürlichste der Welt zu sein, wenn zwei Brüder wider Willen Teil einer übernatürlichen Bedrohung für ihre Gemeinde werden, als sich das Böse nebenan einnistet. Rugna inszeniert seinen Horror-Film atmosphärisch dicht und mit einer derartigen Kompromisslosigkeit, dass sich keine Figur in irgendeiner Szene sicher sein kann, diese am Ende auch lebend zu verlassen. Eine beklommene Ungewissheit, die ansteckend ist. 

5. Aku wa sonzai shinai (Hamaguchi Ryûsuke, J 2023): Der Kapitalismus hält Einzug in den ländlichen Raum, wenn Hamaguchi Ryûsuke in Aku wa sonzai shinai [Evil Does Not Exist] den sozio-ökologischen Frieden einer Dorfgemeinschaft durch die Pläne eines Glamping-Projekts gefährden lässt. Die Figuren müssen dabei lernen, dass ihr Gegenüber keineswegs Bösewichter sind, vielmehr Ausbrüche von Gewalt oder Gefahr eher instinktive Reaktionen infolge von potenzieller Bedrohung. Hamaguchi lädt seine Figuren zum Nachdenken ein – und den Filmzuschauer gleich mit. 

4. La passion de Dodin Bouffant (Trần Anh Hùng, F/B 2023): Trần Anh Hùng erschafft mit La passion de Dodin Bouffant [Geliebte Köchin] einen Film, den man sich weniger auf der Zunge als auf dem Auge zergehen lassen muss. Erzählt wird die doppelte Liebe eines Gourmets und seiner Köchin – einerseits die Liebe dieser beiden Figuren füreinander, andererseits aber auch jene für die kulinarische Kunst, die Symbiose aus Geschmack und Genuss sowie die Komposition von Zutaten. Trần gelingt der köstlichste Film des Jahres und zugleich eine delikate, emotional sättigende Romanze. 

3. Notre corps (Claire Simon, F 2023): Zwischen Zuhause und dem Krankenhaus liegt der Friedhof, sagt Claire Simon in ihrer Dokumentation Notre corps [Our Body], was sie zwar als geografische Einordnung meint, im Verlauf der nächsten fast drei Stunden aber quasi auch zur Metapher wird. Die Französin erhält unwahrscheinlich persönliche Einblicke in ein öffentliches Krankenhaus und die medizinische Welt des weiblichen Körpers, der mit Schwangerschaften und Geburten, Karzinomen und Endometriose sowie Fragen von Geschlechtsidentitäten konfrontiert wird. C’est la vie.

2.
Tótem (Lila Avilés, MEX/F/DK/NL 2023): In Lila Avilés’ Tótem wird eine Geburtstagsfeier im Grunde zur Totenwache, wenn zwei Schwestern ihrem todkranken Bruder Tona ein vermutlich letztes Fest schmeißen wollen, das weniger dem Tag seiner Geburt gedenkt als vielmehr all den Tagen seines Lebens – und den Spuren, die dieses hinterlassen wird. Mittendrin ist dabei Tonas siebenjährige Tochter Sol, die wie ihre Tanten einen Prozess von Trauer und Traurigkeit durchläuft. Avilés entwirft ein warmherziges, melancholisches Familiendrama, das den Zuschauer nicht mehr loslässt. 

1. Gasoline Rainbow (Bill Ross IV/Turner Ross, USA 2023): Wie in ihren vorangegangenen Filmen gelingt es den Ross-Brüdern in Gasoline Rainbow auf ein Neues, dem Publikum faszinierende und menschliche Charaktere zu präsentieren. In diesem Fall eine Handvoll Gen-Z-Schulabsolventen, die einen Road Trip zur Pazifikküste anstreben, ehe sie sich dem Ernst des Lebens in der Welt der Erwachsenen opfern. Insofern wird die Reise des Quintetts praktisch zum Fanal und Abschied von der Sorglosigkeit. Ein Feel-Good-Film über die Jugend – jene von heute, aber auch die eigene. 

6. Dezember 2024

Tótem

Elaborar. 

Es ist naheliegend, dass man nur um etwas trauert, was für einen von Wert ist. “If we love, we grieve”, beschrieb es der US-Dichter Thomas Lynch. Sei es eine verlorene Liebe oder ein verlorenes Leben. Lila Avilés widmet sich in ihrem zweiten Film Tótem der Trauerbewältigung einer Großfamilie – obgleich die Person, die sie beweinen, noch gar nicht gestorben ist. Tona (Mateo García Elizondo) ist 27 Jahre alt und scheinbar unheilbar krank. An seinem Geburtstag, vermutlich den letzten, den er erleben wird, wollen ihm seine ältesten Schwestern eine Feier widmen. Eine Geburtstagsfeier, die zugleich eine Totenwache ist. Tona steht dabei weniger im Fokus als seine Familie, allen voran seine sieben Jahre alte Tochter Sol (Naíma Sentíes).

Der Film beginnt relativ losgelöst, wenn wir Sol und ihre Mutter Lucía (Iazua Larios) auf dem Weg zu den Feiervorbereitungen begegnen. Erst einmal im Elternhaus von Tona angekommen, legt sich ein Schleier von Schwermut über die Bilder. “If things were bad before, they’re far worse now. It makes me so fucking sad, because I can’t control it”, beschreibt eine Frau, die bei Sols Großvater (Alberto Amador) in Therapie ist, diesem in einer Sitzung die Probleme in ihrem Liebesleben. Könnte aber im Grunde auch der Siebenjährigen aus der Seele sprechen. Die Begegnung mit ihrem Vater wird hinausgezögert, begründet damit, dass dieser sich ausruhen müsse. Wie verschiedene Einblicke zeigen, ist das Leben für Tona zur Last verkommen.

Für Sol dürfte es die erste Konfrontation mit dem Konzept Tod sein, auch wenn sie über Fragen herausfindet, dass vor ihrem Vater schon dessen Mutter in demselben Zimmer dem Ende entgegenblickte. Dass Tona mit 27 Jahren extrem jung ist, mag die Verarbeitung seines designierten Ablebens noch komplizierter machen, speziell für seine Tochter. Dass Tona seinen letzten Tagen entgegenblickt, ist weniger der Krankheit geschuldet, als der Tatsache, dass die Familie finanziell alle Möglichkeiten für seine Behandlung ausgeschöpft hat. Selbst beim Gehalt für seine aufopferungsvolle Pflegerin Cruz (Teresita Sánchez) ist man hinterher, gleichwohl Tonas älteste Schwester Alejandra (Marisol Gasé) Geld für eine „Exorzistin“ übrig hat.

“Look at these women crying. That’s a lot of sadness, a lot of pain”, stellt Letztere beim Anblick von Bildern an den Wänden fest, die jene, die Tona selbst malte, wieder verdrängt haben. Auch diese Feststellung lässt sich auf die Frauen in Tonas Leben transferieren, von Sol und Alejandra über Cruz, Lucía oder seine zweitälteste Schwester Nuri (Montserrat Marañón). In der Tat ist Tótem ein unwahrscheinlich warmherziger und liebevoller Blick ins Leben dieser mexikanischen Großfamilie, in der Eltern an ihren Kindern verzweifeln und diese von ihren Erzeugern genervt sind. Aber ebenso ein Film von teils unerträglicher Traurigkeit, gerade in all jenen Momenten, wenn Naíma Sentíes mit stummem Blick versucht, die Dinge zu verarbeiten.

Besonders das Mädchen spürt eine Ohnmacht, vor der aber auch Nuri nicht gefeit ist. Avilés gelingt es, die Melancholie des Ganzen immer wieder aufzubrechen, meist dadurch, vom Tod aufs Leben zu schwenken, in Form von der nächsten Generation mit Sols Cousins und Cousinen, die selbst im Gegensatz zu der Siebenjährigen eher peripher von dem erstickenden Wehmut im Haus beeinträchtigt scheinen. Sentíes ist hierbei das Herzstück des Films, geschickt das Spiel zwischen Tränen und Lachen beherrschend. Doch das ganze Ensemble bringt die Figuren glaubwürdig zum Leben, vielleicht mit Abstrichen von den späteren Partygästen und Tonas anderen beiden Geschwistern, die weniger integriert wirken als Alejandra und Nuri.

Tótem ist ein Film, der sehr nah dran an seinen Charakteren ist, einerseits aufgrund des Bildformats (1.33 : 1), andererseits, da er Sol, Tona oder Nuri in Momenten auf die Pelle rückt, die für diese sehr persönlich sind. Seine Welt wirkt somit sehr klein, ist aber auch sehr groß, da es stets noch einen weiteren Raum im Haus zu erkunden gibt oder einen Garten, der neue Welten öffnet. Lila Avilés erzählt auf berührende Weise davon, Loszulassen, während man noch mitten in der Umarmung steckt. Manchmal gebe es Dinge, die man sehen möchte, aber dies nicht möglich ist, sagt Tona später Sol, als diese endlich zu ihm vordringen darf. Aber sie würden, so Tona, einen dennoch nicht loslassen. Genauso wenig wie Tótem den Zuschauer.

7/10

7. September 2024

Gasoline Rainbow

That's a baby fucking horse. 

Freiheit kann etwas Erdrückendes sein. Wenn einem alles offen steht, aber die Orientierung fehlt. Das Ende der Schulzeit gilt oft als befreiend. Keine Zwänge mehr, endlich ist man sein eigener Herr. Doch meist legt man die eine Zwangsjacke ab, um dafür eine andere überzustreifen. In Gasoline Rainbow unternehmen die fünf Freunde Makai, Nichole, Nathaly, Micah und Tony nach dem Schulabschluss einen Road Trip: Vom Mittleren Westen der USA wollen sie in einem Van die 513 Meilen zum Pazifik überbrücken, um dort das Meer zu sehen. “One last fun adventure”, erläutert Nathaly die Beweggründe des Quintetts. “’cause when we get back, we all have to get fucking jobs.” Ihre Freiheit hat somit ein kurzes Haltbarkeitsdatum. 

Bill Ross IV und Turner Ross liefern wie in ihren Vorgängerfilmen Bloody Nose, Empty Pockets und Tchoupitoulas in Gasoline Rainbow erneut ein „Amalgam aus Erlebnissen“, wie Turner Ross jene Vermischung aus quasi-inszenierten dokumentarischen Momenten einmal nannte, denen sich er und sein Bruder widmen. Laiendarsteller werden mit einem gewollten Szenario oder einer Umgebung konfrontiert, können in dieser entweder sie selbst sein oder aber eine gekünstelte Version von sich. Das Ergebnis ist fabriziert und authentisch zugleich – keine Dokumentation tatsächlicher Momente, aber eine Darbietung von Momenten, die sich real anfühlen. Der Film gebiert sich als Amalgam aus Erlebnissen, indem er ähnliche des Zuschauers evoziert.

Im Kern handelt es sich um einem Film über die Jugend – die Jugend von heute, also Gen Z, aber auch die Jugend, die jedem einst innegewohnt hat. Womit sich Makai, Micah, Nichole, Nathaly und Tony konfrontiert sehen, sind keine Herausforderungen für ihre spezifische Generation, sondern jene, denen sich alle auf ihrem Weg von Kindes- ins Erwachsenenalter gegenübersehen. Die Freiheit des Schulabschlusses mündet in den Ketten des Kapitalismus, der Notwendigkeit einer Arbeit. Man verlässt das eine Gehege und landet im nächsten. “You can't escape everything”, ist Micah bewusst. “You kinda just have to deal with it.” Aber noch nicht jetzt, weshalb sich das Quintett aufmacht, zu einem letzten Hurra auf die Jugend.

“I stole the right to live, as if there was no time”, singt Michael Hurley in  „I Stole the Right to Live“, das in einer Szene auf der Tonspur zu hören ist. In ihrem Van können die fünf Freunde sie selbst sein. Sie gebären sich als Außenseiter, nicht unähnlich zu den Protagonisten in Bloody Nose, Empty Pockets, die ebenfalls eine Nischengruppe der Gesellschaft repräsentierten. Auch wenn sie nicht zwingend aus dem Rahmen gefallen wirken. Der Road Trip erlaubt es ihnen, die Entscheidungen, die sie zu treffen haben, noch etwas hinauszuschieben. Auf ihrem Weg gen Portland treffen sie andere Figuren, die womöglich einst ähnlich wie die Fünf vor einer Kreuzung auf der Straße des Lebens standen, aber unterschiedliche Abzweigungen nahmen.

Da passt es ins Bild, das später in einer Szene ein Millennial mit Nichole gemeinsam Howard Shores „The Shire“ lauscht, repräsentieren die Hobbits aus The Lord of the Rings doch Sorglosigkeit und joie de vivre par excellence. Ebenso treffend wirkt es, dass die fünf jungen Erwachsenen die Teilnahme an einer „End of the World“-Party anstreben – diese aber nicht auffinden können. Das Ende ihrer Welt muss also buchstäblich verschoben werden. “We’ll see it and hear it when we see and hear it”, sinniert Gary, selbst eine Art Lost Boy aus Nimmerland, dem sie in Portland begegnen und der sie zu der besagten Feier lotsen soll. Als sie diese letztlich aufspüren, zeigt sich, dass sich diese doch ganz anders darstellt, als von ihnen gedacht.

Man kann sich mit den Figuren in Gasoline Rainbow identifizieren, da man ihre Ängste, Probleme und Hoffnungen nachvollzieht – gleichzeitig schenken die Laiendarsteller dem Publikum aber auch reale Einblicke in ihr eigenes Leben, zum Beispiel wenn Nathaly die Deportation ihres Vaters nach Mexiko reflektiert und wie sich dies auf ihr Familiengebilde ausgewirkt hat. “In the same old town, I saw your face / You seemed so sad, I felt the same”, heißt es im Refrain aus „Changes“ von Antonio Williams und Kerry McCoy, was sich beinahe wie eine Hymne für diesen Film anschickt. Nathaly, Nichole, Makai, Micah und Tony sind sympathisch und gewinnend wie Gasoline Rainbow selbst. Humanistisches Kino in seiner einnehmendsten Art.

7.5/10

7. Januar 2024

Filmjahresrückblick 2023: Die Top Ten

Film as such is dead.
 
(Rámon, Los delincuentes) 

Und so sieht man sich wieder, hier bei Symparanekromenoi. Man sollte eigentlich meinen, wenn man diese Filmjahresrückblicke seit 16 Jahren macht, dass man ein wenig Routine lernt, aber auch im vergangenen Jahr war es mal wieder so, dass erst gegen Ende langsam etwas Tempo reinkam in das Bestreben, sich ausgiebiger dem Film-Portfolio des Jahreskalenders zu widmen. Immerhin wurde dem Blog zeitweise neues Leben eingehaucht, in Form von gleich zwei Filmbesprechungen, die ich zuvor einerseits wegen der inzwischen zu knappen Zeit für das Verfassen der Texte, andererseits wegen der kaum noch nennenswerten Resonanz eingeschläfert hatte. Was mit dem obligatorischen Filmjahresrückblick aber selbst nichts zu tun hat. 

Den will ich auch dieses Jahr wie gehabt dazu nutzen, persönlich auf 2023 zurückzuschauen, aber auch einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Auch für mich war dabei erstaunlich, dass ich mich letztlich neun Mal im Kino wiederfinden sollte – eine Verdreifachung des Vorjahreswertes, wenn auch keineswegs auf dem Niveau von vor der Pandemie (was jedoch nicht so sehr an Corona lag, als an einem Arbeitsplatzwechsel seither). Wo ich das Niveau nicht halten konnte, war bei der Zahl der gesichteten Filme, eben auch, weil ich erst zum Winterbeginn anfing, meine Aufmerksamkeit der Klasse von 2023 zu widmen. So standen am Ende letztlich 140 Filme aus dem vergangenen Jahr zu Buche, die ich sichtete – 15 weniger als in 2022 also.

Die Top Ten der erfolgreichsten Filme 2023 komplettieren vor allem Fortsetzungen.
Den neun Kinobesuchen zum Trotz lockte mich das Kino-Event schlechthin dabei nicht hinterm Ofen hervor: „Barbenheimer“ holte ich – separat – später zuhause nach. Superhelden-Müdigkeit machte sich in 2023 breit, sodass es letztlich Greta Gerwigs Barbie war, der mit einem weltweiten Einspiel von rund 1,4 Milliarden Dollar zum erfolgreichsten Film des Jahres avancierte. Damit konnte sich die Puppen-Verfilmung knapp vor The Super Mario Bros. durchsetzen, der mit einem Einspiel von etwa 1,3 Milliarden Dollar zum Klassenschlager mutierte. Nicht minder überraschend ging der dritte Platz an Christopher Nolans Biopic Oppenheimer, dem am Ende mit 950 Millionen Dollar nicht viel fehlte, um die Milliarden-Grenze zu reißen.

Mit Pixars Elemental außen vor, sind es erneut vor allem Sequels wie Spider-Man: Across the Spider-Verse, die für das Klingeln der Kassen sorgten. Oder auch nicht. Gegenüber 2022 spielten die übrigen sieben erfolgreichsten Filme nämlich in Summe 20 Prozent weniger ein. Guardians of the Galaxy Volume 3 konnte ein desaströses Jahr für Disney noch etwas herausreißen, dass sich die Live-Action-Adaption von The Little Mermaid, Elemental und Ant-Man and the Wasp: Quantumania unter den zehn Kassenmagneten wiederfinden, sollte wie bei Fast X oder Mission: Impossible – Dead Reckoning (der über ein Viertel weniger einbrachte als Fallout) nicht irritieren – sie alle blieben hinter den finanziellen Erwartungen zurück.

Viele Zuschauer suchten den Gang ins Kino aka das Empire of Light.
Die Erwartungen weitestgehend für Fans erfüllen konnte derweil das zweite von drei Abenteuern von Miles Morales in Spider-Man: Across the Spider-Verse, der gegenüber dem Oscarprämierten Vorgänger über 80 Prozent zulegte und bei den Nutzern der Internet Movie Database (IMDb) mit einer Wertung von 8.6/10 den populärsten Film 2023 markiert (Stand: 6. Januar 2024). Ihm folgen zwei weitere von Kinobesuchern geschätzte Beiträge des Jahres: Christopher Nolans episches Trinity-Biopic Oppenheimer, das auf eine Wertung von 8.4/10 kommt und damit der zweitbeliebteste Film des Jahres ist, sowie Tohos Godzilla Minus One auf dem dritten Rang und ebenfalls einer Bewertung von 8.4/10, aber bei weniger Stimmabgaben.

Wo Barbie hier nicht aufs Treppchen steigen konnte, schwang sich die Matel-Verfilmung aber dennoch auf, die weltweiten Kinokassen an sich zu reißen. In den USA und auch in Deutschland zog Barbie die Zuschauer an, derer fast sechs Millionen suchten dabei hierzulande das Kino auf. Auch auf der iberischen Halbinsel war Barbie in Spanien und Portugal der Jahressieger, genauso wie im Vereinigten Königreich und seinen vormaligen Kolonien Australien und Neuseeland, ebenso in Südafrika, Island, Tschechien, Bulgarien, Polen, der Schweiz sowie in Brasilien und in Argentinien. Dagegen reizte Oppenheimer – laut Box Office Mojo – am meisten die Besucher in Schweden, Belgien, Dänemark, Österreich, der Türkei und Saudi-Arabien.

Jahressieger: Fast sechs Millionen Deutsche strömten für Barbie in die Kinosäle.
Das „Barbenheimer“-Phänomen zeigte sich augenscheinlich in Norwegen, Kroatien, Slowenien, Rumänien, Griechenland, Finnland und Ungarn, wo Barbie knapp vor Oppenheimer stand respektive vice versa in den Niederlanden und Slowenien, wo es umgekehrt der Fall war. The Super Mario Bros. wiederum setzte sich in Japan, Frankreich, Israel und der Ukraine sowie in Mittel- und Südamerika (Mexiko, Bolivien, Peru, Ecuador, Uruguay, Chile, Kolumbien, Paraguay, Venezuela) durch, während scheinbar Fast X den ersten Platz in Thailand und Nigeria für sich beanspruchte. Nationales bevorzugten dafür Italien (C’è ancora domani), China (Gu zhu yi zhi), Russland (Cheburashka), Indien (Jawan) sowie Südkorea (Seoul-ui bom).

Zu den sonstigen Gewinnern gehört speziell Greta Gerwig, die mit Barbie den erfolgreichsten Film einer Frau aller Zeiten ablieferte und auch finanziell von den Milliarden-Einnahmen profitieren dürfte. Christopher Nolan holte mit Oppenheimer ebenso das Maximum heraus. Nicht beklagen werden sich vermutlich auch Daniel Kwan und Daniel Scheinert die gleich drei der sieben Oscars für Everything Everywhere All at Once im März abräumten. Dort staubte Brendan Fraser im Rahmen seines Karriere-Comebacks in The Whale ebenfalls einen Oscar ab. Universal wird sich freuen, dieses Jahr das finanziell einträglichste Studio zu sein und somit vor Disney zu stehen, was nicht zuletzt auch auf The Super Mario Bros. zurückzuführen ist.

Beste Darstellerleistungen: Hong Chau, Abby Ryder Fortson, Benoît Magimel.
Was die schauspielerischen Leistungen anbelangt, hat Brendan Fraser sicher eine für sein Talent beachtliche Darbietung in The Whale gebracht, mich selbst beeindruckte jedoch dort Hong Chau in ihrer Nebenrolle deutlich mehr. Auch in Kelly Reichardts Showing Up konnte sie überzeugen, schaute zudem in Wes Andersons Asteroid City vorbei. Stärker als Brendan Fraser blieb mir bei den Männern dafür Benoît Magimel in Erinnerung, der in Albert Serras Pacifiction Anflüge von Gérard Depardieu zeigt, auch in Revoir Paris überzeugte. Bei den Jungdarstellern vermochte Abby Ryder Fortson quasi im Alleingang Kelly Fremon Craigs Are You There God? It’s me, Margaret. zu tragen, womit sie sich gegen Ebla Mari in The Old Oak durchsetzte. 

Namhafte Regisseure lieferten im Vorjahr wieder Werke ab, darunter Steven Spielberg mit The Fabelmans, Miyazaki Hayao mit Kimitachi wa dô ikiru ka [The Boy and the Heron] oder Todd Haynes mit May December. Viele große Regisseure verdingen sich aber nunmehr verstärkt für Streaming-Anbieter, dieses Mal David Fincher (The Killer) für Netflix, das Martin Scorsese an AppleTV+ verlor, wo er Killers of the Flower Moon inszenierte so wie Ridley Scott, der für Apple Napoleon ins Gefecht schickte. Ein Trend, der wohl leider zunehmen dürfte. Wie dem auch sei, Zeit, einen Abschluss zu finden und auf meine persönliche Top Ten für das Jahr 2023 zu sprechen zu kommen (mit dem gesamten Ranking aller 140 Filme wie gehabt auf Letterboxd):


10. L’innocent (Louis Garrel, F 2022): Louis Garrel inszeniert L’innocent [The Innocent] als einen durchaus gewitzt geschriebenen Mix aus Krimi- und Beziehungskomödie, wobei ein Sohn aus Liebe zu seiner Mutter ihrem aktuellen Ehemann bei einem Überfall aushelfen muss. Dabei stiehlt ihm Noémie Merlant immer wieder die Show mit ihrer enthusiastischen Bereitschaft zur Verbrechensausübung in diesem kurzweiligen Heist-Abenteuer. Die Dynamik der drei Hauptfiguren miteinander weiß zu gefallen, auch wenn der Film hier letztlich unnötig in bekannte Muster verfällt.

9.
Monica (Andrea Pallaoro, USA/I 2022): Die Vergangenheit holt die Hauptfigur in Andrea Pallaoros Monica ein, wenn eine Transfrau zurück in ihr Elternhaus kehrt, um bei der Pflege ihrer sterbenskranken Mutter zu helfen. Das Ergebnis ist thematisch dicht, übertüncht auch die nur rudimentär gezeichneten Figuren. Monica gerät dabei überzeugend, weil man viel aus Situationen heraus- respektive hineinlesen kann – oder gar muss. Pallaoro traut dem Publikum dies zu und Patricia Clarkson veredelt dies dem Zuschauer dann mit der fraglos emotionalsten Performance des Jahres.

8.
Pacifiction (Albert Serra, F/ES/D/P 2022): In Pacifiction vermag Albert Serra den Eindruck zu erwecken, dass unheimlich viel passiert, während zugleich augenscheinlich nichts geschieht. Über zweieinhalb Stunden hinweg erzeugt der Regisseur eine Anspannung der lockersten Sorte, wenn eine scheinbar machtlose Figur versucht, auf einer in einem Meer aus Paranoia treibenden Insel (s)eine Daseinsberechtigung einzufordern. Das Ergebnis ist somit eindeutig uneindeutig, während Serra über dieses vermeintliche Paradies faszinierend die subtile Gefahr von totaler Vernichtung wabern lässt.

7. Suzume no Tojimari (Shinkai Makoto, J 2022): Im Gegensatz zu seinen Vorgängern gewichtet Shinkai Makoto in Suzume no Tojimari [Suzume] dieses Mal das Handlungselement deutlich stärker, was dem Film nicht unbedingt immer vollends zum Vorteil gereicht. Er ist eigentlich dann am stärksten, wenn er sich auf die Figuren und ihre Interaktionen fokussieren kann, statt sie buchstäblich Türen traumatischer Erlebnisse schließen zu lassen. Nichtsdestotrotz weiß Shinkai auch hier berührende und humorvolle Momente zu schaffen, wenn eine Waise lernt, auf eigenen Beinen zu stehen.

6. Beurokeo (Kore-eda Hirokazu, ROK 2022): Niemand ist mehr vom Konzept der Familie fasziniert als Kore-eda Hirokazu. Nach La vérité zieht es den Japaner hierfür erneut ins Ausland, diesmal ins Nachbarland Südkorea wo wie in Manbiki kazoku [Shoplifters] in Beurokeo [Broker] nicht miteinander verwandte Figuren zu einem Familienbündnis zusammenschließen lässt. Sie alle eint das Gefühl einer erlebten Abweisung seitens der Gesellschaft; Akzeptanz und Liebe erfahren sie nur von einander. Das Ergebnis ist zwar nicht auf dem Level seines japanischen Œuvres, aber dennoch einnehmend.

5. All These Sons (Joshua Altman/Bing Liu, USA 2021): Aus der Vergangenheit lernen, um eine bessere Zukunft zu gestalten – das ist die Motivation der Charaktere in Joshua Altmans und Bing Lius Dokumentation All These Sons über die Rehabilitation von Gang-Mitgliedern aus Chicago und ihren Versuch, dem Kreislauf von Gewalt und Schießereien zu entkommen. Der Film folgt der Tradition von Steve James’ Meisterwerk The Interrupters, legt den Fokus aber auf die Suche nach Vergebung und Erlösung, die nur möglich erscheinen, wenn sich die Betroffenen selbst auch offen dafür zeigen.

4. Beau Is Afraid (Ari Aster, USA/UK/FIN/CDN 2023): Herrlich absurd fällt in Beau Is Afraid das Unterfangen von Ari Aster aus, die ganze menschliche Existenz mit all ihren Extremen, Bedürfnissen und Sorgen in eine Laufzeit von drei Stunden zu packen. Was hält das Leben einem offen und wie findet man sich in ihm wieder – Fragen, die zu beantworten Joaquin Phoenix’ Figur eigentlich versucht, zu vermeiden. Unterteilt in quasi vier Segmente reüssiert die erste Hälfte des Films dabei mehr als die zweite Hälfte, aber besser als die ersten 40 Minuten kann Kino eigentlich kaum mehr werden.

3. Syk pike (Kristoffer Borgli, N/S/DK/F 2022): Man kann als Zuschauer aus Kristoffer Borglis Syk pike [Sick of Myself] mitnehmen, was man möchte. So vermag der Film einerseits eine beißende Satire auf den gegenwärtigen Gen-Z-Narzismus zu sein, andererseits aber auch ein demaskierendes Porträt einer toxischen Beziehung zweier Tweens, die sich in einem Wettstreit untereinander nach Aufmerksamkeit zu verlieren drohen. Wie nehmen wir unsere Umgebung wahr und wie werden wir wahrgenommen von unserer Umgebung? Syk pike ist wunderbar bitterböse und durchweg vergnüglich.

2. De Humani Corporis Fabrica (Lucien Castaing-Taylor/Verena Paravel, F/CH/USA 2022): Geradezu hypnotisch verfolgt man die Einblicke, die einem Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel in ihrer jüngsten Dokumentation in den menschlichen Körper bieten. De Humani Corporis Fabrica zeigt die Geburt und den Tod, während die Kamera in Harnleiter eindringt, an Gehirnen und Augen operiert wird, Tumore untersucht und Wirbelsäulen stabilisiert werden, derweil Krankenschwestern die dünne Personaldecke lamentieren und ein Chirurg beklagt, heute noch gar keine Erektion gehabt zu haben.

1. Fumer fait tousser (Quentin Dupieux, F/MC 2022): Quentin Dupieux gibt mit einer Teambildungsmaßnahme der besonderen Art  Fumer fait tousser [Smoking Causes Coughing] den Rahmen, wenn Verbrechensbekämpfer im Super-Sentai-Stil an ihrem Zusammenhalt arbeiten müssen, so denn sie die Welt retten wollen. Und sich dabei zunehmend in Vignetten verlieren, die repräsentativ für die verstärkte Abkopplung der Gesellschaft von sich selbst stehen. Dies alles ergibt eine grandios überzeichnete Blödelei, die wunderbar gespielt und urkomisch ist – wenn man mit dem Humor etwas anfängt.

21. Juli 2023

Fumer fait tousser [Smoking Causes Coughing]

All’s well that ends well.

Obschon Superhelden außergewöhnliche Personen darstellen, gebären sich Superhelden-Filme auch dank des ermüdend-repetitiven MCU heutzutage mehr als gewöhnlich. Da braucht es schon ein wenig Kreativität, um diesem Genre-Golem wieder Leben einzuhauchen. Bei Quentin Dupieux ist man hier sicher an der richtigen Adresse, ist der Franzose doch alles andere als unoriginell. In Fumer fait tousser – in Englisch: Smoking Causes Coughing – inszeniert er seine ganz eigene Version der „Avengers“. Das Quintett der Tobacco Force schlägt sich buchstäblich jede Woche mit extraterrestrischen Widersachern, von anthropomorphen Reptilien bis hin zu Lézardin (Benoît Poelvoorde), der plant, bis zum Jahresende die Erde zu zerstören.

Eine ernstzunehmende Bedrohung, weshalb es umso beunruhigender ist, dass der soziale Zusammenhalt innerhalb der Tobacco Force nicht gerade zum besten bestellt ist. Nur mit Ach und Krach gelang es Teammitglied Mercure (Jean-Paul Zadi) im letzten Konflikt noch, seine Spezialkraft freizuschalten. Weshalb Tobacco-Force-Leader Chief Didier (Alain Chabat), eine sprechende Ratte, kurzerhand seine Truppe zu einer Arbeitsklausur-Woche verdonnert, um an ihrer Teamfähigkeit zu arbeiten. Dort beginnt sich das Team abends, pseudo-gruselige Lagerfeuer-Geschichten zu erzählen, während Mitglied Nicotine (Anaïs Demoustier) mit ihren aufwellenden romantischen Gefühlen für Chief Didier klarzukommen versucht.

Fumer fait tousser ist eine charmante Persiflage auf das Super-Sentai- und Tokusatsu-Genre mit spürbar französischem Anstrich. Eingewoben in das große Ganze werden hierbei die Lagerfeuer-Erzählungen als amüsante Vignette-Elemente, zum einen zwei Pärchen, die ein Wochenende in einem Ferienhaus verbringen wollen, ehe die Entdeckung eines meditativen altmodischen Huts die Ereignisse auf den Kopf stellt. In einer anderen Erzählung steht wiederum ein Arbeitsunfall in einem Sägewerk im Fokus und seine Folgen innerhalb eines Familiengeflechts. Was die vermeintlichen Gruselgeschichten mit der Haupthandlung eint, ist die fortschreitende Abkopplung innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Menschen.

Der Film thematisiert dies an vielen Stellen, beispielsweise wenn Team-Leader Benzène (Gilles Lellouche) dem Kollegen Méthanol (Vincent Lacoste) am Rande eines Kampfes von seinem Malheur berichtet, in Anwesenheit eines Veganers über Salami philosophiert zu haben. Auch die Kommunikation des Teams mit seinem Roboter Norbert (Ferdinand Canaud) wirkt zunehmend „lost in translation“, während Nicotine falsche Signale von Chief Didier zu empfangen scheint und nur augenscheinlich von ihrer Kameradin Ammoniaque (Oulaya Amamra) getröstet wird. Auch die Paare in der Ferienhaus-Vignette oder Sägewerk-Leiterin Tony (Blanche Gardin) sowie ihre Schwester und Neffe Michaël (Anthony Sonigo) haben Gesprächsbedarf.

Da passt es ins Bild, dass das Team in seinem Untergrund-Bunker im dortigen Kühlschrank einen ganzen Supermarkt inklusive Bedienung vorfindet, an der später Méthanol vorbeireden wird. “What am I doing with these people?”, fragt sich Agathe (Doria Tiller) nach dem Aufsetzen des Denkhutes in Hinblick auf ihre Beziehung und die gemeinsamen Freunde. Und im Grunde könnte sich das auch jedes Mitglied der Tobacco Force beim Anblick von einander fragen. Fumer fait tousser bewegt sich dabei stets in gewisser Weise auf einer Metaebene, wenn Agathes Mann ihr sagt “You can’t wear that dumb thing all day”, während sich gleichzeitig die Tobacco Force nie ihrer Super-Sentai-Anzüge entledigt – nicht einmal zum Schlafen.

“I still think it’s crap”, kommentiert an einer Stelle ein junges Mädchen (Thémis Terrier-Thiebaux) einen Videoclip von Benzène in Aktion – und könnte damit in gewisser Weise auch Dupieux’ Film selbst meinen. Die Tobacco Force ist dabei ein buntes Gemisch aus scheinbar ausgebrannten und wiederum jungen und dynamischen Mitgliedern, die zwar wöchentlich die Welt retten, dann aber dennoch verschreckt sind, wenn sie nachts ein Geräusch im Gebüsch hören. “Let me tell you something life-changing”, klärt Benzène zu Beginn einen jungen Fan auf. Und lebensverändernd sind auch die Erlebnisse, denen sich alle Figuren gegenübersehen, insofern sie es nicht schaffen, wieder eine gemeinsame Linie der Kommunikation zu finden.

Entsprechend dem Tokusatsu-Genre sind die Effekte entsprechend gestaltet. Das Grundgerüst wirkt wie ein Mash-up aus Power Rangers, denen Marvin the Paranoid Android aus A Hitchhiker’s Guide to the Galaxy an die Seite gestellt wird. Chief Didier ist ein Highlight für sich, als unentwegt grünen Schleim sabbernde und offenbar notgeile Puppe, während das gesamte Ensemble durch die Bank in seinen Rollen zu überzeugen vermag, obgleich manche von ihnen wie Anaïs Demoustier oder Jean-Paul Zadi etwas bessere Szenen erhalten als ein Vincent Lacoste. Auch die Vignetten-Darsteller gefallen, allen voran Adèle Exarchopoulos untermauert ihr komödiantisches Talent, aber auch Raphaël Quenard holt das Maximum aus seinem Part. 

Aller Argumentation zum Trotz ist Fumer fait tousser natürlich kein allzu tief schürfender oder nachdenklich stimmender Film, der dem Publikum eine bestimmte Botschaft subtil mitgeben möchte. Primär ist es eine überzeichnete Blödelei, deren Vergnügungsfaktor davon abhängt, wie sehr man sich mit dem Humor von Quentin Dupieux arrangiert. Hilfreich ist da, dass sich die Tobacco Force durchweg selbst ernst nimmt, auch wenn es die übrigen Figuren nur bedingt tun. Dass der Film nur knapp 80 Minuten lang ist, trägt seinen Teil zur Kurzweil bei, verleiht dem Ganzen den Charme einer längeren Sitcom-Folge. Unabhängig davon, wie viel Spaß man mit Fumer fait tousser hat, dürfte eins klar sein: Außergewöhnlich ist der Film allemal.

8.5/10

20. März 2023

Beurokeo [Broker]

Thank you for being born.

Seine Familie, so besagt es ein Sprichwort, kann man sich nicht aussuchen. Hiervon können die Figuren in Kore-eda Hirokazus Filmen wie Aruitemo aruitemo [Still Walking], Umi yori mo mada fukaku [After the Storm] oder La vérité ein Lied singen, hadern Eltern doch mit den Personen, zu denen ihre Kinder geworden sind und umgekehrt die Kinder mit jenen Charakteren, die ihre Eltern schon immer waren. Zuletzt hatte Kore-eda aber mit Manbiki kazoku [Shoplifters] eine neue Perspektive auf dieses Familienbild geworfen, war jene Familie doch weniger auf Blut basiert, als vielmehr ein Zusammenschluss von Gleichgesinnten. Eine Behelfs-Familie ist es auch, der wir in Beurokeo [Broker] begegnen, den Kore-eda in Südkorea inszeniert hat.

In diesem verkaufen die Kleinkriminellen Sang-hyun (Song Kang-ho) und Dong-soo (Gang Dong-won) Neugeborene, die sie aus einer Babyklappe stehlen, an Pärchen, die selbst keine Kinder haben können. Darunter auch Woo-song, den dessen Mutter, die Prostituierte Moon So-young (Ji-eun Lee), in einer regnerischen Nacht vor einer Babyklappe aufgibt – nur um tags darauf doch nach ihrem Sohn zu suchen. Kurzerhand holen Sang-hyun und Dong-soo also die junge Mutter mit ins Boot und machen sie zur Partnerin in ihrem Geschäft. Gleichzeitig sind die beiden Polizistinnen Su-jin (Bae Doona) und Lee (Lee Joo-young) dem Trio auf der Spur – und dabei nicht die einzigen Beamten, die sich wegen So-young in Ermittlungen wiederfinden.

“I’ll come back for you” hatte So-young dabei in einer Notiz Woo-song versprochen. Kein Einzelfall, erzählt ihr später Dong-soo. Aber nur eine von 40 Müttern würde tatsächlich wieder zurückkehren. Dong-soo weiß das nur zu gut, stammt selbst aus einem Waisenheim, in dem die Figuren später einen Zwischenstopp machen. Auch seine Mutter hatte ihm eine solche Notiz hinterlassen, sporadisch schaut er selbst nach Jahrzehnten noch in seinem Heim nach, ob sie inzwischen tatsächlich für ihn zurückgekehrt ist. Das Heim avancierte zum Zuhause, die anderen Kinder quasi zu einer ersten Ersatzfamilie. Dong-soo spricht dabei nicht von „zurückgelassenen“ oder „aufgegebenen“ Kindern, sondern sehr viel härter von „weggeworfenen“.

Auch Sang-hyun kennt nach eigenen Angaben “nothing but rejection” – er ist selbst Vater einer Tochter, die ihn aber scheinbar nicht in ihrem Leben haben will. Der junge Hae-jin (Seung-soo Im) aus Dong-soos Heim hätte gerne eine Familie, schließt sich kurzerhand dem Trio und Wong-soo an. Als Amoretten beschreibt Sang-hyun sich und Dong-soo gegenüber So-young, ihr Tun als Fürsorge, Dong-soo hingegen nennt es Schutz. Während die junge Mutter derartige Beschreibungen sarkastisch kommentiert, sind sie vom Kern nicht so weit weg, erwecken Sang-hyun und Dong-soo doch die Liebe zwischen kinderlosen Eltern und elternlosen Kindern, anstatt dass sie in Waisenhäusern zu jungen verbitterten Erwachsenen heranreifen.

Über So-youngs Hintergründe lernen wir wenig, immerhin, dass sie neben anderen Mädchen und jungen Frauen bei einer Dame unterkommt, die von allen „Mama“ genannt wird. Auch hier begegnet uns also wieder diese Form der Behelfs-Familie wieder, die So-young im Laufe des Films gegen eine andere solche eintauscht. “Let’s be happy with us”, begrüßt Sang-hyun eingangs Woo-song, dem er sich so erzieherisch widmet, wie er es bei seiner leiblichen Tochter nicht darf. Letztlich weitet sich diese Einladung über das Neugeborene hinaus aus, schließt auch dessen Mutter und Hae-jin ein. Es ist eine Sammlung von Abgelehnten, die erst durch- und miteinander die Wertschätzung erfahren, die ihnen zuvor lange verwehrt geblieben war.

Fehlende Wertschätzung ist zugleich etwas, das Ermittlerin Su-jin ihrem fürsorglichen Ehemann entgegenbringt, der sie und Lee bekocht oder mit frischen Klamotten versieht. Fehlende Wertschätzung erfuhr auch jene Ehefrau von So-youngs Freier, der zum Vater von Woo-song avancierte. Es handelt sich um C-Handlungsstränge, die Kore-eda noch in die Handlung verstrickt, denen sich das Drehbuch aber nicht wirklich widmet – ähnlich jenen Schulden, die Sang-hyun gegenüber einer Bande begleichen muss. Weniger wäre in Beurokeo mehr gewesen, zumal die Dramatisierung in die eigentliche Handlung im Grunde genommen gar nicht reinspielt, selbst wenn im Finale doch noch Zusammenhänge untereinander hergestellt werden.

Ähnlich unzureichend homogen gerät mit Abstrichen auch die Verortung nach Südkorea. Wie zuletzt La vérité sehr französisch ausfiel, gebiert sich Beurokeo durchweg koreanisch – was einerseits für Kore-eda Hirokazus Anpassungsfähigkeit an die fremden Kulturen spricht, andererseits fühlen sich seine beiden ersten ausländischen Filme aber zweifelsohne weniger „kore-edaesk“ an gegenüber seinem vorangegangenen japanischen Œuvre. Gewisse Elemente scheinen somit “lost in translation” und nicht übertragbar – da fügt sich gut ein, dass Bae Doona berichtet hat, dass sie das ins Koreanische übersetzte Drehbuch doch vorzog, im japanischen Original zu lesen, um alle Nuancen ihrer Figur und Dialoge korrekt erfassen zu können.

Beurokeo untersucht oberflächlicher als Manbiki kazoku oder Soshite chichi ni naru [Like Father, Like Son], wie ein Familienkonstrukt aussieht und sich losgelöst von Blutsbande zusammensetzen kann. Die Figuren sind weniger eine Einheit, als dass sie aneinander Halt finden, aber im Kern dann doch sehr auf sich fokussiert sind, während sie sich der Frage stellen müssen, was richtig und was falsch ist. Innerhalb seiner Filmografie markiert Beurokeo damit alles andere als Kore-edas Oberklasse, doch selbst ein eher gewöhnlicher Kore-eda ist im Vergleich mit dem, was sonst im Kino landet (oder mit Filmpreisen bedacht wird) noch höherrangig anzusiedeln. Sodass man dem Regisseur einen Zettel beilegen würde: I’ll come back for you.

7/10