31. Januar 2011

Classic Scene: Sideways - "Are you chewing gum?"

DIE SZENERIE: Eine Woche vor seiner Hochzeit begibt sich der gescheiterte TV-Darsteller Jack (Thomas Haden Church) gemeinsam mit seinem College-Freund und Connaisseur Miles (Paul Giamatti) auf eine Weintour durch Kalifornien. Während Miles sich den Vorzügen der Rebsorten hingeben will, sehnt sich Jack nach einem letzten One Night Stand vor dem Hafen der Ehe. Bei einem ersten Zwischenstopp in einer Winzerei erhält Jack von seinem Trauzeugen eine Wein-Lehrstunde. À propos, wer ein Mal „Sideways“ gesehen hat, wird sich anschließend nie mehr trauen, vor einem Weinregal “any fucking Merlot“ einzupacken.

INT. SANFORD TASTING ROOM - DAY

Miles and Jack are at a bar, holding two glasses with Pinot Noir against the sun-filled window.

MILES: First thing - hold the glass up and examine the wine against the light. You’re looking for color and clarity. Just get a sense of it. Okay?

JACK: Okay.

Again, both are holding their glasses against the light.

MILES: Thick? Thin? Watery? Syrupy? Okay?

JACK: Okay.

MILES: Now tip it.

Miles is tipping the glass over the counter.

MILES: (cont.) What you're doing here is checking for color density as it thins out toward the rim. That’s gonna tell you how old it is, among other things. It’s usually more important with reds. Okay?

JACK: Okay.

MILES: Now stick your nose in it.

Jack waves the glass under his nose like a perfume bottle.

JACK: Yeah?

Jack looks to Chris, the wine pourer, for confirmation.

MILES: Don't be shy. Really get your nose right in there. Really -

Miles buries his nose in the glass while Jack follows his lead.

MILES: (sniffs) Mmm. A little citrus. Maybe some strawberry. Mmm. Passion fruit. Mmm. And - Ah, there’s just, like, the faintest (sniffs) soupçon of like, uh, asparagus and - There’s a - just a flutter of, like, a - like, a nutty Edam cheese.

JACK: Wow.

Both start sniffing again.

MILES: Mmm.

JACK: Strawberries. Yeah.

MILES: Good.

JACK: Strawberries. Not the cheese.

MILES: Yeah. Put your glass down. Get some - Get some air into it.

Miles expertly swirls the wine on the counter. Jack follows suit.

MILES: Oxygenating it opens it up. It unlocks the aromas, the flavors. Very important. Smell again.

Both inhale into their glasses.

MILES: Ah. That's what you do with every one of ‘em.

JACK: Wow. (unpatiently) When do we drink it?

MILES: Now.

Jack gulps his wine down in one shot. Miles chews his before swallowing.

JACK: Mmm! Ahh.

MILES: Mmm.

JACK: How would you rate this one, Miles?

MILES: Well, usually they start you on wines with learning disabilities… but this one’s pretty damn good. (to Chris) This is the new one, right, Chris?

CHRIS: Just released about two months ago.

MILES: Nice job.

CHRIS: We like it.

JACK: (to Miles) You could work in a wine store, Miles.

MILES: Mmm. Yeah, that’d be a good move.

Miles looks at Jack and notices something.

MILES: Are you chewing gum?

27. Januar 2011

The Wire - Season Five

The bigger the lie, the more they believe.

Es war Adolf Hitler, der sagte: „Je größer die Lüge, desto mehr Menschen folgen ihr.“ Eine solche Lüge löste am 1. September 1939 mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus. Und eine solche Lüge bestimmt im fünften Jahr der hoch gelobten HBO-Serie The Wire das Geschehen ihrer letzten Staffel. Nach dem die Stadt konsumierenden Drogenhandel in den Ghettos von Baltimore, den kriminellen Tätigkeiten auf den Hafendocks, der korrupten Stadtpolitik und dem brachliegenden Schulsystem, widmeten sich David Simon und Ed Burns in den letzten zehn Episoden ihrer Schöpfung dem sterbenden Zeitungswesen. Und damit zugleich dem letzten Mosaikstein in ihrer Zeitgeistanalyse einer urbanen Problemstadt.

Wie in keiner der Staffeln zuvor zeigen sich nun Parallelen zwischen den beiden Haupthandlungssträngen auf. Sowohl die Zeitung „The Baltimore Sun“ als auch die Polizeibehörde leiden unter Einsparungen von ihrer jeweiligen Zentrale und erhalten die Anweisung, mit weniger mehr zu machen. Was bei der Zeitung rund um Redakteur Gus Haynes (Clark Johnson) damit zu tun hat, dass die Menschen ihr Medium nicht mehr lesen, lässt sich bei der Polizei auf das Haushaltsloch in Bürgermeister Carcettis (Aidan Gillen) Schulpolitik zurückführen. Die Folge sind auf der einen Seite mögliche Jobentlassungen und auf der anderen Seite unbezahlte Überstunden und mangelhafte Arbeitsvoraussetzungen.

Dies hat wiederum direkten Einfluss auf die Spezialeinheit von McNulty (Dominic West), Freamon (Clarke Peters), Greggs (Sonja Sohn) und Sydnor (Corey Parker Robinson) und deren Ermittlung gegen Marlo Stanfield (Jamie Hector). Als Einsparungsmaßnahme wird dessen Verfolgung vorerst ausgesetzt, was einen desillusionierten McNulty wieder in Alkoholismus und Promiskuität treibt. Um seine gewünschten Ressourcen zu erhalten, trifft McNulty eine schwerwiegende Entscheidung und beginnt ab Unconfirmed Reports tote Obdachlose als vermeintliche Serienmorde zu kostümieren. Mit Hilfe des betrügenden Reporters Scott Templeton (Thomas McCarthy) nimmt die Lüge dann größere Ausmaße an.

Und wie die meisten Figuren in The Wire hat auch Templeton ein Vorbild aus dem wahren Leben. Er basiert auf Journalisten wie Stephen Glass, der von 1995 bis 1998 für das Magazin „The New Republic“ schrieb und dabei Zitate und Artikelinhalte fälschte. Angesichts des Stellenrückgangs sieht Templeton seinen Arbeitsplatz in Gefahr und beginnt zuerst, einige seiner Beiträge zu frisieren, ehe er mit Kopf voraus in McNultys Lügenkonstrukt abtaucht. Als besonderer Running Gag zeigt sich zudem der Anspruch des Herausgebers, dem dickens’schen Gesichtspunkt der jeweiligen Geschichte zu folgen. So adapiert die sechste, The Dickensian Aspect genannte, Folge wie die meisten Episodentitel Begriffe aus dem Zeitungswesen.

Die Handlungen im Redaktionsraum der Baltimore Sun und der Mordkommission ähneln sich des Öfteren, beispielsweise wenn Journalisten wie Polizisten sich in einer Besprechung zum angeblichen Obdachlosen-Serienmörder befinden. Auch dass beide Einrichtungen mit dem Motto „more with less“ umzugehen haben und jeweils über einen Lügner in den eigenen Reihen verfügen, der die Aufmerksamkeit auf seine Arbeit zieht, verschafft der fünften Staffel diesbezüglich einen schön Touch von zweiseitiger Beleuchtung ein und desselben Themas (sowie letztlich dem Umgang von „oben“ mit den Konsequenzen aus dem eigenen Tun). Fast mehr als die Medien sind jedoch „Lügen“ das Thema der fünften Staffel.

Denn gleichzeitig sieht sich der inzwischen zum Colonel beförderte Daniels (Lance Reddick) im Konflikt mit den Versprechungen von Carcetti während dessen Wahlkampfes, die dieser aufgrund des Haushaltsloches nicht zu halten im Stande scheint. Und auch Marlo muss sich mit Lügen rumschlagen, wenn seine street credibility von unterschiedlichen Randfiguren in den Schmutz gezogen wird. Allen voran von Omar (Michael K. Williams), der von Marlo aus seinem Exil zurück nach Baltimore gelockt wird und eine persönliche Vendetta startet. Lug und Betrug schleichen sich auch in Proposition Joes (Robert F. Chew) Kooperative, die mit Marlos skrupel- und kompromisslosem Verhalten nicht zu harmonieren scheint.

Marlos Bestrebungen, Joe auszuschalten und sich direkt an die Quelle für seine Drogen zu setzen, führen zur Rückkehr einiger bekannter Gesichter wie Avon (Wood Harris) und Sergei (Chris Ashworth) in Unconfirmed Reports, sowie von Spiros (Paul Ben-Victor) und dem Griechen (Bill Raymond) in React Quotes. Ohnehin bemühten sich Simon und Burns, zum Abschluss der Serie Figuren aus den vorherigen Staffeln für einige Cameos zu gewinnen. Ein Wiedersehen gibt es im Laufe der Staffel auch mit Nick Sobotka (Paul Schreiber), Poot (Tray Chaney), Namond (Julito McCullum) und Randy (Maestro Harrell), sowie Colvin (Robert Wisdom), Stan Valchek (Al Brown) und sogar Richter Phelan (Peter Gerety).

Das treibende Element ist dieses Jahr jedoch das Duo McNulty-Freamon, die sprichwörtlich über Leichen gehen, um an eine illegale Abhörung von Marlos Mobiltelefon und dadurch an seine Verbindung zu seinen Drogengeschäften zu kommen. Durch seine Maßnahmen schafft McNulty es zwar, dass viele der Polizisten, speziell die unter Carvers (Seth Gilliam) Kommando, endlich ihre Überstunden ausbezahlt bekommen, gleichzeitig entfernt er sich durch seine kriminellen Tätigkeiten von Kollegen wie Bunk (Wendell Pierce). Bauernrollen fallen hierbei bekannten „Opfer“ wie Sydnor oder auch dem inzwischen zwar entlassenen, aber immer noch zuverlässig inkompetenten Herc (Domenick Lombardozzi) zu.

Wenig verwunderlich dürfte sein, dass wie zuvor politisch-institutionelle Eitelkeiten die eigentlichen Ermittlungen torpedieren. So wollen McNulty und Freamon den Stanfield-Fall zwar ans FBI abtreten, der Bundesstaatsanwalt die Ermittlungen jedoch wegen gekränkter Gefühle dank Carcetti nicht annehmen. Und weil Baltimores Staatsanwalt Bond (Dion Graham) aus Karrieregründen Clay Davies (Isiah Whitlock, Jr.) vor ein städtisches Gericht stellen will, geht auch dieser Fall im Laufe der Staffel in die Binsen. Andere treibende Kräfte innerhalb des Rathauses wie Nerese Campbell (Marlyne Afflack) untermauern die These der Serienmacher, dass sich die USA politisch stets selbst ins Bein schießen.

Qualitativ legt The Wire in ihren letzten zehn Folgen nochmals eine Schippe drauf und erlaubt sich wohl auch wegen der reduzierten Episodenzahl keinen nennenswerten Ausreißer nach unten. Die fünfte Staffel avanciert im Gegenteil zur Überzeugendsten der Serie, in der die Folge Clarifications als emotionaler Höhepunkt herausragt, gefolgt von Not for Attribution und Late Editions. Dass die abschließende Episode -30- weniger ein Serien- als Staffelfinale darstellt, sollte angesichts der Tatsache, dass die Serie im Prinzip nach jeder Staffel hätte enden können, nicht stören. Allerdings fällt auch in der letzten Staffel auf, dass einige Charakterentwicklungen überhastet wirken, da sie zuvor keinen Vorlauf erhalten haben.

Anbetracht dessen, dass viele Kritiker die Show mit einer Tragödie verglichen haben, sind die finalen Entwicklungen für die meisten Figuren zwar nicht tragisch, aber dennoch eine Konsequenz nicht nur aus ihrem Verhalten in dieser, sondern auch den vorherigen Staffeln. Entgegen der Vorjahre wird das Privatleben der Figuren jedoch dieses Mal ausgespart, sieht man einigen Szenen zwischen McNulty und Beadie (Amy Ryan) ab. Stattdessen konzentrieren sich Simon und Burns auf ihr Handlungsgerüst der Lüge um die Obdachlosenserienmorde, deren Folge zum Abschluss der Serie einige Charakteränderungen mit sich bringt, die ob ihrer Selbstreferenz zwar gefallen, jedoch etwas redundant wirken.

Insgesamt kann konstatiert werden, dass The Wire nach fünf Staffeln eine sehr gute, aber nicht die beste oder bedeutendste Serie aller Zeiten ist. Zwar bemühten sich Simon und Burns (erfolgreich), möglichst viele urbane Facetten zu zeigen, dennoch offerierte The Wire selten wirklich Charaktere oder Handlungen, die zuvor nicht schon in anderen Medien auftauchten. Nichtsdestotrotz ist es eine außerordentliche Leistung, über Jahre hinweg dem Zuschauer Dutzende von Figuren zu schenken, die nicht nur interessant waren, sondern mit denen man sich auch identifizieren konnte, gleich ob sie „gut“ oder „böse“ waren. Und letztlich behält Michael K. Williams wohl recht, wenn er sagt: “Life goes on. The game don’t stop.”

8.5/10

23. Januar 2011

Liane, das Mädchen aus dem Urwald

Selbstpropagierter Skandalfilm der 50er Jahre an den Grenzen der FSK. Einem Anspruch, dem Eduard von Borsodys Liane, das Mädchen aus dem Urwald insofern gerecht wird, da sich seine Altersfreigabe über drei Jahrzehnte lang zwischen „ab 6“ und „ab 16“ hin und her bewegte. Umso unnötiger, da die dafür verantwortlichen, entblößten Brüste der 16-jährigen Marion Michael nach wenigen Szenen verschwinden, wenn der Film zur charmant-trashigen Tarzan-Version mit verkehrten Gender-Rollen verkommt. Zum Amüsement trägt ein kontinuierlich mit Schläge drohender Hardy Krüger bei, der sich in patriarchalischen Machogebärden verliert, während Liane in der Rezeption ihrer Umwelt beliebig zwischen Tier, Wilde und Mensch wandelt. Höhepunkt ist das überstürzte Finale, mit spontaner Mordkomplottauflösung in CSI-Manier und einer für damalige deutsche Verhältnisse irrwitzig inszenierten Verfolgungsjagd per Auto.

5.5/10

19. Januar 2011

The Wire - Season Four

No one wins. One side just loses more slowly.

Wenn sie alles falsch gemacht hätten, reminisziert David Simon in einem Feature zur vierten Staffel von The Wire, könnte seine Schöpfung einfach nur eine Cop-Serie sein. Natürlich ist The Wire auch das, eine Cop-Serie. Aber dennoch ist sie auch viel mehr, in ihrem Versuch, die Realität durch Fiktion abzubilden. Nach einjähriger Pause kam die Show von David Simon und Ed Burns zurück und baute, wie schon die drei Staffeln zuvor, hauptsächlich auf den Erfahrungen der beiden Serienschöpfer auf. Bevor sich die HBO-Serie in ihrem fünften und letzten Jahr dem Blick auf die Medienlandschaft und damit den Erfahrungen des gelernten Journalisten Simon widmete, wandert der Fokus des vierten Jahres in die Schulen.

Hierbei wurden die Erlebnisse von Ed Burns aufgegriffen, der nach seiner Zeit in Baltimores Mordkommission mehrere Jahre als Lehrer an einer der städtischen Mittelschulen aktiv war. War das Thema der dritten Staffel „Reformation“, respektive das Scheitern dieser für Figuren wie Major Colvin (Robert Widsom) und Stringer Bell (Idris Elba), so steht das vierte Jahr offensichtlich unter dem Motto „Erziehung“. The Wire beginnt einen kritischen und zum Teil erschütternden Blick in die urbane Schulpolitik zu werfen. Die Erfahrungen von Burns selbst teilen sich hierbei Prez (Jim True-Frost) und Colvin, die beide nach den Ereignissen des Vorjahres den Polizeidienst verlassen mussten und nun als Erzieher arbeiten.

Gleichzeitig dringt die Serie auch in das Leben der ausschließlich afroamerikanischen Schüler vor, indem vier von ihnen Nebenrollen erhalten. Die präsenteste Figur ist Namond (Julito McCullum), Sohn von Wee-Bey (Hassan Johnson) und Corner-Dealer für Bodie (J.D. Williams), dessen Mutter alles daran setzt, dass er in dieselben Fußstapfen wie sein lebenslänglich verurteilter Vater tritt. Zudem ist Namond der einzige der Clique, der sich kriminell betätigt, auch wenn der ruhige und intelligente Michael (Tristan Wilds) gelegentlich am Corner aushilft. Er hat jedoch wie die anderen Drei mit einem geschädigten Zuhause klar zu kommen, erzieht er seinen kleinen Bruder durch die Drogensucht der Mutter alleine.

Noch chaotischer geht es bei Dukie (Jermaine Crawford) zu, dessen Eltern ihn schlagen, bestehlen und vernachlässigen. Erst durch das soziale Engagement von Prez ergeht es dem Jungen im Laufe der vierten Staffel besser. Als letzter im Bunde ist das Waisenkind Randy (Maestro Harrell), der bei einer Pflegemutter lebt und sich als Pausenhof-Entrepeneur und Süßigkeiten-Dealer versucht. Namond, Michael, Dukie und Randy stellen letztlich die Brücke zwischen Schule und Straße dar und somit auch das Bindeglied zwischen der Welt der Drogen und der Welt der Erziehung, die in Baltimore zumindest in den afroamerikanischen Vierteln Hand in Hand zu gehen scheinen und das Leben von drei von ihnen verändern werden.

Mit dem Urteil gegen Avon (Wood Harris) aus Mission Accomplished ist Marlo Stanfield (Jamie Hector) auf der Westside nunmehr konkurrenzlos. Selbst Bodie bleibt später keine Wahl als für Marlo zu dealen, während Slim Charles (Anwan Glover) zur rechten Hand von Proposition Joe (Robert F. Chew) wird. Zugleich gerät Marlo immer mehr außer Kontrolle und beginnt wahllos Menschen von seinen Soldaten Chris (Gbenga Akkinagbe) und Snoop (Felicia Pearson) exekutieren zu lassen. So muss unter anderen ein Wachmann dran glauben, weil er Marlo gegenübertritt oder eine Lieferantin, damit ihr Mord Omar (Michael K. Williams) in die Schuhe geschoben werden kann, der unbewusst in Marlos Weg geraten ist.

Marlo wiederum ist weiterhin das Ziel der von Daniels’ ins Leben gerufenen Spezialeinheit, auch wenn Daniels (Lance Reddick) inzwischen zum Major aufgestiegen und Colvin ersetzt hat. Dennoch fehlt es Freamon (Clarke Peters) und Greggs (Sonja Sohn) an entsprechenden Leichen, die Chris und Snoop in verlassenen Häusern verstecken. Indem Randy bei unwissentlich in Boys of Summer bei einem von Marlos Morden mitwirkt, beginnen die ersten beiden Welten früh mit den Ermittlungen der Polizei rund um Bunk (Wendell Pierce), Herc (Domenick Lombardozzi) und Carver (Seth Gilliam) zu verschmelzen, von denen sich speziell Herc und Carver nun vollends beginnen, in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln.

Während Herc im Laufe der Staffel vermehrt seine Inkompetenz unter Beweis stellt, zeigt Carver ab Margin of Error, dass bei ihm doch nicht Hopfen und Malz verloren ist. Ähnlich ergeht es McNulty (Dominic West), der seinen Frieden mit dem Dasein als Streifenpolizist gefunden und ein scheinbar glückliches, nüchternes und monogames Leben mit Beadie (Amy Ryan) begonnen hat. Da West jedoch mehr Zeit mit seiner Familie in London verbringen wollte, taucht McNulty im vierten Jahr relativ wenig und wenn dann nur als Randfigur auf. Damit kommt er aber immer noch auf mindestens ebenso viel Laufzeit wie Sydnor (Corey Parker Robinson), der weiterhin ein lediglich bekanntes Gesicht im Hintergrund bleibt.

Schenkte The Wire in den Vorjahren zumindest Einblicke in das Privatleben des Triumvirats McNulty-Daniels-Greggs, so tritt auch dies in der vierten Staffel zurück. Stattdessen stehen fast ausschließlich Namond, Randy, Michael und Dukie im Fokus, sowie zusätzlich noch Stadtrat Tommy Carcetti (Aidan Gillen), dessen Kampagne, Bürgermeister zu werden, in Margin of Error einen erfolgreichen Abschluss findet. Ohnehin widmet sich die Serie dieses Mal wohl auch aufgrund des Wahlkampfes mehr der Welt der Politik, als dies noch im Vorjahr der Fall war. Zugleich zählt Carcetti ebenfalls zu den Figuren, die dieses Jahr einen positiven Wandel durchleben, wenn er ähnlich wie McNulty seiner Promiskuität abschwört.

Grundsätzlich veranschaulicht diese Staffel, wie viel im Schul- und Politiksystem der USA im Argen liegt und inwiefern man das Drogenproblem an der Wurzel und damit an den Schulen anpacken muss. So nimmt Cutty (Chad Coleman) einen Nebenjob an, in dem er Schulschwänzer einkassiert und in ihre Klasse bringt. Als er jedoch das System durchschaut (die Schüler müssen nur ein Mal im Monat erscheinen, weshalb sie die übrigen Tage in Ruhe gelassen werden), gibt Cutty den Job schließlich auf. Auch Prez wird in Corner Boys und Know Your Place mit absurder Schulpolitik konfrontiert, wenn er seine Schüler lediglich auf bestimmte Tests vorbereiten soll, anstatt ihnen Wissen zu vermitteln.

Im vierten Jahr ist The Wire ein zweischneidiges Schwert. Zwar bemüht sich die Serie wie nie zuvor, reale Vorgänge kritisch und unterhaltsam aufzubereiten, was ihr schlussendlich auch gelingt. So gesehen übertrifft die vierte Staffel in ihrer Bedeutung ihren Vorgänger, ohne ihn zugleich auf narrativer Ebene vollends zu übertreffen. Denn in keiner Staffel bediente man sich so offensichtlich an filmischen Vorbildern, was im Anspruch der Serie, urbanes Leben real-fiktiv darzustellen, negativ auffällt. Beispielsweise suchen Dukie und Co. in Alliances in bester Stand By Me-Manier eine Leiche auf oder belohnt Colvin in Know Your Place eine Schulübung wie in Dangerous Minds mit einem noblen Restaurantbesuch.

Auch die Charakterausarbeitung wirkt bisweilen schwach, wenn Figuren wie Namond oder Michael zum Ende hin ziemlich unvorbereitet und überraschend in 180°-Kehrtwendung zum Staffelbeginn reagieren und eine extrem prominente und ambivalente Rolle wie die von Marlo im Grunde jedes Jahr nicht ansatzweise analysiert wird. Selbst von einer Serie, die weder Charaktere noch eine Handlung, sondern primär ein soziales Stadtbild vermitteln will, darf man hier mehr erwarten. Grundsätzlich sind die neuen Figuren aber wie jedes Jahr ausgesprochen interessant, gut besetzt und für die Entwicklung der Geschichte zuträglich, was jedoch verstärkt auf Kosten des Polizeiensembles rund um McNulty und Co. geht.

Obschon sich die Charakterentwicklungen gegen Ende überschlagen, zählt das Staffelfinale Final Grades, gefolgt von seiner Vorgängerfolge That’s Got His Own und Unto Others zu den besten Episoden dieser Staffel. Deren bemerkenswertes Merkmal ist fraglos, wie einfach sich die Aufmerksamkeit der Schullandschaft zuwandte, ohne zugleich Handlungsstränge von anderen Figuren wie Bubbles (Andre Royo) großartig außer Acht zu lassen. “It could have, if we'd done everything wrong, been a cop show”, sagte David Simon. Und dass The Wire mehr als eine Cop-Show ist, auch wenn sie ihre eigenen Ansprüche nicht immer vollends erfüllen kann, zeichnet sie verdientermaßen als Besonderheit aus.

8/10

15. Januar 2011

La Bête humaine

Il faut penser à dégager la voie.

Auf den römischen Komödiendichter Titus Maccius Plautus geht der Ausspruch „Homo homini lupus“ (dt. Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf) zurück. Der bestialischen Natur des Menschen widmete sich auch Émile Zola in seinem 1890 erschienenen Roman La Bête humaine, der von der destruktiven Natur des Zugführers Jacques Lantier und der übrigen Figuren erzählt. Zu der Verfilmung des Romans kam es 1938 hauptsächlich deswegen, weil sich Jean Gabin auf der Höhe seiner Karriere einen Kindheitstraum erfüllen und einen Zugführer spielen wollte [1]. Für seinen La grande illusion-Regisseur Jean Renoir war La Bête humaine dagegen eine weitere Chance, im Poetischen Realismus zu schwelgen.

„Die Stahlmasse der Lokomotive wurde in meiner Vorstellung zum fliegenden Teppich der orientalischen Märchen“, schreibt Renoir in seiner Autobiographie über La Bête humaine [2]. Das Eisenbahnmotiv ist es auch, das den Film „mit seiner sensationellen Eröffnungssequenz“ beginnt [3]. Aus der Perspektive der beiden Lokführer Jacques Lantier (Jean Gabin) und Pecqueux (Julien Carette) verfolgt der Zuschauer die Fahrt des Paris-Le Havre-Expresses. Eine Ende der 1930er Jahre kinematographisch herausragende Leistung, die Renoirs Bruder und Kameramann Claude, der mit seiner Kamera auf einem an der Lokomotive befestigten Gestell filmte, bei einer Tunneldurchfahrt fast mit seinem Leben bezahlte [4].

Und so sehr die Lokomotive - Lantier erachtet sich mit ihr „verheiratet“ und nennt sie liebevoll „la Lison“ - eine eigene Rolle in Renoirs Film einnimmt, sind es doch die menschlichen Charaktere, die im Vordergrund stehen. Allen voran natürlich Gabins Jacques Lantier, der tragische Held dieser Geschichte. Der Lokführer leidet an einer angeblichen Erbkrankheit, entstammt er doch laut Vorspann Generationen von Trinkern. „Ihretwegen bin ich menschenscheu geworden“, verrät Lantier im ersten Akt gegenüber Flore (Blanchette Brunoy). Als Resultat leidet er an wahnhaften Anfällen, ausgelöst durch Frauen, die in ihm Verlangen erregen [5], die Lantier in poetischer Sentimentalität als „Anfälle von Traurigkeit“ beschreibt.

„Als ob mir eine Wolke in den Kopf steigt und auf einmal alles verändert“, beschreibt Lantier seine Attacken und ihre Folgen: „Dann bin ich wie ein tollwütiger Hund, der zubeißen muss.“ Die Szene mit Flore führt zum einen nun Lantiers Erbkrankheit ein, die letztlich mit für den tragischen Verlauf von La Bête humaine verantwortlich sein wird. Zugleich zeigt sie Lantier jedoch auch emotional mit Flore involviert. Beide versichern sich ihre Liebe zueinander, doch der Lokführer stößt die hübsche Blondine aus Angst, sie zu verletzen von sich. Als er später die Femme fatale Séverine (Simone Simon) kennenlernt, scheint seine Erbkrankheit jedoch plötzlich kein Problem mehr zu sein. Ebenso seine zuvor verkündete Liebe zu Flore.

Für O’Shaughnessy sind Lantier und Séverine mehr Opfer als Verursacher ihrer Schicksale [6], was jedoch im Zweifel steht. Séverine leidet sichtlich unter ihrem äußeren Erscheinungsbild und bildet damit eine Achse zu Flore, die ebenfalls ihre Schönheit verflucht. Beide Frauen werden - soweit es Renoirs Film angeht - auf ihr Äußeres reduziert. „Das, was ich brauche, ist kein Verliebter, sondern ein guter Kamerad“, erklärt Séverine später Lantier dann in einem Moment offensichtlicher Wahrheit. Ihr gesäuseltes „außer dir habe ich nie jemanden geliebt“ wirkt dagegen mehr als Mittel zum Zweck, um Lantier dazu zu bringen, ihren Ehemann, den Bahnhofsvorsteher Roubaud (Fernand Ledoux), für sie zu ermorden.

Roubaud wiederum lernt der Zuschauer als sympathische und idealistische Figur kennen. Er zeigt sich als Rächer der Entrechteten, wenn er sich für eine Dame und die Bahnregeln gegen einen Zuckertycoon einsetzt. „Ich mache zwischen den Reisenden keine Unterschiede“, erklärt Roubaud bestimmt. Auf dem Weg nach Hause lehnt er die Einladung zu einem Kartenspiel ab, um die Zeit mit seiner Frau zu verbringen, weshalb er als „glücklicher Mensch“ bezeichnet wird. Doch in einer Gesellschaft, die von der korrupten und reichen Elite dominiert wird [7], kann es sich Roubaud nicht leisten, einen der ihren zu vergrätzen. „Du musst deinen Patenonkel besuchen“, bittet er schließlich Séverine und tritt die Handlung los.

Sie reagiert widerwillig („Also gut, ich geh zu ihm“), da sie den Preis kennt, den ihr wohlhabender Patenonkel für seine Einflussnahme verlangt. Über die Konsequenzen zeigt sich Roubaud hinterher entsetzt und wütend, der Mord erscheint ihm die einzige Alternative, um die Ehe zu retten („So bleiben wir zusammen. Ich schwöre dir, das wird uns für immer verbinden“). In wenigen Szenen avanciert Roubaud vom Sympathikus plötzlich zum übereifersüchtigen Kontrollfreak („Es ist nur, weil ich dich liebe“). Er hat ziemlich offensichtlich Angst, Séverine zu verlieren, wobei sich der Zuschauer sowieso fragt, warum sie eigentlich mit ihm, der über kein Geld zu verfügen und sehr viel älter zu sein scheint, verheiratet ist.

Das Innenleben der Figuren verschließt sich jedoch dem Publikum. Der Mord von Roubaud bringt ihn nicht enger mit seiner Frau zusammen, sondern entzweit sie endgültig. Die Affäre von Séverine mit Lantier bekommt er zwar mit, doch ist sie dem Bahnhofsvorsteher egal. Er verliert sich in jenem Kartenspiel, dem er sich zuvor versagt hat. „Sie haben kein Glück“, resümiert sein Gegenüber als Roubaud Runde um Runde verliert. „Nein, ich habe kein Glück“, lautet dessen Echo in jenem Spiegelbild zu Beginn. Roubaud, der aufrechte Mann, der alle gleich behandelt, mutiert zum gebrochenen Mann. Der Versuch, seinen Job zu retten, resultierte im scheinbaren Ehebruch, der Versuch die Ehe zu retten, im definitiven Mord.

Ob Sèverine wirklich so verrucht ist, wie Renoir sie inszeniert, bleibt offen. Einen Beweis für ihre Untreue gibt es nicht, ihr unter Prügel geschaffenes Geständnis lässt ebenso Zweifel offen. Dem Ruf als Femme fatale wird sie allerdings spätestens nach dem Mord an ihrem Patenonkel gerecht, wenn sie versucht, Lantier auf subtile Weise zur Ermordung ihres Mannes anzustiften („Am Morgen lebt man noch und am Abend ist man tot“). Als dieser die Tat jedoch nicht übers Herz bringt, schiebt Séverine ihm die Schuld für das nun nicht zu Stande kommende gemeinsame Glück in die Schuhe. „Dieses Glück, das einzig von dir abhing“, urteilt sie schließlich und nimmt damit die Position ein, die Roubaud vor ihr inne hatte.

Ihr verhängnisvoller Charakter war vermutlich der Grund, weshalb La Bête humaine seiner Zeit in Großbritannien unter dem Titel Judas Was a Woman vertrieben wurde [8]. Lantier zeigt sich moralisch jedenfalls stärker als Séverine, wenn er ihr entgegnet: „Man kann sein Glück nicht auf einem Verbrechen aufbauen“. Aber angesichts einer möglichen Versagung der Beziehung erklärt er sich letztlich doch bereit, Roubaud zu töten. Wieso er allerdings jetzt einen seiner „Anfälle von Traurigkeit“ erleidet, wo er schließlich bis hierhin sogar Geschlechtsverkehr mit Séverine haben konnte, ohne auch nur einen Anflug von Gewalt zu zeigen, ist wohl weniger dem Versuch von Authentizität als vielmehr der Dramaturgie geschuldet.

So löst Renoir „die Implikationen von Zolas Romantitel nicht ein“ beziehungsweise allenfalls bedingt [9]. Im Zuge der filmischen Erzählung verkommen die Figuren zu Sympathieträgern und Identifikationsfiguren [10], dennoch bewegt sich Renoir in ihrer Charakterisierung zumeist nur an der Oberfläche. Indem deutlich wird, dass Lantiers Anfälle unvorhersehbar scheinen und somit nicht auf einen definitiven Auslöser zurückzuführen sind, suggerieren sie neben einer Fremd- auch eine Selbstverschuldung [11]. Und so willkürlich wie Lantiers Anfälle scheinen auch die Liebesbekundungen der Hauptfiguren, weshalb ihre Romanze nie glaubhaft wirkt und ihr folglich die Empathie des Publikums fehlt.

Der klassischen Tragödie folgend, wirkt der Niedergang aller Figuren vorherbestimmt. So sträubt sich Séverine zuerst auch gegen Lantiers Entscheidung, Roubaud doch zu töten („Nicht heute Abend. Ich fühle, dass mich irgendwas bedroht“). Letztlich werden sie Opfer ihrer bestialischen Natur (in Zolas Roman trifft dies auch noch auf Roubaud und Flore zu), wie Séverines Patenonkel Grandmorin zuvor und wenn man so will, auch die Nebenfigur Cabuche (Jean Renoir), der durch frühere Verfehlungen zum Sündenbock für den Mord an Grandmorin stilisiert wird. Freiheit von seiner Erbkrankheit - und im Grunde auch von sich selbst - wird Lantier in Renoirs Film letztlich nur in der „Freiheit des Todes“ gewährt [12].

Die Fatalität der menschlichen Natur, in Zolas Roman zugleich für Zeitkritik am damaligen Justizsystem und Fortschrittswahn gebraucht [13], wird bei Renoir vom „düsteren Pamphlet“ zum „unterhaltsamen Kinospektakel“ [14] heruntergebrochen. Obschon der Film in Frankreich ein „sofortiger Hit“ war, der Renoir „endlich die Anerkennung bescherte, nach der er sich 14 Jahre lang gesehnt hatte“ [15], scheint es nicht so, als wäre La Bête humaine für den Regisseur über den Status einer Auftragsarbeit hinaus gegangen [16]. Lediglich anderthalb Seiten widmete Renoir über drei Jahrzehnte später seinem Werk des Poetischen Realismus, das er wohl zuvorderst aus Freundschaft zu Gabin annahm, in seinen Memoiren.

Vielleicht wurde die Erinnerung an den Film bei Renoir auch einfach durch die Tatsache überschattet, dass er zwei Monate nach Kinostart mit seinem Vorgänger La grande illusion als erstes fremdsprachiges Werk für einen Academy Award als Bester Film nominiert war. Letztlich beeindruckt La Bête humaine zwar durch seine visuell herausragende Darstellung der Zugreisen (die Eröffnungsszene ist durch das entsprechende Bild verlinkt) sowie des Eisenbahnerlebens, und er funktioniert auch weitestgehend als Vorläufer des US-amerikanischen Film noirs der 1940er Jahre [17], auf narrativer Ebene scheitert La Bête humaine jedoch, eine ebenso überzeugende Charakterisierung seiner Figuren zu liefern.

6.5/10

[1] vgl. Bertin, Célia: Jean Renoir. A Life in Pictures, Baltimore/London 1991, S. 150.
[2] Renoir, Jean: Mein Leben und meine Filme, München/Zürich 1974, S. 124.
[3] Faulkner, Christopher/Duncan, Paul: Jean Renoir. Ein Dialog mit seinen Filmen 1894-1979, Köln u.a. 2007, S. 95.
[4] ebd.
[5] vgl. O’Shaughnessy, Martin: Jean Renoir (French Film Directors), Manchester/New York 2000, S. 141.
[6] ebd., S. 144.
[7] ebd., S. 143.
[8] vgl. Braudy, Leo: Jean Renoir. The world of his films, New York 1972, S. 249.
[9] Hauck, Johannes: Auf dem fliegenden Teppich der Phantasie. ‚La Bête humaine’, in: Gassen, Heiner: Jean Renoir und die Dreißiger: soziale Utopie und ästhetische Revolution, München 1995, S. 79-88, hier S. 86.
[10] ebd.
[11] vgl. Braudy, S. 58.
[12] ebd., S. 60.
[13] vgl. Hauck, S. 81.
[14] ebd., S. 84.
[15] Bergan, Ronald: Jean Renoir. Projections of Paradise, Woodstock/New York 1994, S. 195.
[16] Renoir sagte spontan am Telefon zu und schrieb die erste Drehbuchfassung basierend auf seinen Erinnerungen an den Roman innerhalb von zwei Wochen, vgl. Braudy, S. 208.
[17] vgl. Bergan, S. 194.

11. Januar 2011

The Wire - Season Three

Call it a crisis of leadership.

Für den US-amerikanischen Fernsehkritker Ken Tucker ist The Wire “television’s richest, most satisfying experience”. Wer sich das Bonusmaterial zur HBO-Serie ansieht, stößt immer wieder auf Hinweise von Polizisten, Anwälten oder FBI-Agenten, die bestätigen, wie authentisch die Show sei. Und für ihre Schöpfer, David Simon und Ed Burns, erzählt The Wire nicht von gut zwei Dutzend Charakteren oder einer bestimmten Handlung, sondern von Baltimore, Maryland. Eine Stadt, die gleichzeitig was das urbane Leben angeht, für viele andere US-Städte steht. Insofern scheint es konsequent, dass sich die dritte Staffel nach dem Vorjahr mit Fokus auf die Docks nun wieder verstärkt dem Drogenhandel widmet.

Die Aufmerksamkeit der Spezialeinheit von Lieutenant Daniels (Lance Reddick) und Detective McNulty (Dominic West) ist wieder auf das Barksdale-Drogenkartell unter der Kontrolle von Stringer Bell (Idris Elba) gewandert. Während Freamon (Clarke Peters) und Prez (Jim True-Frost) versuchen, Stringers Stimme auf einer ihrer abgehörten Aufnahmen zu erwischen, muss dieser sich mit wachsender Corner-Konkurrenz in Form von Marlo Stanfield (Jamie Hector) auseinandersetzen. Unterdessen ist dem idealistischen Stadtrat Tommy Carcetti (Aidan Gillen) die ansteigende Mordrate ein Dorn im Auge. Selbige führt wiederum dazu, dass Polizeimajor Colvin (Robert Wisdom) über ein riskantes Projekt nachdenkt.

Der Blick der Serienmacher wandert also vom Hafen Baltimores und den dortigen schmutzigen Geschäften zur Korruption des Rathauses. Mit Stadtrat Carcetti wird zugleich eine Figur eingeführt, deren Handlungen diese Staffel primär durch die Langeweile und Bedeutungslosigkeit ihres Jobs motiviert werden. Als Mittelsmann hat Carcetti nur bedingt Einfluss auf Bürgermeister Royce (Glynn Turman), dafür jedoch umso mehr auf Burrell und seinen Stellvertreter, Colonel Rawls (John Dorman). Und wenn The Wire etwas etablierte, dann, dass die Scheiße immer bergab rollt. Demzufolge gibt Burrell den Druck, den er von Carcetti ob der steigenden Morde in der Stadt erhält, direkt an seine Untergebenen wie Colvin weiter.

Colvin wiederum ist in einer Position, in der sich auch Daniels zu Beginn der zweiten Staffel wiederfand. Er steht ein halbes Jahr vor seiner Pensionierung, was auch seine Bereitwilligkeit erklärt, nicht nach den Regeln zu spielen. Was Colvin erkennt, ist, dass der Krieg gegen die Drogen nicht gewonnen werden kann. Schließlich hatten bereits Carver (Seth Gilliam) und Herc (Domenick Lombardozzi) in der Pilotfolge diskutiert, dass „Krieg“ der falsche Begriff ist, weil ihm ein Ende folgt. Denn das Problem sind nicht die Drogendealer, sondern ihre Kunden. Und die verschwinden nicht. Und was macht man mit einem Krieg, den man nicht gewinnen kann? Man verlagert das Schlachtfeld weg von der Heimat.

So wird relativ früh in der dritten Staffel ein verlassenes Viertel eingeführt, in welches Colvin alle Dealer abzuschieben versucht, damit die Corner für die Bevölkerung frei werden. Als Lockmittel dient ihm das Versprechen, dass die Polizei den Drogengeschäften in jenem Viertel, von den Dealern rund um Bodie (J.D. Williams) missverständlich „Hamsterdam“ nach der Hauptstadt der Niederlande genannt, keinen Einhalt gebieten wird. Die Folge ist, dass in der bisher gelungensten Episode der gesamten Serie, Straight and True, Hamsterdam quasi zu einem Drogen-Outlet mutiert, in welches Colvins Männer wie Carver und Herc nur dazu da sind, zu vermeiden, dass es zu Gewaltausschreitungen und Morden kommt.

Die Resultate zeigen sich sofort: die Straßenecken sind leer, die Bürger können vor ihr Haus treten und zugleich kriegt jeder seine Drogen, die er davor auch bekommen hätte. Für Außenstehende wie McNulty, Greggs (Sonja Sohn) und Sydnor (Corey Parker Robinson) wirkt dies auf den ersten Blick zwar, als hätte Colvin Drogen legalisiert, stattdessen platzierte er sie jedoch, wie in All Due Respect formuliert, lediglich in eine Papiertüte. Für seine Dezernatsstatistik wirkt seine Entscheidung Wunder und auch auf die Beziehungen zwischen Polizisten und Dealern hat Hamsterdam einen scheinbar gesunden Einfluss. Dass dies nicht mehr wie eine Momentaufnahme sein kann, ist Colvin natürlich durchaus bewusst.

Ein weiterer Grund, weshalb Hamsterdam wohl möglich war, ist Strings Versuch, alle Drogenbosse von Baltimore wie Prop Joe (Robert F. Chew) zu einer Kooperation zu vereinen. Keine Gangfights mehr, da alle dasselbe Produkt verkaufen. Ein Plan, der weitestgehend aufgeht, abgesehen vom immer dramatischer werdenden Beef zwischen dem in Homecoming frühzeitig entlassenen Avon (Wood Harris) und dem aufsteigenden und gleichzeitig skrupellosen Marlo. Die dritte Staffel markiert diesbezüglich einen endgültigen Bruch zwischen String und Avon, der sich bereits im Vorjahr angekündigt hatte. Denn wo Avon sich weiterhin der Straße verschreibt („I want my corners.“), plant String seinen Milieuaufstieg.

In Hamsterdam wird er das erste Mal in Gesellschaft von Senator Clay Davies (Isiah Whitlock, Jr.) gezeigt, der bereits in der ersten Staffel in Kontakt zum Barksdale-Kartell stand. Damals wurde String auch als Besucher eines Makroökonomiekurses gezeigt, ein Feld, in welches er nun weiter vordringen und sich von der Illegalität der Straße abkapseln möchte. Damit folgt String dem Thema der Reformation, dem sich The Wire im dritten Jahr verschreibt. Eine solche strebt auch Carcetti an, wenn er leise Hoffnungen auf eine Kandidatur als Bürgermeister hegt. Und einer Reformation unterzieht sich der frisch entlassene Cutty (Chad Coleman), der nicht mehr im Stande ist, für Avon Drecksarbeit zu erledigen.

Inhaltlich driftet die Serie also wieder zurück zu den Drogendealern, die im Vorjahr eine Nebenhandlung waren. Dagegen gelingt es der neuen Blickrichtung gen Politik nicht ganz so prominent zu sein, wie zuvor den Docks von Baltimore. Dennoch vermag The Wire in seiner dritten Staffel erneut eine qualitative Schippe draufzulegen. Die charakterlichen Ergänzungen bilden dabei den Trumpf, den die Show verstärkt in der kommenden Staffel ausspielen wird. Speziell Carcetti ist eine extrem undurchsichtige Figur, deren Motivation zwischen Egozentrik und Altruismus schwankt und die somit zu vorsichtiger Sympathie einlädt. Anders verhält es sich da schon mit den übrigen Neuankömmlingen.

Zuerst scheint Jamie Hectors Marlo Stanfield ein Phantom zu sein, das nicht mal Bodie zu einem Gespräch bereit steht. Wie es Marlo geschafft hat, innerhalb von zwei Jahren eine derartige Stellung in Baltimores Westside einzunehmen, bleibt zwar offen, dennoch stellt er sich mit seinen beiden Soldaten Chris (Gbenga Akinnagbe) und der beängstigenden und zugleich auf bizarre Weise unterhaltsamen Snoop (Felicia Pearson) als ernstzunehmender Gegner für Avon und dessen Street Soldier Slim Charles (Anwan Glover) heraus. Letztere Rolle gebührt eigentlich auch Cutty, der sich jedoch von dieser Welt abzuwenden beginnt, was der Zuschauer primär dank Colemans sympathischem Spiel verfolgt.

Ebenso wie der Konflikt mit Marlo artet auch der Zwist mit Omar (Michael K. Williams) für das Barksdale-Kartell  im Laufe der Staffel weiter aus, während Omar zugleich in eine Nebenhandlung mit Bunk (Wendell Pierce) verstrickt wird. Andere beliebte Figuren wie Bubbles (Andre Royo) geraten dieses Jahr dafür etwas ins Hintertreffen. Zu ihnen zählt auch Kima, die vor der Verantwortung, nun Elternteil zu sein, ähnlich wie McNulty in Alkohol und Affären flüchtet und sich auch sonst hauptsächlich an dessen Fersen heftet (und damit Bunk ersetzt). Damit zählt sie jedoch neben McNulty und Daniels immer noch zum Triumvirat der Charaktere, denen The Wire einen tieferen Blick in ihr Privatleben zu gönnen bereit ist.

Obschon die dritte Staffel thematisch wieder weitestgehend am ersten Jahr anknüpft, wirkt The Wire inzwischen narrativ wie qualitativ stärker und überzeugender, was vielleicht auch mit der Vertrautheit und Identifikation zusammenhängt. Ein Grund könnte aber zudem sein, dass man zum Ende der Staffel dieses Mal nicht denselben Weg wählte, wie in den beiden Jahren zuvor. Neben der perfekten Folge Straight and True bleiben dabei besonders Middle Ground und Back Burners in Erinnerung. Und wenn The Wire schon nicht “television’s richest, most satisfying experience” ist, so ist Ken Tucker doch zuzustimmen: “No other TV project has come close to showing the humanity of both the victims and victimisers of crime“.

8.5/10

7. Januar 2011

The Wire - Season Two

It’s writings on the fucking wall.

Betrachtet man einen der ersten Sätze der Pilotstaffel von HBO’s The Wire (“This America, man“) und den abschließenden Satz der ersten Staffel von Omar (“It’s all in the game“), dann gibt die Serie von David Simon und Ed Burns auf gewisse Weise sehr schön wieder, wofür die USA einst standen und bisweilen auch immer noch stehen. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten verspricht den American Dream, wo man als Drogendealer tot auf der Straße oder wie Jay-Z als Multimillionär und Ehemann von Beyoncé enden kann. Und auch zwei andere Zitate aus der Vorgängerstaffel bewahrheiteten sich. Marla Daniels’ “You cannot loose if you don’t play“ ebenso wie Sydnors “I just feel like this just ain’t finished”.

Der Fall von Lieutenant Daniels (Lance Reddick) und seiner Einheit gegen Baltimores Westside-Drogenboss Avon Barksdale (Wood Harris) ging ziemlich in die Binsen. Zwar konnte immerhin Barksdale zu einer 7-jährigen Haftstrafe verurteilt werden, wie auch einige seiner Gangmitglieder um D’Angelo (Larry Gilliard Jr.) und Wee-Bey (Hassan Johnson) lange einsitzen müssen, doch letztlich nahm man nur einige Figuren vom Schachbrett. Das Spiel ist aber weiterhin im Gange. Während Stringer Bell (Idris Elba) nun die Fäden zieht und versucht, weiter guten Shit auf die Straße zu bekommen, müssen Daniels und McNulty (Dominic West) mit den beruflichen Konsequenzen ihrer Handlungen klar kommen.

In der zweiten Staffel verdoppelt The Wire seine Handlungsstränge. Besonders in den Fokus gerückt wird eine Gewerkschaft von Hafenarbeitern rund um ihren Gewerkschaftsleiter Frank Sobotka (Chris Bauer). Dieser lässt hin und wieder gemeinsam mit seinem Neffen Nick (Pablo Schneider) für eine kriminelle Gruppe „Griechen“ rund um deren Sprecher Spiros Vondopoulos (Paul Ben-Victor) einige Containerladungen vom Dock verschwinden. Als eine dieser Ladungen mit zwölf osteuropäischen Frauen nicht abgeholt wird und die sich darin befindenden Damen daraufhin ersticken, beginnt eine von zwei Ermittlungen des Baltimore Police Department, die im zweiten Jahr die Serie bestimmen.

Während der Mord der eingeschmuggelten Prostituierten der Mordkommission und damit Bunk (Wendell Pierce), sowie dem neu dorthin versetzten Freamon (Clarke Peters) und der Hafenpolizistin Beatrice „Beadie“ Russell (Amy Ryan), zufällt (und sich auch der zur Marineeinheit strafversetzte McNulty mit dem Fall beschäftigt), ruft Daniels seine alte Abhöreinheit wieder ins Leben. Aufgrund eines Streits bezüglich einer Kirchenstiftung geraten die beiden polnischstämmigen Sobotka und Major Stanislaus Valchek (Al Brown) aneinander. Inspiriert von den guten Worten seines Schwiegersohns Prez (Jim True-Frost), setzt Valchek fortan Daniels auf Sobotka und die illegalen Aktivitäten auf den Docks an.

So kommt es, dass die Serie ab der sechsten Folge Undertow quasi wieder in alter Besetzung ist, da Daniels neben Freamon, Prez, Herc (Domenick Lombardozzi) und Kima (Sonja Sohn) auch Carver (Seth Gilliam) ins Boot holt. Lediglich McNulty (der jedoch ab Duck and Cover dazu stößt) und Sydnor fehlen zur Komplettierung. Und spätestens ab hier beginnt The Wire auch den Bahnen seiner ersten Staffel zu folgen, wenn sich der Spannungsbogen quasi an der Blaupause des Vorjahres orientiert. Diese kreative Uninspiriertheit ließe sich natürlich kritisieren, fällt auch zumindest subtil negativ auf, allerdings wirkt das Szenario im zweiten Anlauf dennoch relativ sauber und bisweilen überzeugender als zuvor.

Dass auf den Docks nicht immer alles korrekt zugeht, ist seit On the Waterfront kein Geheimnis und wird auch von Beadie in ihrer ersten Szene ironisch impliziert. Dabei wird weniger Wert auf die eigentlichen Vorgänge auf dem Dock gelegt (obschon ein Mal auch einer der vielen Unfälle passiert), sondern stattdessen in das Leben der Hafenarbeiter geblickt.  Speziell in das von Nick, der auf nicht genug Arbeitsstunden kommt, um sich, seiner Freundin und der gemeinsamen Tochter eine Wohnung mieten zu können. Die sobotka’sche Milieustudie wird komplettiert durch Franks nichtsnutzigen Sohn Ziggy (James Ransone), der aus Geldmangel ebenfalls in Aktivitäten mit Spiros und den Griechen verwickelt wird.

Die beiden Haupthandlungsstränge folgen nun den Verwicklungen der Hafenarbeiter rund um die Sobotkas, sowie der Ermittlungen von Daniels, McNulty und Co. Zusätzlich begleitet The Wire jedoch auch weiterhin die Geschehnisse in den Projects und Corners der Westside Baltimores. Stringer Bell hat daran zu knabbern, dass durch Avons Abwesenheit sein Drogenlieferant abgesprungen ist und viele essentielle Leute wie Wee-Bey, Bird oder Stinkum ausgeschaltet sind. So avancieren Poot (Trey Chaney) und speziell Brodie (J.D. Williams) zu wichtigeren Spielern, denen mehr Verantwortung aufgelastet wird. Angesichts eines schwächelnden Produktes beginnt String jedoch immer mehr eigene Pläne zu schmieden.

Ab diesem Zeitpunkt wird auch der Eastside-Kingpin Prop Joe (Robert F. Chew) bedeutsamer, wenn viel Saatgut gestreut wird, das man in der dritten Staffel erntet. Diesbezüglich tauchen auch alte Gesichter wie Omar (Michael K. Williams) und Bubbles (Andre Royo) wieder auf, allerdings in weniger prominenten Rollen wie im Vorjahr. Der Fokus der Projects liegt stattdessen klar auf Stringers wachsender Kontrolle über Avons Business und welche Wege er bereit ist, für diese Kontrolle zu begehen. Zudem schlägt String die Brücke zur vierten Handlung rund um Avon und D'Angelo im Staatsgefängnis Jessup. Hier führt die Show die Entwicklungen von D’Angelo zu Ende, die sie in der ersten Staffel begonnen hat.

Nicht zu kurz kommt auch dieses Jahr der ein oder andere politische Seitenhieb. War es im Vorjahr das 9/11-Protokoll, das eine richtige Verurteilung von Avon verhindert hat, stellt die Justiz auch diesmal das ein oder andere Bein. So erklärt Rhonda (Deirdre Lovejoy) in Backwash, dass eine Abhörerlaubnis zwar für Drogendealer möglich ist, nicht jedoch für Menschenschmuggler. “That’s the law“, lautet die Entschuldigung. Und was möglich wäre, wenn alle Institutionen der USA von der Polizei über das FBI bis hin möglicherweise sogar zur NSA zusammenarbeiten täten, zeigt sich in der Folge Storm Warnings, wenn das FBI Daniels’ Einheit ihr GPS-Verfolgungssystem für ihre Ermittlungen zur Verfügung stellt.

In Storm Warnings findet sich auch die beste Episode der zweiten Staffel (sowie bisher in der Serie), obschon sich Folgen wie das Staffelfinale Port in a Storm, Collateral Damage, Backwash  und Stray Rounds ebenfalls vom Rest abheben. Ingesamt macht sich also eine Qualitätssteigerung bemerkbar und das trotz der angesprochenen inhaltlichen Abkupferungen aus dem Vorjahr (manche Ereignisse wirken direkt übernommen). Gelungen sind auch die weiterhin auftretenden humoristischen Auflockerungen, von Omars Gerichtsaussage gegen Bird über Bunks wie von McNulty vorhergesagte Unfähigkeit Alkohol zu vertragen, bis hin zu McNultys klassischem Standardausspruch “What the fuck did I do?“.

Ohnehin sind es auch weiterhin die Charaktere, die im Vordergrund stehen. So versucht McNulty seine Ehe wieder in Gang zu bringen, während Kimas Lebensgefährtin Planungen beginnt, eine Familie zu gründen. Bemerkenswert ist die Ehe zwischen Daniels und seiner Frau, mit der er wie in Backwash jede Karriere- und Dienstentscheidung bespricht. Dagegen halten sich Herc und Carver weiterhin im Hintergrund in ihrer Funktion als wandelnde Jokes. Die Tatsache, dass sich lediglich den Privatleben von Daniels, McNulty und Greggs gewidmet wird, zeigt ziemlich deutlich die Stellung, die diese Drei innerhalb des Polizeiensembles haben (selbst Freamon folgt die Kamera abseits der Truppe nie nach Hause).

Grundsätzlich fühlt sich die Serie aber auch nach dem zweiten Jahr nicht wirklich wie das Bedeutendste an, dass das Fernsehen je hervorgebracht hat. Die Fokusverschiebung auf die Docks tut The Wire gut, fügt ihr einen neuen Mosaikstein hinzu, ist jedoch angefüllt von altbekannten Klischees und damit kaum eine Neuerfindung des Rades. Nichtsdestotrotz funktioniert und unterhält die zweite Staffel als Ermittlerserie mit starken Charakteren noch eine Spur besser - primär ihrer bemerkenswerten Figuren wie McNulty, Bubbles, Omar oder des neu dazu gestoßene Brother Mouzone (Michael Potts) sei Dank. Am Ende ist nach der Ermittlung wieder vor der Ermittlung. Denn in The Wire sieht man sich immer zwei Mal.

8/10

3. Januar 2011

The Wire - Season One

You cannot lose if you do not play.

Der US-amerikanischen Pay-TV-Sender Home Box Office (HBO) ist eine Bank in den Vereinigten Staaten. Als erster Sender seiner Art besitzt er weitaus mehr finanzielle Mittel als seine Kollegen, was sich wiederum in der Qualität seiner Produkte niederschlägt. Hier liefen vielfach ausgezeichnete Mini-Serien wie Angels of America, Band of Brothers und The Pacific bis hin zu Drama-Serien und Kritikerlieblingen wie Oz, The Sopranos (21 Emmys), Six Feet Under, Deadwood, Rome und seit vergangenem Herbst auch das Prohibitionsdrama Boardwalk Empire. Und wenn man manchen Kritikern glauben schenken darf, dann zählt auch die beste Serie aller Zeiten zu den Flagschiffen von HBO: The Wire.

Zwar blieb der Show im Gegensatz zu den meisten seiner Senderkollegen sowohl ein Emmy als auch ein Golden Globe versagt, dennoch stand für das Branchenblatt Variety fest: “When television history is written, little else will rival The Wire“. Der Daily Telegraph hob die Serie  sogar auf ein Level mit Charles Dickens und Fjodor Dostojewski, was als konsequent erscheint, bedenkt man, dass The Wire inzwischen an US-Universitäten wie Harvard zum Unterrichtsplan gehört wie der Zweite Weltkrieg oder Molekularbiologie. Seine Ursache findet dies in der vielfach proklamierten Authentizität der Show, die auf realen Erfahrungen (“The storylines were stolen from real life“) der Serienschöpfer David Simon und Ed Burns fußt.

Während Simon einst Kriminalreporter der Zeitung Baltimore Sun war, gehörte Ed Burns der Mordkommission des Baltimore Police Department an. Ihre Verbundenheit zu und Kenntnis von Baltimore im US-Bundesstaat Maryland, zugleich Handlungsort der Serie, sind mit der ausschlaggebende Punkt für den viel gerühmten realen Anstrich von The Wire. Denn jede der fünf Staffeln, die sich letztlich zu einem sozial-urbanen Mosaik zusammenfügen, fokussiert sich auf eine andere Institution der Stadt, die im regionalen Slang nicht von ungefähr „Bodymore, Murdaland“ genannt wird. So hatte Baltimore 2009 prozentual gesehen in den USA die vierthöchste Rate sowohl was Schwerverbrechen als auch Mord anging.

Der Serienauftakt ist bemerkenswert und ungewöhnlich, denn er steht weniger für den Inhalt der ersten Staffel, sondern stattdessen für den Ton, der sich später in verschiedenen Dialogen wiederfinden wird. Wir lernen den Mordermittler Jimmy McNulty (Dominic West) kennen, der einen Zeugen aus dem Drogenmilieu nach einem auf der Straße liegenden Toten befragt. Dieser nahm immer wieder an illegalen Würfelspielen teil und stahl anschließend den Wetteinsatz. Jedes Mal wurde er daraufhin verfolgt und mit einer Tracht Prügel gezüchtigt. Es ist McNulty, der die Frage des Publikums ausformuliert: Warum hat man ihn immer wieder mitspielen lassen? Die Antwort ist so simpel wie kryptisch: “This America, man“.

Die darauffolgende Szene führt zu einem Gerichtsprozess gegen D’Angelo Barksdale (Larry Gilliard Jr.). Es ist kaum Publikum da, auf der linken Seite sitzt vereinsamt Stringer Bell (Idris Elba), ein adrett gekleideter, bebrillter Afroamerikaner, der dem Fall mal mehr und mal weniger aufmerksam folgt. Ihm gegenüber setzt sich McNulty hin, während eine Zeugin, die D’Angelo als Mörder identifizieren soll, von Stringers Anwesenheit eingeschüchtert wird. Ihre Aussage wird zum Fiasko für die Staatsanwaltschaft, der Fall ist damit zum Scheitern verurteilt. McNulty steht wieder auf, beugt sich beim Gehen zu Stringer herunter und sagt: “Nicely done“. Es ist eine weitere, die erste Staffel definierende Szene.

David Simon und Ed Burns erzählen grundsätzlich von zwei Parteien. Auf der einen Seite stehen die polizeilichen Ermittler rund um McNulty, der nach dem Prozess beim beteiligten Richter „petzen“ geht und damit dafür sorgt, dass dieser eine Sondereinheit gegen D’Angelos ominösen Onkel, Avon Barksdale (Wood Harris), und dessen Drogengeschäfte auf Baltimores Westside ins Leben ruft. Die Leitung wird Lieutenant Daniels (Lance Reddick) übertragen, von dem McNulty später mittels seines FBI-Kontaktmannes hört, dass er korrupt sei. Während für alle in die Einheit versetzten Beamten ihre neue Aufgabe eine „Strafe“ darstellt, scheint McNulty in seinem Element - zumindest so lange der Fall läuft.

McNulty “got this fucking case in his gut like it’s cancer“, wie es sein Vorgesetzter ausdrückt. Und was McNulty auszeichnet, ist die Tatsache, dass er ein guter Polizist ist. Klar, er hat die typischen Eigenschaften eines jeden Filmbullen: Eine Ex-Frau, mit der er im Sorgerechtsstreit ist, und ein Alkoholproblem. Aber wer hat das nicht, ist doch auch sein Partner Bunk (Wendell Pierce) einem Abstecher in die Kneipe nach Feierabend nicht abgeneigt. Und wo ihr Einheitsleiter Colonel Rawls (John Dorman) ebenso gerne die Karten sicher spielt wie es Daniels tut (die Karriere geht vor und jeder ist sich selbst der Nächste), stechen idealistische Ermittler wie McNulty oder seine neue Kollegin Kima Greggs (Sonja Sohn) eben heraus.

Die andere Seite wiederum wird von Avon Barksdale und seinem Drogenkartell eingenommen. Ist Avon zu Beginn noch ein scheinbares Phantom, von dem bisher nur McNulty gehört hat, Daniels und seine Drogenkommission jedoch nicht, erhält er für die Spezialeinheit in der dritten Episode The Buys schließlich ein Gesicht (was nichts daran ändert, dass zwei der - zugegeben eher unterbelichteten - Cops ihn sechs Folgen später in Game Day trotzdem nicht erkennen. So wie das Baltimore Police Department im Serienauftakt The Target dank McNulty auf Avon aufmerksam wird, berichtet Stringer nach D’Angelos Prozess vom steigenden Interesse der Polizei. Und damit beginnt die Staffelhandlung.

In der Gerichtssaalszene sah man nun auf der einen Seite Stringer sowie ihm gegenüber McNulty, und wenn man beide Parteien wortwörtlich als auch symbolisch einer schwarzen und einer weißen Welt gleichsetzt, dann ist der im Vordergrund sitzende D’Angelo neben ein paar anderen Figuren fraglos einer Grauzone zuzuordnen. Seine Involvierung in Avons Geschäft bezeichnet er später mit den Worten: “It’s just what we do“. So waren bereits sein Vater und ein anderer Onkel, ebenso wie seine Mutter involviert. Dennoch ist es speziell für D’Angelo eher ein “it’s what I do“, denn ein “it’s what I want to do“. Dass er ein Gewissen besitzt, wird bereits in der zweiten Folge The Detail und auch anschließend vereinzelt gezeigt.

Auch andere Figuren wirken hin- und hergerissen und bewegen sich in der Grauzone. Beispielsweise D’Angelos „Angestellter“ Wallace (Michael B. Jordan), der sich, wie man in der Folge The Wire sieht, aufopferungsvoll um die kleineren Jungs im Ghetto (hier: project oder terrace) kümmert. Er versorgt sie mit Essen, schickt sie zur Schule oder ins Bett. Dass selbst Gangster (sogar die ziemlich miesen) nur Menschen sind, sieht man auch an Wee-Bey (Hassan Johnson), der eine absurd anmutende Affinität zu Fischen entwickelt hat. Doch tiefere Einblicke in das Leben von Barksdales Crew sind in der ersten Staffel eine Ausnahme. Hinter die (berufliche) Fassade blickt die Serie eher bei den Mitgliedern der Spezialeinheit.

Allerdings wird auch hier Vieles (vorerst) nur angerissen. So dient die Tatsache, dass Daniels vor einiger Zeit korrupt war, eher dazu, ihn bei McNulty und dem Publikum ins Zwielicht zu rücken, damit der Figur eine Katharsis verliehen werden kann. Etwas bedauerlich ist zudem, dass - obschon es löblich ist, eine Beamtin als Homosexuelle zu schreiben - es doch so wirkt (McNulty referiert dies in einer Szene sogar speziell), als ob nur Lesben wie Greggs mit den Männern in der Polizei mithalten können. Zwar ist die Staatsanwältin (Deirde Lovejoy) auch eine der wenigen Frauen in der Welt von The Wire, ihre größte Funktion hat sie hier jedoch als Geliebte von McNulty und zugleich Trennungsgrund von seiner Frau.

Jenseits von McNulty, Greggs und Daniels wird die Figurenzeichnung dann schon sparsamer. Zwar werden Charaktere wie der zuvor nutzlose Prez (Jim True-Frost) und insbesondere Lester Freamon (Clarke Peters), den Bunk als “natural police“ bezeichnet, immer wertvoller, andere dagegen wie gerade Sydnor (Corey Parker Robinson), aber auch das dusselige Duo Herc (Domenick Lombardozzi) und Carver (Seth Gilliam), bleiben weitestgehend Nebenrollen überlassen. Ein viel versprechender Subplot von eben jenen Herc und Carver mit dem Project-Teen Bodie (J.D. Williams) wird sogar irgendwann fallengelassen und gegen einen anderen Subplot (der ebenfalls daraufhin vorerst verschwindet) ausgetauscht.

Zwar konzentriert sich die Haupthandlung der Serie auf die Ermittlungen der Spezialeinheit gegen Barksdale mittels einer titelgebenden Abhörung, dennoch ist The Wire eine Serie, die primär von ihren Charakteren bestimmt wird. So zählen Omar (Michael K. Williams), eine Art Ghetto Robin Hood, der seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, andere Gangster zu überfallen, und Bubbles (Andre Royo), ein Heroinjunkie und Polizeiinformant aus Rache, zu den interessantesten und vermutlich auch vielschichtigsten Figuren (im Vergleich zu Herc allemal). Weshalb es in den fast einstündigen Folgen im Grunde auch weniger darum geht, die Handlung voran zu bringen (was nicht bedeutet, dass nichts geschieht).

Dass die Show dabei als Ganzes betrachtet einen vielseitigen und -schichtigen Blick auf sozial-urbanes Leben wirft, soll nicht bestritten werden. Für sich genommen unterscheidet die erste Staffel jedoch nicht viel von einem x-beliebigen Polizeidrama wie Southland, sieht man davon ab, dass es Serien wie diese vermutlich ohne The Wire nicht gäbe und sie sich auch bevorzugt auf die Darstellung der Polizei oder eben (wie im Fall von The Sopranos) der Kriminellen beschränken. Dennoch ist die erste Staffel zweifellos gelungen, mit einigen sympathischen Figuren (speziell Idris Elbas Stringer Bell ist schlicht „too cool for school“), die sich - wie auch die Handlung, in die sie involviert sind - weiterentwickeln.

Ein Aspekt, der The Wire von anderen HBO-Serien wie zum Beispiel True Blood unterscheidet und die Serie insofern sicherlich zu einem der besten Produkte des Privatsenders macht. Hierbei ragen in der ersten Staffel besonders Folgen wie The Wire, One Arrest oder Cleaning Up heraus, die eben auch derartige Veränderungen im Charakterverhalten oder Handlungsverlauf deutlich machen. Zugleich bekräftigt Simons und Burns' Show, dass noch Raum für Fortschritte besteht. Schließlich ist dies bisher nur ein Mosaikstein eines größeren Ganzen. Insofern stimmt es sowohl für die Entwicklungen der ersten Staffel wie auch für die Serie selbst, wenn Sydnor in Cleaning Up sagt: “I just feel like this just ain’t finished“.

8/10