29. Oktober 2016

American Honey

Everybody get choices / I choose to get money, I’m stuck to this bread.
(E-40, “Choices”)


Der erste Eindruck kann weitreichende Folgen haben. Sei es im Jobinterview oder in der Eröffnung eines Films. So wussten schon die musikalisch perfekt unterlegten und narrativ die Marschroute vorgebenden Einstiege in Drive und Spring Breakers zu überzeugen. Und auch Andrea Arnolds jüngster Film American Honey beginnt mit einem gefälligen ersten Eindruck, indem das Bild ein Format von 1.37:1 präsentiert. So erfreulich dieses inzwischen kaum mehr vorzufindende Bildformat auch ist, kristallisiert sich in der folgenden fast dreistündigen Laufzeit heraus, dass American Honey sonderlich mehr nicht zu bieten hat. Selbst wenn sich der Feuilleton wie so oft beim Independent-Darling Andrea Arnold mal wieder im Lob überschlägt.

Im Zentrum der Geschichte steht die 18-jährige Star (Sasha Lane), die mit ihren zwei jüngeren Geschwistern Dumpster Diving betreibt und am Existenzminimum lebt. Bis sie im Supermarkt auf Jake (Shia LaBeouf) und seine White-Trash-Truppe von Handlungsreisenden Jugendlichen trifft, die für die leicht bekleidete Anführerin Krystal (Riley Keough) mit Zeitschriftenabos hausieren gehen. Angetan von der zelebrierten Freiheit ihrer Altersgenossen lädt Star ihre Geschwister bei ihrer abgewrackten Mutter ab und schließt sich Jakes Gruppe an. Von Krystal wegen ihrer sexuellen Avancen zu Jake eher skeptisch beäugt, schickt sich dieser an, Star in die richtige Technik für ihre Arbeit einzulernen, während das Mädchen nach Größerem strebt.

So kann American Honey, den Arnold zum Großteil mit Laiendarstellern – darunter auch Newcomerin Sasha Lane – drehte, im Grunde als White Trash Road Movie gesehen werden, das sicher gerne Porträt einer Generation ohne echte Träume und dementsprechend Coming-of-Age-Story zugleich wäre. Für Star sind Jake und die anderen Teenager ein Ausweg aus der Einbahnstraße ihres Lebens. Ihre kaputte Mutter hat die jüngeren Geschwister der Ältesten aufgebürdet, die für sich selbst befürchten muss, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Bezeichnend eine spätere Szene, in der Star in einer ärmlichen Gegend ein Magazin-Abo verkaufen will, nur um den Kindern des Haushalts gegenüber zu stehen, da die Mutter sich in ihrem Drogenrausch verliert.

Als Folge kauft Star für die Kinder ein, ihre eigene Herkunft reflektierend. Nur lässt die Figur ihre beiden Geschwister für ihr eigenes vermeintliches Wohl eingangs im Stich und in einer ungewissen Zukunft. Nicht der einzige Widerspruch, denn so knapp das Geld in Stars Haushalt ist, für mehrere Tätowierungen und Hunde reicht es dennoch. Jegliche Verpflichtung gegenüber ihrer Familie kann die 18-Jährige dann opfern, als die designierte Romanze mit Jake und das Leben mit seinem Trupp (endlich) Freiheit verspricht. Die kommt natürlich nicht umsonst, wie Krystal ihr klarmacht. Verkauft sie nicht genug Abonnements, wird sie auf der Straße ausgesetzt. Ungeschickt ist daher, dass Star mit Jakes Verkaufsmethode hadert.

Der kritisiert die übrigen Verkäufer für ihre auf Mitleid basierenden Strategie, arbeitet aber selbst mit einer. Wo die einen ihre an Krebs verstorbene Mutter oder den im Irak gefallenen Vater anführen, lügt Jake hinsichtlich eines Uni-Stipendiums, das er durch das Abo erlangen will. Statt auf Schmerz rührt sein Lügenkonstrukt auf Hoffnung, wird von Star aber dennoch abgelehnt (obschon sie selbst ihre eigene Flucht vor den Geschwistern mit einer Lüge einleitete). Star versucht ihre Abos durch Ehrlichkeit zu verkaufen, reagiert aber dennoch schnippisch, wenn dies ergebnislos bleibt. Erfolgreich ist sie dann, wenn dieser Erfolg auf sexuellen Untertönen gegenüber ihrem Kunden fußt, sei es mit einer Gruppe Cowboys oder einem Ölfeldarbeiter.

Inwieweit Prostitution beim Überleben der Jugendlichen eine Rolle spielt, lässt Arnold offen. Ob die rund ein Dutzend Personen umfassende Gruppe, die sich täglich Marihuana und Alkohol hingibt, tatsächlich von ihren Abo-Verkäufen leben kann, ist mehr als fraglich. So gesehen ist es eine teuer erkaufte Freiheit, die die Charaktere in American Honey an den Tag legen. Wobei sich der Film um sie ohnehin nicht wirklich schert. Jenseits von Star und Jake interessiert sich Arnold kaum für ihr Ensemble, selbst Krystal kommt über die Rolle einer eindimensionalen romantischen Widersacherin kaum hinaus. Was umso erstaunlicher ist, da der Film mit ausufernden 160 Minuten Zeit genug hätte, um auch die anderen Figuren zu begleiten.

Stattdessen verliert sich American Honey etwas in Repetition, zwischen dem Gezicke von Star und Jake, ihren sexuellen Versöhnungen, Eifersüchteleien und Gewaltausbrüchen. Sonderlich viel zu sagen hat Arnold dabei nicht. Die Gruppe um Star entstammt der finanziell schwachen Gesellschaftsschicht, der trotz ihrer weißen Hautfarbe eine wenig rosige Zukunft blüht. Trotz ihres musikalischen Faibles für Rap-Musik bestehen die Träume dieser jungen Menschen dabei weniger aus Ruhm und Reichtum, sondern drehen sich um die Unabhängigkeit im eigenen Haus inklusive einem Stück Land. Die Freiheit versprechende Illusion des Vagabunden-Daseins wird aber konterkariert von der Drogenabhängigkeit der Jugendlichen, der sie auch so verfallen wären.

Auf 90 Minuten komprimiert besäße das vermutlich sogar eine mitreißende und bewegende Aussagekraft einer Generation ohne Zukunft und Träume, auf fast die doppelte Laufzeit ausgedehnt verliert sich diese Botschaft jedoch verstärkt, da Arnold ihrer Geschichte wenig Neues einimpfen kann. Und selbst das, was vorliegt, arbeitet die Auteurin nicht aus. So ist unklar, was Star an Jake und Jake an Star findet, jenseits einer rein körperlichen sexuellen Anziehung. Die Charaktere in American Honey besitzen keine Seele, sondern ordnen sich den dramaturgischen Wünschen der Regisseurin unter. So sagt Jake zwar, Krystal sei nett wenn man sie erst kennenlernt, der Film gibt einem hierzu in 160 Minuten allerdings nicht die Chance.

Vielleicht waren die wenig ausgearbeiteten Figuren auch nötig, damit sie Laiendarsteller spielen konnten. Die machen ihren Job dann in ihrer geringen Präsenz solide, allen voran natürlich Sasha Lane. Dennoch vermag American Honey nicht an das Generationenporträt eines Kids oder Spring Breakers heranzureichen. Zu leblos sind hierzu die Charaktere geraten, zu schwach die Botschaft, die der Film in seiner überbordenden Laufzeit versucht, dem Zuschauer zu vermitteln. Am Ende bleibt von American Honey also zuvorderst das klassische 4:3-Bildformat durch das Seitenverhältnis 1.37:1 positiv im Bewusstsein. Und die Erkenntnis, dass an dem Sprichwort der erste Eindruck zählt, womöglich doch mehr dran ist als man gedacht hat.

6/10

22. Oktober 2016

The Neon Demon

Real Lolita shit.

Sie gilt als die Stadt der Engel – dabei sind die unter ihren Einwohnern sicher die Minderheit. In Los Angeles regiert der Glamour und das Entertainment, sei es die Film- und Musikindustrie oder die Modelbranche. Hierher kommen sie seit jeher, die unschuldigen Jungen und Mädchen vom Lande – meist des Mittleren Westens –, um ihren Durchbruch vor der Kamera zu suchen. Kleine Karpfe mitten im Haifischbecken. “I’m not as helpless as I look”, behauptet da zwar das 16-jährige Nachwuchsmodel Jesse (Elle Fanning) in The Neon Demon. Vermag dies jedoch nicht wirklich zu unterfüttern in Nicolas Winding Refns jüngstem Neon-durchtränkten filmischen Fiebertraum, der ihm im Mai dieses Jahres in Cannes (wieder mal) einige Buhrufe bescherte.

“It was pride that changed angels into devils”, hatte Augustinus einst gesagt. Und könnte damit Los Angeles ebenso gut gemeint haben wie die narzisstischen Figuren in The Neon Demon. Sie sehen durch Jesses Ankunft ihre Welt in Gefahr gebracht, denn das junge Mädchen sei “a diamond in a sea of glass”, wie Fashion-Designer Sarno (Alessandro Nivola) bemerkt. “She has that… thing”, realisiert auch Ruby (Jena Malone), die sich sowohl als Make-up-Künstlerin in der Modeszene wie als Einbalsamiererin in einem Leichenschauhaus verdingt. Und sich mit Jesse bei deren erstem Fotoshooting für den jungen aufstrebenden Fotografen Dean (Karl Glusman) anfreundet, ehe sie die 16-Jährige im Anschluss auf eine Party mitnimmt.

Für Ruby ist Jesse keine mittelbare Konkurrenz – für ihre Freundinnen und Models Gigi (Bella Heathcote) und Sarah (Abbey Lee) allerdings schon. Zuerst sie noch von oben herab behandelnd, muss Sarah bereits kurz darauf Jesse bei einem Job-Casting den Vorzug lassen. Und selbst Gigi, die sich das Casting ersparte, wird anschließend auf dem Laufsteg von dem jungen Ding aus Georgia in den Schatten gedrängt. Jesse weiß, sie hat “no real talent”. Noch nicht einmal einen Schulabschluss. “But I’m pretty”, und das reicht bereits. Zumindest in einer oberflächlichen Stadt wie Los Angeles. “Women would kill to look like me”, lässt die 16-Jährige später genüsslich von ihrer Zunge rollen. Am fehlenden Engagement mangelt es ihnen jedenfalls nicht.

So führt Gigi bei ihrer ersten Begegnung mit Jesse erstmal auf, was sie alles bereits an sich hat kosmetisch richten lassen. Die Brüste wurden verkleinert, der Kiefer korrigiert, Nase und Wangen sind neu und Fettabsaugungen gab es ebenfalls. Ob das nicht wehgetan habe, will die von Natur aus schöne Jesse mit großen Augen wissen. “Anything worth having hurts a little”, erwidert Gigi. Ihre falsche Schönheit hat sie weit gebracht in L.A. – und geht nun, in Anwesenheit eines Diamanten, doch im Meer aus Glas unter. “If you aren’t born beautiful you’ll never will be”, teilt Sarno in kleiner Runde nach der Modeschau mit. Und ergänzt mit offensichtlichem Seitenhieb auf die anwesende Gigi: “You can always tell when beauty is manufactured.”

Jesse ragt mit ihrem perfekten Aussehen aus dieser Scheinwelt voll von artifiziell produzierter Schönheit heraus. Als ihr Dean, mit dem sie in der Folge eine zarte Romanze beginnt, vorhält, sie wolle wie Gigi, Sarah und Co. sein, korrigiert Jesse ihn: “I don’t want to be them. They want to be me.” Nicht nur wegen ihres Alters und Aussehens ist das Mädchen dabei potentiell leichte Beute in der Stadt der Engel. Ihr schäbiges Motel wird von einem noch schäbigeren Vermieter (Keanu Reeves) geleitet, ihre Agenturchefin (Christina Hendricks) beginnt für das junge Waisenkind aus Georgia rasch ein Lügenkonstrukt um ihr wahres Alter aufzubauen. Ihr Wohl hat dabei keine der anderen Figuren im Interesse, denn die sind alles andere als Engel.

“Man’s enemies are not demons, but human beings like himself”, pflegte schon der chinesische Philosoph Laozi zu sagen. Entsprechend lautet einer von Rubys Ratschlägen an Jesse auch: “It’s good to have good girls around.” Ob es die in der Modewelt jedoch gibt, darf bezweifelt werden. In der seien die Mädchen bereits mit 21 Jahren irrelevant, sinniert gegen Ende ein Model bei einem Shooting von Star-Fotograf Jack (Desmond Harrington). Der hatte zuvor entgegen seiner Gepflogenheiten Newcomerin Jesse abgelichtet. Jack ist ein Vollprofi, der seiner Arbeit mit versteinerter Miene nachgeht. Und Dean einen Schritt voraus ist, da er sich nicht mit seinen Kameraobjekten einlässt. Vielleicht, weil er weiß, was hinter deren Fassade steckt.

[Im folgenden Absatz folgen Spoiler] Regisseur Nicolas Winding Refn greift in seiner Symbolik und dem Skript den späteren Ereignissen dabei voraus. Bei ihrem ersten Treffen wischt Ruby nach Jesses erstem Shooting dieser noch das Kunstblut vom Körper – am Ende von The Neon Demon wird Rubys eigener Körper dann selbst das Blut von Jesse tragen. Auch, da diese ihre sexuellen Avancen abgelehnt hat. Schließlich hatte Ruby das Mädchen zuvor noch gefragt “are you food or are you sex?” als die Mädchen potenzielle Namen für ihre eigene Lippenstift-Marke suchten. “Red Rum” heißt dabei der von Gigi, der ihr in einer Referenz an The Shining einen ersten Geschmack des bevorstehenden Mordes ihrer Konkurrentin auf die Lippen zaubert.

Wie eine träumerische Schein- oder Parallelwelt inszeniert Winding Refn seine Geschichte, von Kamerafrau Natasha Braier mal in pinken und dann wieder in blauen Neontönen gehalten. Als würden Lust und Kälte eine Affäre miteinander eingehen, während Komponist Cliff Martinez einen pochend-pulsierenden Score erzeugt, der klingt, als würde er einem die Intensität und Spannung wie Blut ins Gehirn – oder in diesem Fall: ins Gehör – pumpen. The Neon Demon ist dabei weniger Neo-Noir als subtiler Horror-Thriller – eine weitergedachte oder geographisch versetzte Hölle à la Only God Forgives (obschon dieser von Larry Smith fotografiert wurde). In der Summe erschaffen Bilder, Musik und Handlung einen hypnotisch-höllischen Albtraum.

Das Ganze mag der Feuilleton schnell als Prätention oder Style Over Substance abtun, ist im Fall von Nicolas Winding Refn sicher zutreffend, allerding fraglos auch provozierendes Kalkül. Das Ergebnis ist aufgrund seiner visuellen Umsetzung faszinierender als Drive zuvor, jedoch durch die fehlende Nähe zu den Figuren auch kühler. Immerhin ist The Neon Demon gegenüber Only God Forgives weniger kryptisch und zugänglicher. Das Beste beider Welten, wenn man so sehen mag, obschon sich der Film nach einer immersiven ersten Dreiviertelstunde im Laufe des zweiten Akts kurzzeitig in einer leichten Schwerfälligkeit verliert, ehe er dann glücklicher Weise in seinem wahnwitzigen Schlussakt wieder das Gaspedal durchdrückt.

Zwar keine Offenbarung wird dabei Elle Fanning ihrer Rolle als vermeintliche Unschuld vom Lande durchaus gerecht – und passt von ihrem Alter her wohl besser auf die Figur als es jemand wie Chloë Grace Moretz getan hätte. Eigentlicher Star des Films ist jedoch im Grunde Abbey Lee (Mad Max: Fury Road), deren eingangs zickiges Biest schnell verletzliche Seiten zeigt, ehe ihre Sarah zum Ende hin mehr und mehr kalkulierte Härte an den Tag legt. Jena Malone – hier mit zarten Anleihen von Kristen Stewart – sowie Keanu Reeves, Desmond Harrington und Karl Glusman (Love) überzeugen in ihren jeweiligen Nebenrollen mit teils reduziertem Spiel, während Alessandro Nivola seinen schnauzbärtigen Mode-Designer mit Gusto darbietet.

Der Horror, den die Hauptfigur in The Neon Demon erlebt, ist im Gegensatz zu Darren Aronofskys thematisch artverwandten Black Swan ein realer – auch wenn Nicolas Winding Refn bisweilen ebenfalls Fantasie und Wirklichkeit miteinander kollidieren und zum Ende hin Interpretationsspielraum lässt. “Beauty isn’t everything”, sagt Sarno zwar an einer Stelle. Nur um zu betonen: “It’s the only thing.” Eine Philosophie, derer sich die Frauenfiguren bei NWR bewusst sind. Gerade wegen ihrer Engelsgleichen Schönheit hat Jesse, so macht es der Film deutlich, in der Stadt der Engel nichts verloren. Denn in deren Gassen warten statt Engeln im Schatten des Neonlichts Dämonen. Und die, so schrieb bereits Goethe, „wird man schwerlich los“.

8.5/10

Blu-ray
Der 1080p-HD-Transfer überzeugt durch ein scharfes Bild, das dem farbgewaltigen, digital fotografierten Film durchaus gerecht wird. Begleitet wird es von einer verlustfreie DTS-HD-5.1-Abmischung, die Cliff Martinez’ pulsierenden Soundtrack exzellent zur Geltung bringt und die Dialoge und Detailgeräusche gut verständlich macht. Ein solider, aber nicht herausragender Audiokommentar mit Nicolas Winding Refn und Elle Fanning gehört ebenso zu den Extras wie ein informatives Interview zu Cliff Martinez’ Arbeitsweise. Genauso zwei Gespräche mit Winding Refn über sein Schaffen, in denen er sich mal mehr, mal weniger selbstverliebt gibt. Inhaltlich doppeln sie sich leider und wiederholen auch Themen aus dem Audiokommentar.

15. Oktober 2016

Certain Women

I wonder how much more there might be buried here.

Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ist ein Thema, dass immer noch unsere Gesellschaft dominiert. Weil sie leider auch im Jahr 2016 noch nicht erreicht ist. Frauen verdienen weniger Geld für dieselbe Arbeit und werden zugleich bei dieser benachteiligt. Davon können auch die Damen in Hollywood ein Lied singen, wo sich unter anderem Jennifer Lawrence für ihr Geschlecht stark macht. Und auch wenn wohl in Kürze mit Hillary Clinton erstmals eine Frau die Vereinigten Staaten von Amerika anführen wird und Comic-Superhelden wie Thor und Iron Man ihr Y-Chromosom verlieren, sind Filme wie Kelly Reichardts Certain Women die Ausnahme der Regel.

In drei Geschichten, die sehr lose Bezug zueinander nehmen, rückt die Regisseurin – wie der Titel impliziert – Frauen in den Fokus. So sieht sich Rechtsanwältin Laura (Laura Dern) mit einem Mandanten (Jared Harris) konfrontiert, der gegen seine Entlassung juristisch vorgehen will. Gina (Michelle Williams) versucht derweil nach einem Camping-Trip mit Ehemann und Tochter für Bauzwecke einem Einsiedler seinen begehrten Sandstein abzuschwatzen. Die junge Anwältin Beth wiederum gibt widerwillig die Dozentin in einem Kurs für Schulrecht und weckt dadurch das Interesse der zufällig daran teilnehmenden Pferdehof-Rancherin Jamie (Lily Gladstone).

Nacheinander widmet sich Kelly Reichardt in rund halbstündigen Segmenten jeder der drei Geschichten, die thematisch von den beruflichen wie privaten Beziehungen der Figuren erzählen. Zugleich aber auch von der Rolle der vier Frauen und ihrer Wahrnehmung in der Gesellschaft. So hat Laura ihrem Mandanten über Monate mehrfach die Aussichtlosigkeit seines Falles vor Augen geführt, wahrhaben will er diese jedoch erst, als sie ihn für eine zweite Meinung zu einem männlichen Kollegen schleppt. Auch Gina muss sexuelle Diskriminierung erleben, wenn der Einsiedler mehr Wert auf die Worte ihres Mannes legt, obschon sie es ist, die beruflich die Hosen anhat.

Aber auch ihre eigene jugendliche Tochter reagiert rebellisch gegenüber der Mutter – etwas, mit dem sich diese scheinbar inzwischen abgefunden hat. Die Beziehung innerhalb ihrer Familie scheint gestört, was sich auch dadurch äußert, dass Ehemann Ryan (James LeGros), wie zu Beginn zu sehen, eine Affäre mit Laura unterhält. Gänzlich weiblich, aber nicht minder kompliziert, ist das Verhältnis zwischen Beth und Jamie. Erstere hat aus einem Missverständnis heraus den Nachhilfekurs angenommen, für den sie zweimal die Woche insgesamt gut 16 Stunden pendeln muss. Für die zurückgezogen lebende, introvertierte Jamie ist der Kurs derweil das Highlight ihrer Woche.

Keine der Figuren, ob Mann oder Frau, wirkt wirklich glücklich. Eher konsterniert gehen Laura, Gina, Beth und Jamie die Dinge in ihrem Alltag an. Einblick in ihr Innenleben schenkt Certain Women seinem Publikum nicht, verrät aber auch so genug über die vier Frauencharaktere und ihren Platz im Leben. Fast schon meditativ verfolgt der Zuschauer die Entwicklungen, die mal mehr (Laura) und mal weniger (Gina) dramatische Züge annehmen. Zwar sind Laura, Gina und Beth beruflich selbstbestimmte Frauen, zugleich werden sie als solche aber nicht richtig von ihrem Umfeld wahrgenommen und akzeptiert. Außer eben, wie im Fall von Jamie, von anderen Frauen.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Kelly Reichardt hier zeichnet, sind glaubhaft – nicht zuletzt dank des starken Ensembles. Wo Reichardt-Veteranin Michelle Williams etwas untergeht (jedoch in der undankbarsten der vier Rollen), untermauern besonders die tolle Laura Dern sowie Kristen Stewart erneut ihre Klasse. Auch Lily Gladstone und Jared Harris setzen Akzente, sodass Certain Women vorzügliches Charakterkino ist. Es wäre leicht gewesen, die Geschichten aus der Perspektive der Männer zu erzählen. Dass dem nicht so ist und der Film von vier starken Frauenrollen dominiert wird, ist ein weiterer Weg hin zur Gleichberechtigung. Zumindest im Kino.

7/10

8. Oktober 2016

Kollektivet [Die Kommune]

Ich sage nur, dass die Miete hoch ist.

Freie Liebe, Gemeinschaftssinn, die 68er Bewegung ist ja durchaus charmant, wenn auch wohl wenig mehr als eine platonische Idee. Ein erstrebenswertes Gut, in der Realität jedoch nicht wirklich umsetzbar. Ähnlich verhält es sich auch mit einer Zweckgemeinschaft innerhalb von Thomas Vinterbergs Kommune in Kollektivet (hierzulande: Die Kommune). In dieser versucht ein Ehepaar seine Trennung durch den Gedanken der Kommune zu überbrücken, während sich Ehefrau und Geliebte ein Dach über den Kopf teilen müssen. Autobiografisch von Vinterberg angehaucht – er selbst verließ seine Frau für eine andere und lebte in einer Kommune – weiß der Film nicht so recht, was er erzählen will. Und versagt somit als Ganzes.

Mit dem Tod seines Vaters erbt Architekturdozent Erik (Ulrich Thomsen) dessen 450m²-Haus. Viel zu groß für ihn und seine Gattin Anna (Trine Dyrholm), Nachrichtensprecherin des nationalen Fernsehens, sowie deren 14-jährige Tochter Freja (Martha Sofie Wallstrøm Hansen). Anna schlägt daher vor, eine Kommune zu bilden. Gesagt, getan und kurz darauf ziehen sechs weitere Personen in das Haus ein. Erik bändelt unterdessen mit seiner 24 Jahre alten Studentin Emma (Helene Reingaard Neumann) an. Um ihren Mann nicht ganz zu verlieren, schlägt Anna vor, dass Emma in die Kommune einzieht. Hier stößt das liberale 68er-Konzept schließlich an seine Grenzen, als Anna nun allmählich emotional und psychologisch zu Grunde geht.

Vinterberg erzählt in Kollektivet prinzipiell also zwei Geschichten – oder eigentlich nur eine. Die vom Ende der Ehe zwischen Anna und Erik, die Kommune ist eher Setting denn wirklich Thema für die Handlung. Letztere wiederum irritiert mit einigen Versatzstücken und Ideen. So will Anna ihren Mann dazu bringen, in das größere Haus zu ziehen. „Wer beengt wohnt, wird engstirnig“, sagt sie. Um das Haus zu finanzieren, müssen jedoch weitere Personen einziehen. Was wiederum zu beengtem Wohnen führt. Und somit zu Engstirnigkeit? „Die Miete ist hoch“, erinnert Erik zugleich bei jedem Vorstellungsgespräch. Dennoch ziehen mit Ole (Lars Ranthe) und Allon (Fares Fares) gleich zwei Personen ein, die über kein Geld verfügen.

Wieso die in der Kommune leben wollen, ist insofern nachvollziehbar. Für das befreundete Paar Steffen (Magnus Millang) und Ditte (Anne Gry Henningsen) geht es wohl eher um das Konzept des Gemeinwesens. Immerhin ist Ditte eine Professorin, müsste also über ein annehmbares Einkommen verfügen. Die Zusammenstellung der Kommune wirkt folglich etwas willkürlich. So wird über Allons Einzug erst gestritten, er dann aber doch aufgenommen. Und Ditte gilt bei Erik und Ole als „dominante Zicke“, gegen die man „von Anfang an energisch auftreten“ müsse. So wirkt die Kommune in Kollektivet eher als Zweckgemeinschaft, denn als soziale Bewegung. Auch die Motive von Anna als Initiatorin des ursprünglichen Hausprojekts wirken etwas schwach.

„Ich langweile mich. Ich brauche Veränderung“, erklärt sie eingangs gegenüber Erik. Andere Stimmen wolle sie hören, was keine wirklich glückliche Ehe skizziert. Kaum steht die Kommune, hat sie abends am Tisch nicht einmal mehr ein offenes Ohr für Eriks architektonische Ideen. Das leiht ihm schließlich kurz darauf Emma, die seine Entwürfe überschwänglich lobt. „Du bist so klug“, gibt ihr Erik sogleich das Kompliment zurück. Zuvor begann die Affäre zwischen Dozent und Studentin indem sich die Charaktere im offen einsehbaren Büro von Erik küssten. Die Affäre des Mannes wirkt somit durch Vinterbergs Inszenierung letztlich durch die Gattin (mit-)verschuldet. Mit der Kommune hängt sie jedoch nicht wirklich zusammen.

Für die soziale Bewegung bringt der Film wenig bis kein Interesse auf, was umso erstaunlicher ist, da er nicht nur nach ihr benannt ist, sondern Vinterberg in Interviews auch von seinen Erfahrungen in seiner eigenen Kommune schwärmt. Wer Ole, Allon, Steffen, Ditte und Mona (Julie Agnete Vang) sind, erfährt das Publikum nicht. Wie sie von der Kommune profitieren und diese genau funktioniert ebenso wenig. Die Männer trinken Bier und führen keine Strichliste, also muss die Gemeinschaftskasse aufkommen. Und Ole verbrennt Allons Besitztümer, die dieser im Haus rumliegen lässt. Damit hat es sich auch schon, jenseits vom gemeinsamen Einnehmen der Mahlzeiten. Was die Charaktere von der Kommune haben, bleibt unklar.

Entsprechend irritiert, wieso Anna nicht von ihr lassen will, genauso wenig wie Erik. Der droht vielmehr in vereinzelten cholerischen Anfällen sogar, das Gemeinschaftsprojekt aufzulösen, will aber dennoch nicht darauf verzichten. Die Handlung von Vinterberg wirkt nicht allzu ausgearbeitet, ebenso wenig die Figuren. Bis auf Anna und Erik ist keine von ihnen dreidimensional, Emma bleibt durchweg dramaturgisches Instrument, das sich dem Fortgang der Geschichte unterordnet, aber kein Leben atmet. Freja erhält vom Regisseur derweil eine zusätzliche und ebenfalls unerhebliche Handlung, in welcher sie eine Beziehung mit einem älteren Jungen eingeht. Was Vilads, der sechsjährige Sohn von Steffen und Ditte, mit Argwohn beobachtet.

Als eines der wenigen humoristischen Elemente leidet der Sechsjährige an einem angeborenen Herzfehler, mit wenigen Jahren Lebenserwartung. „Ich werde nur Neun“, sagt Vilads da immer wieder mit aufgesetzter Melancholie und fragt Emma bei ihrem ersten Treffen, ob sie „bummsen“ wollen. Die Erwachsenen lachen darüber, weil es wohl doch etwas charmant ist, wenn ein Kleinkind, dessen Tage nummeriert sind, seine eigene Sterblichkeit lamentiert. Das Szenario ist etwas absurd, wie es skandinavische Dramen durchaus sehr gerne mal sind. Es führt aber wie quasi alles in Kollektivet auch nirgends hin. Über eine Botschaft oder einen Kommentar verfügt der Film nicht. In der Folge wirkt er mit fortschreitender Laufzeit irrelevant.

Ein positives Bild zeichnet Vinterberg nicht über die Kommune. Allerdings auch kein negatives, dafür ist sie zu wenig Thema. Und auch als Variation von „Szenen einer Ehe“ und dem Scheitern einer Liebe hat Kollektivet zu wenig Fleisch am Knochen. „Der Umgang mit Menschen ist wahrer Umgang“, sinnierte einst der österreichische Lyriker Ernst Freiherr von Feuchtersleben. „Man geht ewig umeinander herum, ohne sich näher zu kommen.“ So lässt sich der jüngste Film des dänischen Independent-Filmemachers vielleicht am ehesten beschreiben. Mit diesem unterbietet dieser zudem den bereits wenig gelungenen Jagten zuvor. Vielleicht sollte sich Vinterberg mal wieder seinen Hit Festen ansehen. Als erstrebenswertes Gut für sein zukünftiges Schaffen.

3.5/10

1. Oktober 2016

Inside

We shall meet in the place where there is no darkness.
(George Orwell, “1984”)


Es sind keine fünf Minuten vergangen und ich bin bereits das erste – aber keineswegs das letzte – Mal in Playdeads jüngstem Side-Scroller Inside gestorben. Ein Dobermann brach mir das Genick, nachdem meine Spielfigur eines kleinen Jungen dem Hund nicht schnell genug entkam. Im Laufe des Spiels werde ich noch erschossen, erstickt, falle in meinen Tod oder werde durch eine Druckwelle pulverisiert. Autor Laurids Binderup und Regisseur Arnt Jensen präsentieren dem Spieler in Inside eine wahrhaft graue und harsche Welt. Eine Dystopie, die entfernt an George Orwell erinnert und das nicht nur, weil eine Farm auftaucht und man einer Beobachtung entgehen muss. Doch so trostlos wie die Welt von Inside ist, so hoffnungsvoll wirkt sie.

Seine Geschichte erzählt das Spiel dabei über seine zweieinhalbdimensionale Darstellung. Ein gesichtsloser Junge schleicht sich nachts durch den Wald, um über eine Farm voller toter Schweine in ein Fabrikgebäude einzudringen. Hier kontrollieren Wissenschaftler und Roboter das Geschehen, während andere leblose Körper mal willenlos den Anordnungen von Big Brother folgen oder leblos darauf warten, von dem Jungen über einen stromgesteuerten Helm bewegt zu werden. Immer weiter dringt der Junge im Verlauf von Inside wie der Titel vorgibt in das Innere des Kontrollorgans vor. Seine Mission scheint eingangs unklar und gewinnt erst zum Schluss des Spiels etwas an Kontext. Doch bis dahin gilt es erstmal, nicht entdeckt zu werden.

Binderup und Jensen gewähren den Spielern Raum zur Interpretation, wie sie die Handlung von Inside konkret deuten wollen. Denn ähnlich wie die Werke von thatgamecompany lassen sie die Bilder für sich sprechen. Wo die Spiele der Konkurrenz wie Journey oder zuletzt auch dessen spiritueller Nachfolger Abzû mit einem atmosphärischen Score aufwarten, setzt Inside Musik nur sporadisch an bestimmten Stellen ein. Seine Atmosphäre gewinnt das Game durch sein Setting und seine oft monochromatische Gestaltung als Side-Scroller. Der Junge selbst scheint (zumindest für mich) ein Flüchtling jener düsteren Fabrik zu sein, in die er zu Beginn des Spiels wieder einbricht, um nach seiner Bewusstseinserlangung auch seine Artgenossen zu befreien.

“Until they became conscious they will never rebel, and until after they have rebelled they cannot become conscious”, schrieb George Orwell in 1984. Auch wenn die übrigen Körperhülsen nicht dasselbe Bewusstsein entwickeln wie der Junge, sondern von ihm höchstens kontrolliert werden wie der Junge vom Spieler selbst. Was die Wissenschaftler mit den Körpern bezwecken, kann lediglich spekuliert werden. Zumindest experimentieren sie mit diesen, wie sich anhand verschiedener Exemplare sehen lässt. Und womöglich ist der Junge selbst ein solches, ähnlich wie David in Steven Spielbergs A.I. – Artifical Intelligence. Zum Ende raus nimmt Inside zu seiner Orwellschen Dystopie dann sogar leichte Züge Cronenbergschen Bodyhorrors an.

Neben der zurückgenommen Handlung überzeugt Inside durch seinen Look und sein reduziertes Gameplay. Primär läuft man in dem 2.5D-Side-Scroller von links nach rechts, kann springen und mit bestimmten Gegenständen interagieren. Zugleich ist Inside aber durchaus detailliert gestaltet, gewinnt speziell in seinem Hintergrund immer wieder an Tiefe. Hier kommt dem Spiel des dänischen Teams von Playdead auch seine farblich zurückgenommene Inszenierung zu Gute, die weniger monochromatisch daherkommt, sondern den Ton ihrer Welt trifft. Denn Farbe findet sich bisweilen durchaus, sei es in Form einer süßen Schar Hühnerküken oder eines unerwarteten herrlichen Sonnenaufgangs, den der Junge zwischen zwei Gebäudeetappen erlebt.

Unterwegs wartet das Spiel mit verschiedenen Puzzles auf, die nie zu schwer sind, um sie selbst zu lösen, aber auch nicht derart simpel, dass sie direkt überwunden werden. Vielleicht habe ich mich aber auch nur bisweilen etwas dümmer angestellt als erforderlich war. In einer Phase mit einer Vielzahl von Spielen mit reduziertem Gameplay wie Abzû, Bound oder No Man’s Sky vermag Inside thematisch-visuell interessant und zum selben Zeitpunkt fordernd und befriedigend von seinem Spielerlebnis zu sein. Damit gelang Playdead vielleicht spieltechnisch keine Revolution, aber in einem bislang doch eher unterdurchschnittlichen Spieljahr dennoch ein aus diesem herausragendes Erlebnis. Hoffnung spendend in einer trostlosen Welt.

8.5/10