Ewan McGregor würde sicher sagen:
“Hello there.” Wo sich Jahre früher mitunter zogen, vergehen sie mit fortschreitendem Alter immer schneller. Ehe man sich versieht, sind also zwölf Monate ins Land gezogen, ein Kalender- und Filmjahr damit zu seinem erneuten Ende gekommen. Hier im Blog gab es derweil keine Veränderungen, es blieb ein weiteres Jahr ohne Reviews, aus den bereits genannten Gründen, dass aufgrund etwaiger Verpflichtungen schlicht die Zeit fehlt. Zumindest für den traditionellen Jahresrückblick soll aber dann doch Raum sein, dieses Mal auch wieder etwas ausführlicher als
2021, nachdem die Corona-Pandemie im Frühjahr für beendet erklärt wurde (obschon sie bis heute munter weiter grassiert).
Die vermeintliche Rückkehr zur Normalität zeigt sich auch in meinem Filmkonsum, der im Vorjahr auf 106 Filme gefallen war, während ich aus dem aktuellen Filmjahr diesmal nun immerhin 155 Filme gesehen habe. Aufgrund der anhaltenden Pandemie jedoch wie gehabt zuvorderst in den eigenen vier Wänden und primär via iTunes, Mubi und Co., obschon ich doch auch in 2022 erneut drei Mal den Weg ins Kino fand (bzw. drei Werke aus dem Filmjahr im Kino sah, den Dritten nominell vergangene Woche und somit 2023), um mit
The Batman und
Avatar: The Way of Water lobgepreistem Bombast-Kino bzw. CGI-Technik-Spektakel beizuwohnen, aber ebenso mit Jerzy Skolimowskis
EO einem Arthouse-Liebling der Filmkritiker.
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Wie Marilyn Monroe in Blonde zog es das Publikum 2022 zurück ins Kino. |
Schaffte es im Vorjahr bereits
Spider-Man: No Way Home finanztechnisch an die Zeiten vor der Pandemie anzuknüpfen, so normalisierte sich die Lage an den Kinokassen weitestgehend in 2023. Als Retter des Kinos wurde im Sommer dabei Joseph Kosinskis Legacysequel-Remake
Top Gun: Maverick gefeiert, das mit Mach-10 jenseits eines Einspiels von 1,4 Milliarden Dollar flog. Was aber dennoch nur zu Platz 2 der ertragreichsten Filme des Jahres reicht, da James “King of the World” Cameron zum Jahresende nach 13 Jahren Produktionszeit
Avatar: The Way of Water veröffentlichte, innerhalb von rund einem Monat an Tom Cruises Karriere-Hit vorbeizog. Auf Platz 3 schaffte es Colin Trevorrows Trilogie-Abschluss
Jurassic World: Dominion.
Alle drei von ihnen konnten die Milliarden-Dollar-Grenze reißen, 45 Millionen fehlten am Ende
Dr. Strange and the Multiverse of Madness hierzu, der sich knapp vor
Minions: The Rise of Gru behaupten konnte. An den Erfolg seines Vorgängers konnte
Black Panther: Wakanda Forever nach Chadwick Bosemans Ableben nicht anknüpfen – und spielte rund eine halbe Milliarde weniger ein als dieser. Der siebterfolgreichste Film des Jahres war der viel gelobte
The Batman (weit entfernt vom Erfolg eines
Aquaman), gefolgt von
Thor: Love and Thunder sowie den chinesischen Filmen
Chang Jin Hu Zhi Shui Men Qiao [Water Gate Bridge], der Fortsetzung des Vorjahres-Hits
Battle at Lake Changjin, und der Sci-Fi-Komödie
Du Xing Yue Qiu [Moon Man].
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Sequels dominierten auch 2022 die weltweiten Kinokassen. |
Die Tendenz, dass
Top Gun: Maverick kurz vor knapp als erfolgreichster Film des Jahres abgefangen wurde, zieht sich dann auch durch einige Länder-Jahrescharts
(Quelle: Box Office Mojo). So war er in Frankreich, den Niederlanden, Portugal, Ungarn, Tschechien, der Schweiz und Finnland lange auf dem ersten Platz, musste jedoch letztlich
Avatar: The Way of Water weichen. Auch in Deutschland, Spanien, Bulgarien und Vietnam verdrängte das
Avatar-Sequel den vorherigen Spitzenreiter, in diesem Fall
Minions: The Rise of Gru. Doch auch in Belgien, Dänemark, Italien, Thailand und Österreich markierte
The Way of Water den Jahressieger. Auffällig ist dabei, dass es
Top Gun: Maverick in Österreich nur auf Platz 10 schaffte.
Behaupten konnte sich
Top Gun: Maverick – Stand heute (8. Januar) – dafür in Großbritannien, Australien, Neuseeland, Südafrika, Schweden, Norwegen und Kroatien. Wo er in Deutschland noch das Nachsehen hatte, blieb
Minions: The Rise of Gru in Griechenland, Polen, Argentinien, Israel, Chile, Peru, der Slowakei und Island ungeschlagen.
Jurassic World: Dominion setzte sich in Mexiko, Ecuador, Venezuela, Bolivien, Uruguay, Ägypten und Nigeria durch. Länder, die eher Einheimisches bevorzugen, taten dies auch dieses Jahr: In diesem Fall sind das Südkorea (
Beomjoidosi 2), Japan (
One Piece Film Red), Indien (
RRR), China (
Water Gate Bridge), die Türkei (
Bergen) und Rumänien (
Teambuilding, bislang noch vor
Avatar).
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Jahressieger: Fast fünf Millionen Deutsche wollten Avatar: The Way of Water sehen. |
Ausreißer aus diesem Schema waren nur zwei Länder: Brasilien bevorzugte
Dr. Strange and the Multiverse of Madness, während Russland scheinbar am meisten Gefallen an
Uncharted fand (unklar ist, wie viele Filme dort überhaupt veröffentlicht wurden im Verbund mit dem Ukrainekrieg). Unklar bleibt auch die Frage nach den beliebtesten Filmen des Jahres gemäß der Internet Movie Datebase (IMDb), da dort inzwischen verstärkt indische Fans zugegen sind, die einheimische Filme stark bewerten. In Hinblick auf die Zahl der abgegebenen Stimmen (Voraussetzung: sechsstellig) dürfte
The Kashmir Files (8.7/10) hier die Nase vorn haben (Stand: 8. Januar), vor
Top Gun: Maverick (8.3/10) und
Everything Everywhere All at Once (8.1/10).
Zumindest bei der Popularität hat Tom Cruise also James Cameron ein Schnippchen geschlagen, gehört mit dem größten Filmerfolg seiner Karriere zu den Gewinnern des Jahres. Wie auch James Cameron selbst, der es den Zweiflern wenn schon nicht inhaltlich, dann zumindest an den Kassen zeigte, die nicht daran glauben wollten, dass sein
Avatar-Sequel auf Nachfrage stoßen wird. Ein gutes Jahr hatten zudem Colin Farrell (
The Banshees of Inisherin,
After Yang,
The Batman,
Thirteen Lives) und Tilda Swinton (
The Souvenir: Part II,
The Eternal Daughter,
Three Thousand Years of Longing,
Memoria) mit gleich vier Filmen sowie Jenna Ortega (
The Fallout,
X,
Scream sowie
Wednesday). Auch Brendan Fraser ist wieder ein gefragter Mann.
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Beste Darstellerleistungen: Fedja van Huêt, Frankie Corio, Seidi Haarla. |
Frasers Rolle in
The Whale brachte ihm eine Golden-Globe-Nominierung für die Preisverleihung kommende Woche ein. Wenn es um überzeugende Schauspielleistungen in 2022 geht, ist aufgrund seiner Versatilität auch Colin Farrell zu nennen, im Gedächtnis blieb mir jedoch vor allem Fedja van Huêt in
Gæsterne [Speak No Evil], nicht zuletzt auch, weil er mich an einen jungen Christopher McDonald erinnert. Bei den Darstellerinnen erfreute ich mich am natürlichen und authentischen Spiel von Seidi Haarla in
Hytti nro 6 [Compartment No. 6]. Bei den Jungschauspielern bewies Jonas Carpignano mit Swamy Rotolo in
A Chiara mal wieder ein Händchen, doch Frankie Corio beeindruckte im allenthalben geschätzten
Aftersun ein wenig mehr.
Es war wieder ein durchwachsenes Filmjahr, gefühlt noch schwächer als das vorherige, auch wenn der allgemeine Tenor einen der besten Jahrgänge seit langem ausgemacht haben will. Kreativität und Originalität nehmen weiter ab – bestes Beispiel: die Vielzahl an Filmen (
Bardo,
Belfast,
Armageddon Time, demnächst
The Fabelmans), in denen alte Regisseure sich an ihrem Leben bzw. ihrer Kindheit ergötzen. Ein Loch, das leider auch von den Streaming-Portalen um AppleTV+, Disney+ und Netflix nicht gestopft wird, die sich eher darin überbieten, wer die schlimmeren Filme produziert. Keine Meisterwerke, aber immerhin die zehn Filme, die mich noch am meisten überzeugen konnten, stelle ich nun jedenfalls in meiner Top Ten des Jahres 2022 vor (das vollständige Ranking findet sich wie gehabt auf
Letterboxd):
10. X (Ti West, USA/CDN 2022): Zwar alles andere als Ti Wests bester Film (in seiner Reduktion aber stringenter als das dazugehörige Prequel
Pearl), gefällt der Ansatz, Elemente von
The Texas Chain Saw Massacre mit einer Hommage an Vintage-Sexfilme zu kreuzen. In gewisser Weise zugleich auch Metakommentar, lässt
X die künstlerischen Ansprüche, Sehnsucht nach Ruhm sowie Gier der Kommerzialisierung seiner Figuren aufeinanderprallen, während diese junge Gruppe der womöglich hilfsbereitesten und freundlichsten Porno-Crew in letzter Konsequenz mit der Unbarmherzigkeit des Alters und dem Echo ihrer Begierdenerweckung konfrontiert wird.
9. After Blue (Paradise Sale) (Bertrand Mandico, F 2021): Im Grunde gebiert sich
After Blue (Paradise Sale) als eine Nouvelle-Vague-Version von
Mad Max Beyond Thunderdome, erinnert an Hollywoods Sci-Fi-B-Movies der 1980er Jahre in seinen liebevoll billigen Kostümen und Art Direction, gewürzt mit einer Prise Lewis Carroll. Bertrand Mandico bleibt dabei weitestgehend der Ästhetik und Motive aus seinem Meisterwerk
Les garçons sauvages treu, lässt die Männlichkeit kurzerhand sterben, hebt das weibliche Geschlecht auf ein Podest und lässt seine Hauptfigur Unheil über ihre Welt bringen, wenn sie quasi buchstäblich ihre Gelüste in Person von Kate Bush zutage fördert.
8. Crimes of the Future (David Cronenberg, CDN/GR/UK 2022): David Cronenberg hält uns als Gesellschaft in
Crimes of the Future den Spiegel vor – alles ist eine Performance, jeder strebt danach, sich zu inszenieren. Das Leben ist unverdaulich geworden, die Gegenwart ein Verbrechen, Lust und Begierde nur noch in öffentlich zur Schau gestellter Selbstverstümmelung zu finden. Amouröse Avancen werden abgewiesen, weil ein Ding der Vergangenheit. Der Kanadier greift Ideen aus seinem Œuvre (prominent:
Videodrome und
eXistenZ) auf, wenn Schmerz zu Kunst und Kunst zu Schmerz wird, der Körper die Realität markiert. Lang lebe das neue Fleisch.
7. Escape from Kabul (Jamie Roberts, USA/UK/F 2022): Rund zwei Wochen dauerte im August 2021 die Evakuierung der US-Streitkräfte aus Kabul, gleichbedeutend mit der Aufgabe des seit Jahrzehnten währenden Krieges vor Ort – und letztlich der Freiheit und Liberalität der Afghanen. Jamie Roberts skizziert in
Escape from Kabul kompakt das Drama und den Wahnsinn, der sich am Kabuler Flughafen abgespielt hat. Talking Heads mit geretteten und zurückgelassenen Afghanen, verantwortlichen US-Militärs und sogar Taliban-Mitgliedern – es fehlen lediglich Vertreter der zuständigen Biden-Administration – runden diese ergreifende Dokumentation ab.
6. Heojil kyolshim (Park Chan-wook, ROK 2022): Einem Déjà-vu sieht sich der Mordermittler Jang Hae-jun (Park Hae-il) in Park Chan-wooks
Heojil kyolshim [Decision to Leave] gegenüber, wenn er innerhalb eines Jahres gleich zwei Mal zu einem Tatort mit der Leiche von Song Seo-raes (Tang Wei) Ehemann gerufen wird. Was sich daraus entspinnt, ist die einfühlsamste Liebesgeschichte des Jahres zwischen einem Polizisten, der mehr mit seinem Beruf denn seiner Frau verheiratet ist, und einer Exil-Chinesin, die nur als Mordverdächtige ihr Liebesglück finden zu können scheint. Das Ende steht dieser romantischen Tragik in nichts nach, setzt ihr vielmehr die Krone auf.
5. Les Amours d’Anaïs (Charline Bourgeois-Tacquet, F 2021): Selten sieht man einen Film, der gänzlich vom Charme und Charisma seiner Hauptfigur allein getragen wird.
Les Amours d’Anaïs [Der Sommer mit Anaïs] präsentiert dem Publikum ein Anaïs-zentrisches Weltbild, in welchem alle anderen Figuren sich an Anaïs Demoustiers Hauptfigur auszurichten haben, einem egozentrischen Millennial, dem keiner wirklich böse sein kann. Charline Bourgeois-Tacquets Regiedebüt erinnert zu Beginn noch an Noah Baumbachs
Frances Ha, widmet sich dann aber weniger der Orientierungslosigkeit seiner Protagonistin als der Flüchtigkeit der Dinge und der Relevanz von Egoismen.
4. Madres paralelas (Pedro Almodóvar, ES/F 2021): Die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, ist eine der subtil-vordergründigen Botschaften von Pedro Almodóvars jüngstem Film
Madres paralelas [Parallele Mütter]. In diesem sehnt sich Penélope Cruz’ Fotografin nicht nur nach Frieden für die von Falangisten ermordeten Vorfahren ihres Heimatdorfes, sondern sieht sich obendrein mit einer bei der Geburt vertauschten Tochter und den daraus für sie und die andere Mutter, Ana (Milena Smit), resultierenden Folgen jeweils für sich und ihre Beziehung zueinander konfrontiert. Ein Film darüber, wie uns Schmerz definiert und durch Akzeptanz vollends überwunden wird.
3. Red Rocket (Sean Baker, USA 2021): Egozentrik, Pornographie und der Drang zum Kommerz sind auch allesamt Elemente in Sean Bakers vergnüglichem
Red Rocket, in dem der abgehalfterte Pornostar Mikey (Simon Rex) in seine texanische Heimatstadt zurückkehrt, um einen zweiten Anlauf zu starten. Der Film vermag dabei weniger über die Branche zu sagen als Bakers
Starlet, verschafft zugleich nicht dieselben Eindrücke in die Lebenswelt seiner Protagonisten wie zuvor in
The Florida Project, fasziniert jedoch aufgrund der optimistischen Energie seiner narzisstischen Hauptfigur, die sich fast schon parasitär an andere heftet, um voranzukommen.
2. Les Olympiades (Jacques Audiard, F 2021): In
Les Olympiades [Wo in Paris die Sonne aufgeht] widmet sich Jacques Audiard, basierend auf Werken des Cartoonisten Adrian Tomine und unterstützt von einem superben Soundtrack durch Rone, drei verwobenen Handlungssträngen über vier junge Menschen auf der Suche nach Liebe, Sex und Zugehörigkeit im 13. Arrondissement von Paris. Das stärkste Segment – für sich genommen die beste Geschichte des Filmjahres – lässt eine von Noémie Merlant gespielte Immobilienmaklerin sich verstärkt in der Online-Beziehung zu ihrer Camgirl-Doppelgängerin (Jehnny Beth) verlieren. Manchmal ist Liebe nur eine Verwechslung entfernt.
1. Cow (Andrea Arnold, UK 2021): Versklavt, vergewaltigt, des Nachwuchses beraubt, prostituiert und letztlich eigentlich weniger getötet als vielmehr erlöst – Andrea Arnold liefert mit ihrer Dokumentation
Cow über das Leben und den Tod einer Milchkuh ein schonungsloses und doch stellenweise durchaus poetisches Porträt über die Herzlosigkeit der Massentierhaltung einerseits. Gleichzeitig lässt sich
Cow aber nicht nur als Film über das Leben einer Kuh, sondern unsere Existenz im Allgemeinen lesen: ein trostloses Dasein, angetrieben von der Ausbeutung durch Arbeit, definiert durch die Beziehung zu unseren Kindern. Und am Ende sterben wir doch alleine.