7. November 2025

O agente secreto [The Secret Agent]

Yours is the case I want to solve the most. 

Als gar nicht mal so schlecht befand vor sieben Jahren der damalige Präsidentschaftskandidat – und spätere Sieger – Jair Bolsonaro die brasilianische Militärdiktatur, die zwei Jahrzehnte herrschte. Ihr sei es zu verdanken, dass das Land nicht unter den Daumen der Sowjetunion geriet. Der Zwiespalt zwischen Autokratie und Liberalismus ist ein unterschwellig vorherrschender in O agente secreto [The Secret Agent], dem neuen Film von Kleber Mendonça Filho, der im Recife von 1977 angesiedelt ist. Sie sei als Kommunistin erachtet worden, dann als Anarchistin – vielleicht aber auch andersherum, erzählt da die rüstige Dona Sebastiana (Tânia Maria) über ihre Zeit von 1936 bis 1942 in Italien, ehe sie in ihre Heimat zurückkehrte. 

Es ist ein Film, der sich der Erinnerung widmet. Allen voran der Erinnerung von Mendonça Filho an seine Heimatstadt Mitte der 1970er Jahre, als der Auteur ein kleiner Junge war. Auch O agente secreto verfügt über einen solchen: Fernando (Enzo Nulles) hat vor einigen Monaten seine Mutter Fátima (Alice Carvalho) verloren, nun lebt er bei seinen Großeltern, ehe wider Erwarten sein Vater Armando (Wagner Moura) erneut auf der Bildfläche erscheint. Der hört aktuell auf den Namen Marcelo, bedarf einer neuen Identität und findet nebst anderen Unterschlupf in der Wohnanlage von Dona Sebastiana. Was genau führte Armando dorthin, wo er nun ist? Das ist eine Frage, die zu beantworten der Film nur peripher anstrebt.

Kleber Mendonça Filho ist eher interessiert, ein Gefühl vom damaligen Brasilien allgemein, aber von Recife insbesondere wiederzugeben. Von der Kultur, den Menschen, der Stimmung im Land. Hierbei spielt auch ein Kino eine Rolle, in welchem Armandos Schwiegervater Señor Alexandre (Carlos Francisco) als Filmvorführer arbeitet. Mendonça Filho evoziert hier bewusst das São Luiz Cinema, während Señor Alexandre nach einem Filmvorführer des damals konkurrierenden Art Palácio Kinos benannt ist. Facetten und kulturelle Aspekte, denen sich der Regisseur zuletzt in seiner Dokumentation Retratos fantasmas [Pictures of Ghosts] widmete, mit autobiografischen Zügen und Bezügen zu seinem Debüt O som ao redor [Neighboring Sounds].

Zwar schwebt das Noir-Thriller-Element um Armando über dem Gros der zweieinhalb Stunden gehenden Handlung, in gewisser Weise spielt dies aber alles nur im Hintergrund, wie ein späterer narrativer Eingriff unterstreicht. O agente secreto reüssiert vorweg durch die zwischenmenschlichen Interaktionen und kleinen Momente, beispielsweise eine zweiköpfige Katze, die Dona Sebastianas Nichte in jener Wohnung hinterließ, die nun Armando beheimatet, Sicherheitsleuten, die sich sexuell am Arbeitsplatz verlustieren, oder Kinovorführungen, die Fellatio maskieren. Der Film verortet sich anfangs selbst in eine Zeit des “mischief”, was vorrangig den Missstand unter der Regierung bezeichnet, aber auch als Unfug gelesen werden kann.

Die Spannung – oder: Anspannung – ist aber fraglos der misslichen Lage Armandos zuzuordnen. Er geriet ein paar Jahre zuvor als Fakultätsleiter seiner Universität mit dem Regierungsvertreter Ghirotti (Luciano Chirolli) aneinander. Der heuert nun aus Vergeltung zwei Auftragskiller an. Allzu viel näher ins Detail geht Mendonça Filho dabei nicht, viele Handlungselemente reißt der Film so weit an, dass man sich ein Bild machen kann, auch wenn man nur einen Teil von diesem sieht. Dazu gehört auch der korrupte Polizeichef Euclides (Robério Diógenes), der sich mit seinen Söhnen den Überresten eines eigenen Opfers entledigen muss, zugleich aber Sympathien gegenüber Armando entwickelt, der im Bürgeramt nebenan anheuert.

“O teu caso é o que eu mais quero resolver”, gesteht im Verlauf die Aktivistin Elza (Maria Fernanda Cândido) gegenüber Armando. Sein Fall sei es, den sie besonders lösen will. Wie sich zeigen wird, ist sie dabei nicht alleine – Kleber Mendonça Filho hat dagegen andere Prioritäten, weshalb O agente secreto gerade in seinem Schlussakt an der ein oder anderen Stelle an No Country for Old Men erinnert. Wieso verschwand Armando die letzten Monate aus dem Leben seines Sohnes? Warum genau will Ghirotti ihn töten lassen? Aus welchem Grund nimmt Euclides den ihm unbekannten Armando unter seine Fittiche? Fragen, die nicht zwingend Antworten bedürfen und die man, so man sie denn wünscht, selbst finden muss – zwischen den Zeilen.

Während Elza den Fall von Armando klären will, ist dieser im Bürgeramt auf der Suche nach Anhaltspunkten und Dokumenten zu seiner Mutter, die er lediglich aus der Erinnerung kennt. Was ihn mit Fernando eint, der Fátima nur noch in dieser wahrnehmen kann, gleichzeitig aber droht, auch diese allmählich zu verlieren. Armandos Wohnung, mit all dem hinterlassenen Mobiliar nebst Bildern, ist selbst ein gelebter Raum der Erinnerung an Dona Sebastianas Nichte, die ebenfalls verstorben ist. Erinnerungskultur der anderen, perfideren, Art pflegt derweil Euclides für den Schneider und Holocaust-Überlebenden Hans (Udo Kier), den der Polizeichef für einen flüchtigen NS-Soldaten hält und immerzu seine Narben sehen will.

Insofern ist O agente secreto ein Film sowohl über das Vergessen als auch das Erinnern; über den Wunsch, einer Situation zu entfliehen und wieder zu einem besseren Alltag zurückzukehren. Die brasilianische Militärdiktatur von einst erlebt man hierbei mehr in Facetten und Nuancen, eher in kurzen Momenten, wie der Auftaktszene. Das dargestellte Jahr 1977 fiel bereits in die Präsidentschaft von Ernesto Geisel, der via distensão den Prozess der abertura einleitete, also durch Entspannung eine liberale Öffnung auslöste – und dadurch wohl mit einen Grundstein für das Ende der Militärdiktatur acht Jahre später legen sollte. Die Mischung aus Neo-Noir und Zeitdokument weiß dabei die meiste Zeit der kurzweiligen 158 Minuten zu fesseln.

Dies verdankt sich auch der Kameraarbeit von Evgenia Alexandrova, die den Film mit Panavision-Linsen drehte, was ihm sehr zugute kommt und ein gefälliges Period Piece kreiert. Wie so oft bedarf es eines überzeugenden Ensembles, um die (Lebens-)Welten von Mendonça Filho zu erwecken: Wagner Moura trägt den Film gekonnt mit all seiner Erfahrung, während die Warmherzigkeit von Tânia Maria oder Carlos Francisco in gewisser Weise das Herz von O agente secreto markiert. Man muss diejenigen, die man liebt, beschützen, erinnert Señor Alexandre seinen Schwiegersohn. Das trifft letztlich auch auf die Erinnerung an diese Menschen zu – erinnern wir uns nicht mehr an sie, bleibt zu hoffen, wenigstens jemand anderes tut es.

7/10