27. Dezember 2025

Zuopiezi nuhai [Left-Handed Girl]

Today’s youth… unbelievable.

Eine von Konfuzius’ Lehren lautet: “study the past if you would define the future” – oder umgangssprachlich: Aus Fehlern lernen. Ein Prozess, aus dem sich Erfahrung generiert. Lebenserfahrung, wenn man so will. Fehler sind somit in gewisser Weise der Pfad von der Kindheit ins Erwachsenenalter. In Shih-Ching Tsous erster Solo-Regiearbeit Zuopiezi nuhai [Left-Handed Girl] gibt es eigentlich keine Figur, die nicht auf eine Ansammlung von Fehlern zurückblickt – und gleichzeitig auch über die Filmlaufzeit weiterhin solche begeht. Sie alle hadern mit ihrem Leben und ihrer Situation, mitunter hilft es nur, die alte Identität abzuschütteln und eine neue anzunehmen. Insbesondere den beiden Hauptfiguren steht diese Option aber nicht offen.

Nach einigen Jahren kehrt Shu-Fen (Janel Tsai) mit ihren Töchtern I-Ann (Shih-Yuan Ma) und I-Jing (Nina Ye) zurück nach Taipei. Die Familie strebt nach einem Neuanfang, ein Nudel-Imbiss in einer der vielen Einkaufsstraßen soll den Weg hierzu ebnen. I-Ann hält von den Plänen ihrer Mutter nicht viel, verfügt aber selbst aufgrund ihrer abgebrochenen Schulausbildung über wenig Handlungsspielraum. “If you make money, you can have opinions”, macht ihr Shu-Fen klar. Meinungsfreiheit ist etwas, das man sich leisten können muss. Wobei es weniger um Meinungen geht, als um Optionen. Und um die Entscheidungen, die man trifft. Und mit deren Konsequenzen man zu leben hat – oft über viele Jahrzehnte hinweg. Teilweise bis zum Tod.

I-Jing ist hierbei die jüngste Generation, die womöglich droht, in diesen Malström hineingezogen zu werden, auch deswegen, weil die Erwachsenen um sie herum ihr wenig Beachtung schenken und damit ihre Erziehung vernachlässigen. “Why are you so aggressive?”, fragt das Mädchen in einer Szene keck die große Schwester. Eigentlich eine rhetorische Frage, da I-Anns Frust nicht aus einer Situation heraus geboren ist, vielmehr ist die junge Frau um die 20 mit ihrer Gesamtsituation unzufrieden. Ihr bleibt nur die Option, sich als Betelnuss-Mädchen zu verdingen, während ihre ehemaligen Schulkameraden ihr Glück an der Universität versuchen – aber selbst sie ändern hierfür ihre Namen, um dort bessere Aussichten zu haben.

Ein neuer Name, eine neue Identität, ein neuer Anfang, ein neues Leben – das würde vermutlich neben I-Ann ihre Mutter sofort unterschreiben. Shu-Fen schleppt mit ihren Töchtern nicht nur zwei personifizierte Ergebnisse früherer Entscheidungen mit sich herum, eine solche holt sie schließlich auch ein, als ihr Mann und I-Anns Vater im Krankenhaus seinen letzten Tagen entgegenblickt. Er hat die Familie einst verlassen – oder diese ihn, aufgrund seiner eigenen Entscheidungen. “No apologies or explanations”, ätzt I-Ann, als sie ihren Erzeuger doch besucht, obwohl sie hierfür zuvor kein Interesse an den Tag legte. Entschuldigungen, Erklärungen, Erzeuger, Entscheidungen – Left-Handed Girl skizziert dies als generationsübergreifendes Problem.

“A married daughter’s like water that’s poured out”, begründet Shu-Fens Mutter A-Ming (Teng-hung Hsia) ihren Unwillen, der Tochter mal wieder finanziell unter die Arme zu greifen, als die bei ihrer Stand-Miete wegen der Krankenhausrechnungen ihres Mannes hinterher ist. Auch ihre anderen Töchter hatten in der Vergangenheit ihre Probleme, wie wir erfahren. Nur der einzige Sohn, der sich ins Ausland abgesetzt hat, scheint wenig zu bereuen – allenfalls später, dass er in die Heimat zurückgekommen ist. I-Jing versucht diese Welt der Erwachsenen auf ihre Weise zu navigieren, eine abergläubische Bemerkung ihres Großvaters bezüglich ihrer Linkshändigkeit verunsichert aber in der Folge dann auch zunehmend sie.

Left-Handed Girl weist in Sachen Tonalität viele Anleihen der Werke von Sean Baker auf, mit dem Shih-Ching Tsou einst Take Out inszenierte, Tsou dann in der Folge die Werke Bakers produzierte – mit Ausnahme seines Oscar-Preisträgers Anora, da die Regisseurin mit ihrer Produktion für ihr Solo-Debüt beschäftigt war. Baker unterstützt sie hier beim Drehbuch und übernahm auch den Schnitt, es dürfte zudem kein Zufall sein, dass Shu-Fens sympathischer Standnachbar Johnny (Teng-Hui Huang) mit seiner Frisur wie ein taiwanisches Double ihres langjährigen Produktionspartners aussieht. Left-Handed Girl erinnert stark an Bakers Meisterwerk The Florida Project, insbesondere aufgrund des emotionalen Fokus auf Nina Ye.

Die liefert eine herzwärmende Darbietung, hier eine Schnute ziehend, dort eine Träne zurückhaltend, ein Pendant zu Florida Projects Brooklynn Prince, ohne deren charmante Obszönität. Janel Tsai perfektioniert die geplättete Erschöpfung einer Mutter, leidet aber darunter, dass der Film für sie weniger Aufmerksamkeit übrig hat, als für ihre Töchter. Shu-Fen, so scheint es, steht keine Kurskorrektur mehr offen in ihrem Leben, höchstens insofern, als dass sie die Tauleine zu ihrer ältesten Tochter lösen muss respektive diese sich emanzipieren. Shih-Yuan Ma überzeugt dabei in ihren ruhigeren Momenten von I-Anns Ohnmacht mehr als in den emotionalen Ausbrüchen ihrer Frustration, aber alle drei Frauen tragen den Film darstellerisch problemlos.

Und dafür, dass er mit einem iPhone gedreht wurde, ist er durchaus ansehnlich, wenn auch in dem ein oder anderen Moment etwas überbelichtet und zu hell. Doch Taipeh als Setting überzeugt ebenso wie das Schauspielensemble, Sean Bakers dynamischer Schnitt und die musikalische Untermalung, die ebenfalls von Lorne Balfes Score zu The Florida Project inspiriert scheint. In seinen finalen 20 Minuten zwingt sich Zuopiezi nuhai allerdings etwas unnötig in ein zu dramatisches Korsett hinein, das es gar nicht wirklich gebraucht hätte; scheinbar, damit sich die Hauptfiguren einer abschließenden Katharsis gegenübersehen – und einer entscheidenden Entscheidung, um aus einem Fehler doch noch eine Erfahrung zu machen.

“Better a diamond with a flaw than a pebble without”, sagte Konfuzius ebenso, fast, als spräche er über I-Ann und Shu-Fen. Shih-Ching Tsou beweist, dass sie hinter der Kamera auch ohne Sean Baker eine gute Figur macht, selbst wenn Zuopiezi nuhai trotz seines innewohnenden Charmes nicht vollends so vereinnahmend gerät wie Bakers Werke à la Red Rocket, Starlet und The Florida Project. Im qualitativ überschaubaren Sortiment von Streaming-Riese Netflix, wo Left-Handed Girl letztlich gelandet ist, darf der Film aber durchaus als Diamant erachtet werden. Vielleicht folgt ja noch eine physische Auswertung auf Blu-ray. In dem Fall könnte man wie Johnny bei seinen Haushaltsprodukten versichern: “You’ll not regret buying it.”

6.5/10

7. Dezember 2025

Nouvelle Vague

Qu’est-ce que c’est degueulasse?
 

Mit Konventionen brechen und Experimente wagen, kreativ unterwegs sein – so in etwa waren in den 1950er Jahren die Filmemacher der Nouvelle Vague unterwegs. Getreu dem Motto: Raus mit dem Alten und Rein mit dem Neuen. Eine Armada junger Cineasten schickte sich an, dem Kino neues Leben einzuhauchen, von François Truffaut über Claude Chabrol und Agnès Varda hin zu Éric Rohmer oder Jacques Rivette. Sie alle – und noch einige mehr – tauchen auf in Richard Linklaters Hommage an jene französische Kunstbewegung in Nouvelle Vague, einem von zwei Filmen, die der Regisseur dieses Jahr herausbringt. Dabei widmet sich Linklater weniger der Nouvelle Vague, als einem ihrer bekanntesten Mitglieder.

Während Truffaut, Chabrol und Rivette bereits für ihre Debütfilme gelobt und verehrt werden, hinkt Jean-Luc Godard (Guillaume Marbeck) seinen Kritikerkollegen des Cahiers du cinéma als einziger noch hinterher. Groß ist auch sein Wunsch, sich selbst als Filmschaffender zu verwirklichen. Ebenso groß die Sorge, den Absprung zu verpassen. Doch Godard hat Glück, Produzent Georges de Beauregard (Bruno Dreyfürst) hat ein Einsehen und ist willens, für wenig Geld Godard ein Skript drehen zu lassen, dass dieser mit Kumpel Truffaut geschrieben hat. Es ist Godards große Chance, auch wenn sein von lässiger Lethargie gezeichnetes Handeln in den folgenden Wochen alles andere als diesen Eindruck zu vermitteln scheint. 

“Anybody can make movies”, gibt Roberto Rossellini (Laurent Mothe) in einer Szene dem jungen Godard mit auf den Weg. Nicht der einzige Ratschlag eines Weggefährten, den dieser erhalten wird. “Feel free to ignore what I’ve said. That’s what advice is for”, zeigt sich kurz darauf Jean-Pierre Melville (Tom Novembre) gnädig – und vorausschauend, wenn man sich anschaut, wie Godard mit den Tipps der anderen umgeht. Er wählt seine eigene Herangehensweise an seinen Debütfilm À bout de souffle, operiert ohne Skript, verzichtet auf Make-up und weitestgehend auf Kostüme, genauso wie er seinen Script Supervisor in die Schranken weist, wenn sie ihn auf Kontinuitätsfehler innerhalb derselben Szene hinweist.

“Reality is not continuity”, konstatiert Jean-Luc Godard. Man fühlt sich nicht nur hier an Johnny Depps Interpretation von Ed Wood Jr. aus Tim Burtons Meisterwerk Ed Wood erinnert, der dort mit selbstüberzeugter Inbrunst erklärt: “Filmmaking is not about the tiny details. It's about the big picture.” Und in der Tat ist Richard Linklaters Film zwar in seinem Titel der Nouvelle Vague verschrieben, im Kern jedoch ist er ein Bruder im Geiste von Burtons Opus magnum als Porträt eines kreativen Querdenkers, dessen Methoden in seinem Umfeld aneckten, während der Künstler selbst die Erfüllung seines Traums maximal libertär anging. Sei es, wenn Godard ohne Dreherlaubnis filmt oder die erste Aufnahme stets direkt als die perfekte akzeptiert.

Der Großteil seiner Crew schert sich gleichwohl wenig um die Eigenheiten des Regisseurs, am wenigsten Jean-Paul Belmondo (Aubry Dullin), charmanter Star des Films und das humanitäre Herz der Produktion (sowohl jener des Films-im-Film als auch der Produktion dahinter). Auch Kameramann Raoul (Matthieu Penchinat) spielt die Mätzchen des cineastischen Enfant terribles mit, Produzent de Beauregard zeigt sich weniger kulant, wenn Godard mitunter Drehtage beendet, ehe überhaupt etwas gefilmt wurde, oder sich krankmeldet, um sich inspirieren zu lassen. Ähnlich hadert auch der US-amerikanische Co-Star Jean Seberg (Zoey Deutch) mit den Anweisungen ihres Regisseurs und dem fehlenden Skript.

“Following rules won’t get me where I want to go”, erklärt sich Godard in einer Szene – und man fühlt sich etwas an jenen Ausspruch erinnert, der General Douglas MacArthur zugeschrieben wird: “You are remembered for the rules you break.” Dem Mantra der Nouvelle Vague folgend zieht es Godard zum “instantaneous and unexpected”, weg vom Artifiziellen und hin zum Authentischen: Das Aus-der-Reihe-Tanzen wird zum ultimativen Merkmal, der Bruch mit den klassischen Konventionen ins Extreme verkehrt, stellenweise über das hinaus, was selbst die Nouvelle-Vague-Mitstreiter gewillt sind, cineastisch mitzumachen. Was bisweilen dann sogar einem François Truffaut (Adrien Rouyard) zu weit zu gehen scheint.

Nouvelle Vague droht sich dabei eingangs fast ein wenig zu sehr in Linklaters Bewunderung für die Cahiers-du-cinéma-Szene zu verlieren, wenn wir in einem Who’s Who die Größen der damaligen Zeit durchgehen, von den eingangs genannten stoßen noch andere hinzu, sei es Robert Bresson, Jean Cocteau oder Suzanne Schiffman (Jodie Ruth-Forest). Nach dem ersten Akt widmet sich Linklater glücklicherweise dann vollends dem Making-of-Prozess von À bout de souffle und den sich daraus ergebenden humoristischen Episoden – darunter Sebergs private Make-up-Assistentin, die aufgrund der Drehweise nicht gebraucht und obsolet wird –, was zugleich in gewisser Weise Truffauts eigene Film-Hommage  La Nuit américaine beschwört.

Das Ensemble aus weitestgehend unverbrauchten frischen Gesichtern überzeugt durch die Bank, mit Zoey Deutch ist es in gewisser Weise noch der berühmteste Name, der die größten Probleme hat, sich zurechtzufinden. Nouvelle Vague gehört zu den gelungeneren Filmen in Richard Linklaters Œuvre, erfüllt von einer glaubwürdigen Faszination für den Charakter der Nouvelle Vague. “This is the one. This is the one I’ll be remembered for”, sagt sich Ed Wood am Ende von Tim Burtons Film bei der Premiere von Plan 9 From Outer Space. Zwar erleben wir die Premiere von À bout de souffle nicht, aber die finale Texttafel unterstreicht dessen Status – als jenes das Kino prägende Werk, für das man sich an Godard erinnern wird.

6.5/10