(Lav Diaz)
Hello again: Entgegen aller Hoffnungen, hielt sich die Corona-Pandemie auch im vergangenen Jahr 2021 wacker, bestimmte das gesellschaftliche Leben überall, unter anderem auch in Form von monatelangen Lockdowns sowie Ein- und Beschränkungen für den kulturellen Bereich. Hier im Blog war ebenfalls nichts los, weniger der Pandemie geschuldet als ein Mangel an Zeit, um jene Reviews zu fabrizieren, die in den jüngsten Jahren ohnehin eher als privates Selbstdokument dienten, denn rezipiert wurden. Obschon das Blog zuletzt verharrte, soll doch nun wieder der Filmjahresrückblick mit seiner obligatorischen Top Ten Würdigung finden. Obgleich stark aufs Essentielle reduziert, ohne jenen Umfang, der ihn seit 2007 auszeichnete.
Mit 106 Filmen habe ich vergleichsweise wenige, zumindest gegenüber früher – selbst 2020 waren es 137 –, aktuelle Werke gesehen. Lockdowns und 2G+-Regelungen zum Trotz kam ich doch auf zumindest drei Kinobesuche, nur einen weniger als im Jahr davor. Das cineastische Leben spielte sich überwiegend im Streaming-Bereich ab und doch vermochte immerhin Spider-Man: No Way Home im Dezember mit einem Einspiel von über 1,5 Milliarden Dollar an die „gute alte“ Zeit anzuknüpfen, schwang sich damit zum erfolgreichsten Film des Kinojahres auf. Es folgen – wie 2020 – aus China der Historienfilm Zhang jin hu [The Battle at Lake Changjin] und die Fantasy-Komödie Ni hao, Li Huan Ying [Hi, Mom] auf den Plätzen 2 und 3.
Wirklich Tempo nahm das Kino im Westen erst zum Jahresende auf, angesichts lang erwarteter Veröffentlichungen wie Daniel Craigs Bond-Abschied No Time to Die oder Blockbuster-Spektakel wie das jüngste MCU-Vehikel um Spider-Man. In der Publikumsgunst der Internet Movie Database (IMDb) lag aber ein indisches Justiz-Drama mit Jai Bhim (9.4/10) auf Platz Eins, gefolgt von Spider-Man: No Way Home (8.8/10) und dem Alzheimer-Drama The Father (8.3/10). Ein eher durchwachsenes Jahr, was sich auch bei meinen zehn Favoriten zeigt, die nicht alle besonders herausragende Werke sind, aber nichtsdestotrotz im abgelaufenen Jahr für mich (noch) die zehn besten Filme von 2021 markierten (das ganze Ranking bei Letterboxd):
10. Synchronic (Justin Benson/Aaron Moorhead, USA 2019): Eine Designerdroge lässt Menschen im neuesten Science-Fiction-Film von Justin Benson und Aaron Moorhead Zeit non-linear erleben – meist mit tödlichem Ausgang. Ein solcher erwartet in Synchronic auch Anthony Mackies Rettungssanitäter aufgrund einer Hirntumor-Diagnose, weshalb er sich wagemutig auf die Suche nach der vermissten Tochter seines Kollegen und Freundes macht. Die Chemie zwischen den Hauptdarstellern und die meist gefälligen visuellen Spielereien trösten in diesem innovativen Zeitreisefilm über die ein oder andere unausgegorene Drehbuchstelle inklusive Rassismuskritik hinweg.
9. Mass (Fran Kranz, USA 2021): In Fran Kranz’ Debütfilm Mass treffen sich zwei Paare in einem Kirchenhinterzimmer zur Traumabewältigung eines tragischen Vorfalls einige Jahre zuvor. Schuld und Sühne, Vergebung und Vergessen stehen im Raum, um eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden, einen Verantwortlichen für den Schmerz im Leben aller Beteiligten. Gerade im ersten Akt ist das kongenial mit bedacht inszeniert, verliert sich dann allerdings in seinem Mittelteil ein wenig zu sehr in Klischees und dramatischem Übereifer, bleibt jedoch aufgrund seines überzeugenden fünfköpfigen Ensembles bis zum Schluss durchweg großes Schauspielkino.
8. Quo vadis, Aida? (Jasmila Žbanić, BIH/D/NL 2020): Hilfsbereitschaft trifft auf Machtlosigkeit, Engagement auf Unwillen in Žbanićs historisch inspiriertem Drama Quo vadis, Aida? über das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, wenn niederländische Blauhelm-Soldaten den Völkermord an über 8.000 Bosniaken geschehen lassen, rekonstruiert um die Erlebnisse der einzelnen Familie von Jasna Đuričićs gespielter Dolmetscherin, die buchstäblich zwischen den Fronten steht. Frustrierend, erschütternd, erzürnend, betrübend – die Spannbreite an Emotionen ist breitgefächert, zumal sich am Schluss zeigt, dass die eigentliche Tragik mit dem Krieg nicht ihr Ende fand.
7. The French Dispatch (Wes Anderson, USA/D 2021): Auch in seinem jüngsten Film bleibt sich Wes Anderson seinem inzwischen etablierten Stil treu, indem er schrullige Figuren dieses Mal in einer Ode an den Magazinjournalismus dem Wahnsinn Herr werden lässt. Mehrere kleinere Segmente hätten die Facetten von The French Dispatch womöglich mehr bereichert als der Fokus auf drei in der Folge etwas langatmigere Geschichten (und auch Elisabeth Moss mehr zu tun gegeben), doch das charmante Flair und der bekannte Style tragen das Konzept auch hier, während von den vier Geschichten vermutlich die ersten beiden noch die stärksten Beiträge markieren.
6. The Rescue (Jimmy Chin/Elizabeth Chai Vasarhelyi UK/USA 2021): Die meisten Menschen werden vor drei Jahren vermutlich mitbekommen haben, dass während der Monsun-Saison eine thailändische Jugend-Fußballmannschaft im überschwemmten Tham-Luang-Höhlensystem eingesperrt war. Jimmy Chin und Elizabeth Chai Vasarhelyi gelingt es in The Rescue mittels geschicktem Reenactment und Talking Heads die entscheidende Rolle und den Einfluss einer Gruppe britischer privater Höhlentaucher spannend mit der Rettungsaktion von damals zu verknüpfen und dabei Hintergründe und Zusammenhänge zu beleuchten, die (zumindest mir) unbekannt waren.
5. The Card Counter (Paul Schrader, USA/UK/RC/S 2021): Paul Schraders zwischenmenschliches Drama über die charakterliche Resozialisierung eines Kriegsverbrecher-Sündenbocks, charismatisch-kühl porträtiert von Oscar Isaac, gerät weitestgehend zurückgenommen. Würde The Card Counter nicht der vermeintlichen Pflichtschuldigkeit verfallen, Laien das Konzept von Poker erklären zu wollen (zumal der Spielverlauf für das Narrativ keine Relevanz hat) und sich mit klischeebehafteten sowie wenig aufschlussreichen Rückblenden zu seinem Abu-Ghuraib-Subplot aufhalten, deren Inhalt rein referenziell genügt hätten, wäre das Ergebnis noch runder ausgefallen.
4. Gûzen to sôzô (Hamaguchi Ryûsuke, J 2021): In drei separaten Erzählungen lässt Hamaguchi in seinem Episodenfilm Gûzen to sôzô [Wheel of Fortune and Fantasy] über Zufälle und Vorstellungen jeweils zwei Menschen einander konfrontieren, die nicht sind, wer sie zu sein vorgeben, und gleichzeitig ihrem Gegenüber durch ihre Interaktion neue Erkenntnisse nicht nur über ihre Beziehung zu sich, sondern auch zu ihrem Gesprächspartner vermitteln. Gerät das Mittelstück “Door Wide Open” wahrscheinlich am interessantesten, bildet “Once Again” auf tonaler Ebene im Vergleich zu den beiden vorherigen Anekdoten einen deutlich humaneren und harmonischeren Abschluss.
3. Retfærdighedens ryttere (Anders Thomas Jensen, S/DK/FIN 2020): Auch Anders Thomas Jensens jüngste schwarze Komödie Retfærdighedens ryttere [Riders of Justice] wird von Zufällen bestimmt, wenn Soldat Markus (Mads Mikkelsen) den plötzlichen Unfalltod seiner Frau nur dadurch zu verarbeiten vermag, indem er sich in einen Rachefeldzug gegen eine hiesige Biker-Gang verstricken lässt. Im Kern geht es hier natürlich um Traumaverarbeitung, nicht nur für den wie immer großartigen Mikkelsen und seine Filmtochter, sondern auch jene Gruppe scheinbar sozial abgehängter Männer, die über Markus’ Vendetta mit ihrer eigenen Vergangenheit abzuschließen lernen.
2. Pig (Michael Sarnoski, USA/UK 2021): Man muss es zu schätzen wissen, dass bei der inzwischen fast Handvoll Filmen, die Nicolas Cage jährlich eher als Arbeits-, denn Künstlerpflicht in seine Vita einträgt, der selbsternannte Thespier doch noch nuanciert schauspielern kann, wenn er entsprechend angeleitet wird. So wie in Michael Sarnoskis Pig, in dem sich Cages Figur verbal wie allgemein auf das Mindeste beschränkt, während sie mit ihrem Trüffelschwein im Wald lebt. Bis das Tier entführt wird – und damit die Welt der Figur, nicht zum ersten Mal, aus den Fugen gerät. Das Resultat erinnert an einen John Wick-Film, der gänzlich von der Last seiner Action befreit ist.
1. Doraibu mai kâ (Hamaguchi Ryûsuke, J 2021): Den Verlust der Ehefrau gilt es ebenso in Hamaguchis zweiten Film dieses Jahr aufzuarbeiten. In Doraibu mai kâ [Drive My Car] inszeniert Theaterregisseur Kafuku ein international besetztes Stück in Hiroshima – dass es sich dabei um Tschechows „Onkel Wanja“ handelt, mag nicht von ungefähr kommen, ähneln Figuren wie Misaki, Takatsuki und Co. doch jenen des Stücks, die abseits ihres Potentials scheinst lethargisch in ihrem Status quo verharren – am meisten wohl Regisseur Kafuku, gefangen in Wiederholungsinszenierungen von Tschechow. Zumindest Hamaguchi-san hat 2021 sein Potential ausgeschöpft.