30. März 2009

Classic Scene: Garden State - "Do you lie a lot?"

DIE SZENERIE: Fernsehnebendarsteller Andrew Largeman besucht einen Neurologen, den ihm sein Vater empfohlen hat. Während er das Krankenformular ausfüllt, lernt er die extrovertierte Sam kennen. Andrew erklärt, sein Besuch basiere auf kurzen, blitzartigen Kopfschmerzen, Sam behauptet, sie warte lediglich auf einen Freund. Als Andrew aufgerufen wird, vertröstet die Arzthelferin Sam, dass sie als nächstes behandelt wird. Nach seinem Termin trifft Andrew Sam schließlich vor dem Gebäude wieder, als er mit seinem Motorrad nach Hause fährt.

EXT. PARKING LOT
- DAY


Large drives out of the parking lot. There, seated at the bus stop is Sam bobbing her head to music. She wears a backpack and holds an odd locking helmet in her hand.

Large pulls up along side her.

LARGE: So why were you really there?

SAM: Charging. I’m a robot.

LARGE: Do you lie a lot?

SAM: What do you consider a lot?

LARGE: Enough for people to call you a liar.

SAM: People call me lots of things.

LARGE: Is one of them “liar”?

SAM: I could say “no”, but how will you know I’m not lying?

LARGE: Because I could choose to trust you.

SAM: You can do that?

LARGE: I can try.

SAM: Whose bike is that?

LARGE: It was my grandfather’s. It was the only thing he left to anyone in my family and he left it to me. And I like it.

There’s a little awkward pause.

SAM: So, this is the point in the conversation where you ask me if I’d like a ride home?

LARGE: It is?

SAM: Yup.

LARGE: Would you like a ride home?

SAM: Fine, but I’m not getting in that sidecar.

LARGE: Why not?

SAM: Sidecars are for bitches. Anyone who gets in that is automatically your bitch. Thus, I will ride on the back.

She climbs on the back behind him and both put their helmets on. He starts the engine.

SAM: Whoa.

LARGE: Hold on tight.

SAM: OK, holdin’.

They drive off.

SAM: My hair’s blowing in the wind!

27. März 2009

Rachel Getting Married

I am Shiva the destroyer.

Während des letzten Jahrzehnts ist es still geworden um Regisseur Jonathan Demme. Zwölf Oscarnominierungen hatten seine beiden Filme The Silence of the Lambs und Philadelphia zwischen 1991 und 1993 erhalten. Gerade auf Ersteren basiert Demmes Ruhm, der ihn bis heute begleitet. Der Jahrhundertwechsel ist dem Amerikaner nicht besonders gut gelungen, seine beiden Remakes von The Truth About Charlie und The Manchurian Candidate floppten. Es überrascht also nicht, wenn von seinen letzten neun Kinofilmen allein sechs Dokumentationen waren. Speziell der Musik fühlt sich Demme immer stärker verbunden, gerade hat er seine dritte Dokumentation über Neil Young abgedreht und sich bereits in die Arbeit über ein entsprechendes Pendant zu Bob Marley gestürzt. Es ist jene Entwicklung, die sich auch in Demmes neuesten Unterhaltungsfilm geschlichen hat, enthält Rachel Getting Married doch Elemente sowohl eines Musikfilms als auch einer Dokumentation. Und in gewissem Sinne markiert es sicherlich auch Demmes experimentellsten Film bisher. Gut möglich, dass es auch sein Letzter sein könnte.

Im traditionellen Verständnis sind die Buchmanns eigentlich keine wirkliche dysfunktionale Familie. Sie wirken im Gegenteil sogar recht harmonisch, zumindest dann, wenn sich die jüngste Tochter Kym (Anne Hathaway) nicht aktiv in das Geschehen einmischt. Zwar sind die Eltern geschieden, aber das ist heutzutage eher die Regel als die Ausnahme. Vater Paul (Bill Irwin) ist ein warmer, offener und emotionaler Mensch. Seine Ex-Frau Abby (Debra Winger) hingegen eher introvertiert und kalt. Die Frage ist hierbei weniger, wie zwei so unterschiedliche Menschen einst Liebe füreinander empfunden haben, sondern was sie schließlich auseinander getrieben hat. Denn etwas ist in der Familie Buchmann vorgefallen und es ist etwas, dass erst zur Mitte des Filmes hin deutlich wird, obschon die Anzeichen dafür bereits zu Beginn gesät werden. Das Bindeglied des gesamten Schmerzes personifiziert sich dabei in Kym, einer jungen Frau voller emotionalem Ballast auf ihren Schultern.

Wenn auch in sehr verdünnten Dosen offeriert Demme seinem Publikum in seinem 17. Spielfilm eine emotionale tour de force. Wird zu Beginn von Rachel Getting Married eine gut gelaunte Kym in einem psychologischen Betreuungsheim abgeholt, wandelt sich ihre Laune schon während der Autofahrt allmählich ins Negative. In diesen ersten Minuten werden die Ränder des großen Puzzles zusammengefügt. Scheinbar hatte Kym einst einen Autounfall, der einem anderen Menschen das Leben gekostet und der jungen Frau eine Popularität übers Fernsehen beschert hat. Kurz darauf stellt sich bei einem Treffen anonymer Drogensüchtiger heraus, dass Kym auch hierin involviert ist. Das ganze Ausmaß ihres persönlichen Abgrundes legt Demme peu a peu offen, während die Figur unentwegt wie ein verfolgtes Tier in die Ecke gedrängt wird. Hält sie sich fern, ist es nicht Recht, ist sie anwesend und macht den Mund auf, wird sie auch in ihre Schranken gewiesen. Weshalb Kym zur persona non grata verkommen ist beginnt sich allmählich zu entschlüsseln.

Drehbuchautorin Jenny Lumet, Tochter von Regie-Legende Sidney Lumet, ist bemüht ihrem Film, beziehungsweise der Hochzeit in jenem, durch den Einbezug vieler unterschiedlicher Kulturen jene Wärme zu verleihen, die dem familiären Zwist abgeht. Und so befremdlich diese multi-kulturelle Harmonie auch wirkt – davon abgesehen, dass sie unwahrscheinlich anti-amerikanisch ist -, kommt man nicht umhin Gefallen hieran zu finden. Dies ist sicherlich auch Demmes Entscheidung den Film zum größten Teil mit der Handkamera einzufangen zu schulden. Speziell in den Szenen mit Familienstreit schwenkt die Kamera wie ein menschlicher Kopf von der einen Partei zur nächsten und wieder zurück. Dadurch entsteht ein Gefühl der Anwesenheit, die Demmes Werk nur zum Besten gereicht. Dass die Bilder einen dokumentarischen Stil haben, verstärkt nochmals den Eindruck, als handele es sich hierbei lediglich um ein anwesendes Familienmitglied, welches das Szenario mit seiner Digitalkamera festhält.

Über allem schwebt dann noch die darstellerische Leistung von Anne Hathaway, die endlich einmal die Bestätigung liefert, dass sie in der Tat das nötige Talent besitzt, um als ernstzunehmende Schauspielerin angesehen zu werden. Ihre Portraitierung von Kym ist manchmal zwar etwas überspielt und vermisst andererseits gelegentlich das letzte Quäntchen Glaubwürdigkeit, doch insgesamt beeindruckt die 27-Jährige mit ihrem nervenaufreibenden Spiel. Unterstützt wird sie hierbei von einem harmonierenden Ensemble, in welchem sich besonders Rachel-Darstellerin Rosemarie DeWitt hervor tut. In einer weiteren Nebenrolle kann man sich zudem an Debra Winger als Mutter der beiden Protagonistinnen ergötzen und selbst wenn Winger viel zu wenig präsent ist, geht einem das Herz auf diese Blüte der achtziger Jahre erneut in einem größeren Film zu sehen. Und für alle Filmbegeisterten wartet Demme am Ende noch mit einem „blink-and-you’ll miss him“ Cameo von B-Film-Legende Roger Corman auf.

All dem dramatischen Lob zum Trotz, übertreibt es Demme am Ende bei seiner Hochzeitsgesellschaft ein wenig. Hier mündet ein Lied in das nächste und ein Tanz knüpft an den anderen an. Von afrikanischen Rhythmen bis hin zu brasilianischem Musikgut und Rap spielt der Musik-affine Regisseur alles durch. Die Zelebrierung der Musik und des Exotischen artet hier wirklich aus. Mitten drin wird zwar stets eine befremdlich mittanzende Hathaway platziert, die ihr Außenseiterdasein derart propagiert, dass sie nie den richtigen Takt beim Tanzen trifft und letztlich auch die anderen verlässt. Zwar wird in Rachel Getting Married Rachels Hochzeit gefeiert, doch vielmehr Kyms Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die im Film noch nicht zu Ende erzählt wird und hier ist Demmes Film im Grunde auch nur konsequent. Abgesehen von einigen unnötigen Klischees, die ihren Einzug in das Geschehen finden, ist Jonathan Demmes neuer Film wahrscheinlich sein bester seit Beginn der Neunziger. Es wäre wünschenswert, wenn der Altmeister sich dieser Linie treu bliebe.

7.5/10

24. März 2009

Charlie don’t surf! – Apocalypse Now (Redux), eine cause célèbre

Inhaltsverzeichnis

1. When it was over, I’d never want another – Eine Einleitung
2. Going to the worst place in the world – Der Anfang der Mission
.... 2.1. Who’s in charge here? – Willard, der Antiheld
.... 2.2. Of flying cowboys and neocolonialism – Das Herz des Films
3. Penetrating deeper and deeper into the heart of darkness – Conradsche Elemente
4. He broke from them. And then he broke from himself – Der Blick in den Abgrund
.... 4.1. Turning into Kurtz – Wenn Film zur Realität wird
.... 4.2. I don’t see any method at all – Marlon Brando und das Finale
5. There are two of you, don't you see? – Die unterschiedlichen Filmfassungen
6. A fifth-grader in a third-grade world – Ein Fazit


1. When it was over, I’d never want another – Eine Einleitung
Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts überschatte ein Name ganz Hollywood: Francis Ford Coppola. Mit seinen beiden The Godfather-Filmen war der Italo-Amerikaner zu Ruhm, Reichtum und Anerkennung gelangt. „In the eyes of the world Coppola was more than a genius; he was an auteur“, blicken Goodman und Wise auf jene Zeit zurück (Goodman/Wise, S. 211). Coppola war ohne Zweifel der König der Welt, versehen mit vier Oscarauszeichnungen innerhalb von drei Jahren. Von dem jungen, unerfahrenen Regisseur, der wenige Jahre zuvor quasi schon seines Amtes bei The Godfather enthoben worden war, fand sich nun nichts mehr. Der Name Coppola stand für die Studiobosse stattdessen als Synonym für Erfolg und bescherte dem Regisseur „eine für Hollywood seltene kreative Autonomie“ (Weyand, S. 103). Was Coppola jedoch nicht ahnte, war, dass die nächsten Jahre eine Tortur und Achterbahnfahrt der Gefühle darstellen und ihn als veränderten Mann zurücklassen würden.

Zu Beginn des Jahrzehntes hatte sich Coppola mit seiner und George Lucas’ Produktionsfirma American Zoetrope ein Drehbuch von John Milius gesichert. Es war vorgesehen, dass George Lucas jenes Drehbuch unter dem Titel Apocalypse Now als zweiten Spielfilm nach THX-1138 umsetzen sollte. Nach den finanziellen Streitigkeiten mit Warner Seven versandete das Projekt und Lucas fokussierte sich zuerst auf American Graffiti und schließlich auf Star Wars. Es war Coppola, der sich letztlich erneut des Drehbuches annahm und begann es umzuschreiben. Was der Regisseur als locker leichtes Projekt im Pazifik erachtete, würde ihn drei zehrende Jahre seines Lebens kosten und beinahe in den Konkurs treiben. Nach 238 Drehtagen und 15 Monaten im philippinischen Dschungel sollte sich nicht nur das Budget des Filmes von geplanten 12 auf 30 Millionen Dollar aufblähen, sondern auch der Hauptdarsteller beinahe an einem Herzinfarkt sterben (vgl. Weyand, S. 104). Für die heimatlichen Medien stellte Apocalypse Now somit noch vor dem Filmstart ein gefundenes Fressen dar, tituliert als „legend even before its lifetime“ (Adair, S. 143) und „cause celebre“ (Virgin Film Guide, S. 34).

2. Going to the worst place in the world – Der Anfang der Mission
Am 1. März 1976 brach Francis Ford Coppola zu den Philippinen auf, ohne über ein fertiges Drehbuch zu verfügen oder seine Hauptdarsteller gefunden zu haben. Die erste Zeit verbrachte er stattdessen damit, Spezialeffekte und Schlachten zu filmen. Essentiell für seinen Film war das militärische Ausstattungsmaterial, welches er von der amerikanischen Armee beziehen wollte. Als dieser Milius’ Skript vorgelegt wurde, empfand sie es als „a series of some of the worst things, real and imagined, that happened or could have happened during the Vietnam War“ (Suid, S. 310). Das Verteidigungsministerium lehnte somit die Mitarbeit ab, da es jegliche Unterstützung des Projektes als Zustimmung oder Anerkennung der Philosophie des Filmes verstanden hätte (vgl. Suid, S. 311). Später sollte Coppola nochmals ein Telegramm direkt an den damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter schicken, um erneut Hubschrauber und Material der Armee anzufragen (vgl. Suid, S. 313). Nicht nur bei den Amerikanern blitzte Coppola ab, auch die australische Regierung wollte „not a film-extra-agency“ darstellen und lehnte die Bitte des Regisseurs nach 10,000 Soldaten und 400 Hubschraubern brüsk an (vgl. Suid, S. 311).

Fündig sollte Coppola schließlich bei der philippinischen Regierung von Ferdinand Marcos werden. Gegen eine hohe Summe wurden der Filmcrew amerikanische Hubschrauber, Panzer und anderes Material zur Verfügung gestellt. Nur gelegentlich wurden die Hubschrauber wieder abgezogen, weil Marcos mit ihnen einige Rebellen in anderen Teilen des Landes bekämpfen musste (vgl. Weyand, S. 118). Nichtsdestotrotz war die Anzahl an Statisten, Hubschraubern und Booten von Seiten der Regierung enorm. „There were three or four countries in the world we could have taken easily“, scherzte Dick White, der Flugberater des Filmes (Goodman/Wise, S. 213). Inzwischen hatte Coppola auch seine beiden wichtigsten Darsteller gefunden. Nach einigen Querelen mit Steve McQueen wandte sich der Regisseur erneut an seinen Vertrauten, Marlon Brando, um die Rolle von Colonel Kurtz zu verkörpern. Für 3 Millionen Dollar Gage sicherte der Star zu, vier Wochen in die Philippinen zu fliegen. Die Hauptfigur des Captain Willard sollte der aufstrebende Harvey Keitel spielen. Keitel, ein Stadtjunge, hatte große Probleme mit den Dreharbeiten im Dschungel (vgl. Goodman/Wise, S. 214). Nach den ersten Wochen Drehzeit bemerkte auch Coppola, dass Keitels Präsenz im Film nicht wirklich funktionieren wollte. Infolgedessen wurde Keitel als Hauptdarsteller gefeuert, wie genau dies geschah, ist umstritten. Ob Keitel seine Entlassung tatsächlich über seinen Agenten erhalten hat, nachdem ihm niemand direkt die Entscheidung mitteilen wollte, sei dahingestellt. Unbestritten ist jedoch, dass der New Yorker froh war, dass er zurück in die Staaten durfte.

Ersatz war schnell gefunden. Bei einem Aufenthalt in Amerika traf sich Coppola kurz in einer Flughafenlounge mit Martin Sheen. Sheen, der bereits für die Rolle des Michael Corleone in The Godfather vorgesprochen hatte, war aus zeitlichen Gründen gezwungen sein Engagement zuzusagen, ohne einen Blick in das Drehbuch werfen zu können. Zu diesem Zeitpunkt konnte Sheen noch nicht ahnen, worauf er sich genau eingelassen hatte. Nicht nur erwartete ihn beinahe der Tod, sondern die Dämonen des Projektes sollten ihn die nächsten Jahre hindurch in den Alkoholismus treiben. Mitverantwortlich dafür war mit Abstrichen auch Coppola selbst. Wie schon bei Keitel der Fall, so war der Regisseur auch mit Sheens Portraitierung unzufrieden. Um dem Schauspieler seine Rolle zu vergegenwärtigen, sperrte er ihn in ein Hotelzimmer ein und ließ ihn sich stundenlang betrinken. Dass diese Szene gefilmt wurde, hatte allein den Zweck, dass Sheen sich hinterher mit seiner Leistung auseinandersetzen konnte. Die finale Einbindung in den Film war ebenso wie einige andere Szenen eher von spontaner Natur. Wie so vieles bleibt auch die Hotelszene recht schwammig. Während Goodman und Wise berichten, dass Sheen derartig betrunken war, dass er unabsichtlich den Spiegel zerschlug und sich selbst verletzte (vgl. Goodman/Wise, S. 225), variieren die Berichte von einem geplanten Zerschlagen und einem unabsichtlichen aber bewussten Zerschlagen.

2.1. Who’s in charge here? – Willard, der Antiheld

Die ersten Minuten von Apocalypse Now verdanken sich dem Zufall. Bereits die Einleitung des Filmes entstammt sprichwörtlich dem Mülleimer, als Coppola in der Nachbearbeitung Überflussmaterial des Napalmangriffs entdeckte. Unterlegt mit „The End“ von The Doors (mit deren Sänger Jim Morrison Coppola übrigens zusammen zur Filmschule gegangen war), der Überlappung der Hubschrauberrotoren und des Deckenventilator und mit dem Sheen-Material entstand eine ungewollte aber dennoch – oder gerade deswegen – eindringliche Anfangssequenz, welche Gabriele Weyand sogar als „beste des Regisseurs überhaupt“ lobt (Weyand, S. 105). Hier inthronisiert Coppola seine Titelfigur: einen desillusionierten und inhaltsleeren Willard (Martin Sheen), der in seinem Saigoner Hotelzimmer vor sich hin vegetiert und seine Bestimmungslosigkeit in Alkohol ertränkt. Eine Figur, die sich nur noch durch den Krieg definiert. „I wanted a mission. And for my sins they gave me one“, erklärt Willard zu Beginn, um als Erzähler seiner eigenen Geschichte gleich vorweg zu nehmen: „When it was over, I’d never want another“. Die Einführung der Figur sieht Hellman sogar „through the specific conventions of the hard-boiled detective formula“ (Hellman, S. 57). Der Ermittler, engagiert um eine Person ausfindig zu machen, sich dabei immer mehr sowohl im Fall an sich als auch in der zu findenden Person verlierend.

Was für ein Mensch Willard ist, wird früh klar. Und es ist nicht unbedingt ein guter Mensch. Als ihn zwei MP zu einem Briefing abholen kommen, ist seine erste Reaktion nach seiner Anklage zu fragen. Später gesteht Willard dem Publikum, dass er mindestens sechs Menschen umgebracht hat, nachdem ihn Colonel Lucas (Harrison Ford) beim Briefing zuvor quasi als militärischen Auftragskiller geoutet hat. Eine Bezeichnung, die Willard selbst so nicht unbedingt akzeptiert, korrigiert er Kurtz bei ihrer ersten Begegnung mit den Worten: „I’m a soldier“. Letztlich trifft Kurtz’ Definition durchaus die Wahrheit. Willard als Laufbursche soll eine Rechnung eintreiben. Coppola zeichnet Willard als ruhigen Menschen, der über seinen Auftrag meditiert und mit seiner Umwelt kaum korrespondiert. Die meiste Zeit des Filmes über sieht man Willard folglich alleine auf dem Patrouillenboot in das Militärdossier über Kurtz vertieft. Mit den anderen Mitgliedern seiner Einheit spricht Willard nur selten und nur dann wenn es nötig ist. Exemplarisch hierfür auch die Playmate-Szene in Hau Phat, wo Willard während der Show alleine und abseits seiner Männer steht. Sein wahres Gesicht zeigt er schließlich nochmals in der Sampan-Szene, wenn er nach der durch Cleans (Larry Fishburne) Überreaktion missglückten Kontrolle die vietnamesische Frau erschießt, um den Fortgang der Mission nicht zu gefährden. Seine Äußerung gegenüber Chief (Albert Hall), dass, hätte dieser nicht extra gestoppt, das Massaker nicht passiert wäre, spricht für Willards Loyalität und Linientreue gegenüber seinem Auftrag.

Essentiell für die Entwicklung der Figur sind dann das Briefing zu Beginn und das Dossier über Kurtz. Hier greift General Corman (G.D. Spradlin) bereits die Analogie der Geschichte vorweg, wenn er Willard erklärt, dass in jedem Herzen eine gute, rationale und eine böse, dunkle, irrationale Seite herrschen. „Every man has a breaking point“, lautet sein Fazit und letztlich sein Resümee bezüglich Kurtz’ Verhalten. Als trivialer Aspekt sei die Hommage an Coppolas Regiekollegen und Freunde George Lucas und Roger Corman angesprochen, nach denen die beiden Offiziere in der Briefing-Szene benannt wurden. In jenem Dossier erhält das Publikum gleichermaßen mit Willard die ersten Eindrücke von Kurtz. Ein Paradebeispiel eines guten Soldaten, in höchsten Ehren gehalten. „The more I read and began to understand the more I admired him“, offenbart Willard im Laufe des Filmes. Ein schmaler Grat für ihn und im Kern eine Gefährdung seiner Mission. Wie er erst später erfahren wird, wurde bereits vor sechs Monaten mit Captain Colby (Scott Glenn) ein anderer Soldat losgeschickt, um Kurtz zur Rechenschaft zu ziehen. Coppola impliziert sogar, dass es Chief war, der Colby damals den Fluss hochgefahren hat.

Für Willard wird die Identifizierung mit Kurtz – beide waren in Westpoint, beide unternahmen mehrere Touren in Vietnam, beide hassen nichts mehr als Lügen – zu einem gefährlichen Spiel. Nicht ohne Grund sah Milius’ ursprüngliches Skript vor, dass Willard am Ende des Filmes, wie schon Colby zuvor, Kurtz unterstützen würde. Kurtz ist die Konstante im Film, das scheinbar einzig greifbar Reale in diesem Fluss von Surrealität, dem Willard sich ausgesetzt sieht. „The thing I felt the most … much stronger than fear, was the desire to confront him“, bestärkt Willard immer wieder sein Begehren. Einer der Aspekte von Apocalypse Now, der sehr stark an Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness angelehnt ist. Es ist nachvollziehbar, weshalb Lucas und Corman sich Willard für ihre Mission ausgesucht haben. Nachdem der Green Beret Colby gescheitert ist, wahrscheinlich aufgrund der Ähnlichkeiten gegenüber Kurtz, ist es naheliegend, einen prädestinierten Killer wie Willard - den mal losschickt, um die Drecksarbeit zu erledigen - auf Kurtz anzusetzen. Weshalb Willard letztlich an dieser Aufgabe scheitern muss oder zumindest scheitern wird, hebt der Redux-Cut des Filmes von 2001 sehr ausführlich hervor. Eine These, die jedoch unter dem fünften Punkt, welcher sich eingehender mit den Unterschieden zwischen beiden Fassungen beschäftigt, genauer erörtert werden soll.

2.2. Of flying cowboys and neocolonialism – Das Herz des Films

Entgegen einer ausführlichen Vorstellung der Boots-Besatzung (ohnehin misslungen, wie in einer geschnittenen Szene zu sehen), schenkt Coppola den vier Männern zuerst lediglich eine kurze Einführung. Peu a peu wird Willard dem Zuschauer die Männer näher bringen, selbst wenn die erste Einstellung bereits nahezu ausreichend ist. Bezeichnend für die Charakterisierung ist eine singuläre Einstellung des Regisseurs. Beginnend mit Chef (Frederic Forrest), der ein Buch liest, schwenkt Coppola zu Mr. Clean, dem Teenager, ein Comic lesend, während sich der kalifornische Star-Surfer Lance (Sam Bottoms) aufs Sonnen beschränkt und Chief als Vater der Truppe das Boot lenkt. Nach der kurzen Vorstellung der Männer beginnt die eigentliche Mission, die kurz darauf zumindest im filmischen Sinne ihren Höhepunkt erreichen wird. Die schillerndste und in gewissem Sinne surrealste und doch beispielhafteste Figur, nicht nur für den Vietnamkrieg sondern auch für die Produktion von Apocalypse Now, wird die Szenerie betreten und die nächsten 24 Minuten dominieren. Bei einem Angriff erwartet Willard und seine Truppe die Begegnung mit Lt. Colonel Kilgore (Robert Duvall) und mit ihm quasi der Wahnsinn dieses Krieges. Die gesamte Sequenz dient Coppola, der aufgrund der Verhinderung einiger Schauspieler selbst einen Kurzauftritt als Fernsehregisseur hat, für eine Anprangerung an die eigene Zivilisation. Weyand sieht Kilgore hierbei als „wandelndes Zitat der amerikanischen Kultur“ (Weyand, S. 116).

Kilgore ist ein wahres Geschenk und die Ambivalenz in Person. Eingeführt wird er von seinem Hubschrauber aus, der die bezeichnende Aufschrift „Death From Above“ trägt. Mit Stetson-Hut verkörpert er damit in der Tat einen „flying cowboy“ (Norris, S. 499). Nachdem er gelandet ist, stößt er auf die Unmenschlichkeit seiner Soldaten. Ein sterbender Vietcong verlangt nach Wasser. Kilgore brüskiert sich, wird beinahe handgreiflich und will dem niedergerungenen Feind aus seiner eigenen Flasche zu trinken geben. Die Szene verkehrt sich ins Absurde, wenn er abrupt abbricht – sogar das Wasser verschüttet -, nachdem er erfährt, dass Lance anwesend ist. Hatte er Willard zuvor noch hinsichtlich seiner Mission abgewiesen, ist er nun wieder ganz Ohr. Wie Lance stammt Kilgore aus Kalifornien und surft. Ein glücklicher Zufall oder Vorherbestimmung. Das abendliche Lagerfeuer verkommt dann zur doppelten Allegorie. Für seine Männer war es sich Kilgore nicht zu teuer, Bier und Barbecue einfliegen zu lassen. Eine Widerspiegelung der neokolonialistischen Thematik des ganzen Krieges: „The colonialist (or neocolonialist) never truely leaves home, he takes home with him, duplicating its values and artefacts whereever he settles“ (Adair, S. 155).

Ein sich wiederholendes Schema im Film, beispielsweise wenn Lance Wasserski fährt, während Clean “Satisfaction” von den Rolling Stones im Radio hört, während die vietnamesischen Bauern von der Bugwelle des Bootes ins Wasser geworfen werden. Aber auch ein sich wiederholendes Schema für die Filmproduktion selbst, wenn Coppola sich zu seinem Geburtstag eine Torte aus den Vereinigten Staaten einfliegen ließ (vgl. Goodman/Wise, S. 215) oder Kameramann Vittorio Storaro und andere italienische Crewmitglieder Essen aus Rom importieren ließen (ebd.). Für Kilgore stellt es lediglich eine Versorgung seiner militärischen „Familie“ dar. Als Willard zurück auf seine Mission zu sprechen kommt, erklärt ihm Kilgore, dass der ausgewählte Landeplatz haarig sei. Diesen Fakt lässt er sich von einem seiner Männer sogar bestätigen, der nicht müde wird, dies zu betonen. Es sei so haarig, dass man neulich sogar einen Mann dort verloren hätte. Zufällig wird erwähnt, dass die Wellen an jenem Landeplatz jedoch sechs Fuß hoch seien. Logischerweise wird Kilgore sofort hellhörig, auch da Lance anwesend ist. Warum man ihm dies nicht früher gesagt hätte, will er wissen und bekommt sein eigenes Mantra entgegengeschmettert. Es sei haarig. Doch Kilgores Entscheidung ist gefallen und mündet in einem der gelungensten Filmzitate aller Zeiten: „Charlie don’t surf!“. Hier ist er wieder, der Neokolonialismus.

Was folgt ist jene Szene, für die Apocalypse Now im Gedächtnis geblieben ist und in die Filmgeschichte einging. Natürlich eingeleitet vom Kavallerie-Horn, die Surfbretter an die Hubschrauber neben die Maschinengewehre platziert, hebt das Geschwader des „fliegenden Cowboys“ ab. Die 14-minütige Walküre-Szene beanspruchte siebeneinhalb Wochen Drehzeit, resultierte in unglaublichen 130.000 Fuß Filmmaterial und beinhaltet „168 Einstellungen in 10,5 Minuten“ (Darmstädter, S. 41). Eine mehr als imposante Szene, virtuos inszeniert und photographiert, ihren Ausgang in dem überwältigenden Napalmangriff findend. Wenn man den Cuttern um Walter Murch glauben darf, wurde derartig viel in die Luft gesprengt, dass man daraus einen eigenen Film hätte schneiden können. Doch erneut bildet die Szenerie nur den Auftakt für die beeindruckende Leistung von Robert Duvall. Nochmals portraitiert Coppola dessen unwahrscheinliche Ambivalenz. Nachdem er einer vietnamesischen Mutter mit ihrem Kind einen Platz in seinem Hubschrauber sichert, zwingt er zwei seiner Soldaten quasi dazu, noch während des Gefechtes ins Wasser zu steigen und zu surfen. Es ist lediglich der Napalmangriff, der Lance vor demselben Schicksal bewahrt. Zugleich bietet die Szene noch den Auftakt für Duvalls vielleicht größte Szene in seiner Karriere. „I love the smell of napalm in the morning“, schwadroniert er und ergänzt, „it smells like victory“. Hier findet das Thema des hoch technologisierten Krieges ein kurzes aber prägnantes Echo.

3. Penetrating deeper and deeper into the heart of darkness – Conradsche Elemente
Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness von 1899 bildete die Basis für Apocalypse Now, selbst wenn Conrad im Abspann keine Anerkennung erfährt. Basierend auf seinen eigenen Erlebnissen im Kongo erzählt Conrad von dem Seemann Marlowe, der im afrikanischen Dschungel auf die Suche nach dem Elfenbeinhändler Kurtz ging. Der gebürtige Pole behandelte zwei Themen in seiner Novelle. Auf der einen Seite, wie man sich denken kann, den Kolonialismus der europäischen Großmächte – in diesem Fall Großbritannien. Auf der anderen Seite impliziert seine Geschichte „a universal darkness in man“ (Hellman, S. 70). Die äußerliche Ähnlichkeit zu Coppolas bzw. Milius’ Werk ist gering, die innere dafür umso größer. Marlowe wird nicht geschickt, um Kurtz zu töten und letzterer stirbt schließlich auch durch die Hand eines Dritten. Zudem ist die Surrealität der Geschichte eher von rationaler Natur – ein Engländer zum ersten Mal in Afrika -, als dass ihr surreale Elemente wie in Coppolas Film inne wohnen. Identisch ist jedoch die Faszination der Titelfigur an Kurtz und dessen Korruption durch seine eigenen Dämonen.

Einige Elemente des Buches finden sich in Apocalypse Now sogar direkt wieder, zum Beispiel jener Aspekt, dass Marlowe Kurtz zuerst lediglich über das Hören kennenlernt. Es sind die positiven Stimmen, die Marlowe ein Bild dieses Mannes geben. „[Kurtz] was just a word for me. I did not see the man in the name any more than you do“, schreibt Conrad auf Seite 27 und später dann: „I made the strange discovery that I had never imagined him as doing, you know, but as discoursing. (…) The man presented himself as a voice” (Conrad, S. 47). Demgegenüber steht dann die grandios geschrieben Erzählstimme von Michael Herr für Willard, wenn dieser Sätze äußert wie: „I couldn’t connect up this voice with this man“. Hinsichtlich des Verlaufs von Apocalypse Now beginnt sich das Rad der Geschichte zurück zu drehen. Mit jeder neuen Station verlässt das Patrouillenboot mehr und mehr die Zivilisation und reist praktisch, noch deutlicher im Redux-Cut, in die Vergangenheit (vgl. Weyand, S. 108). „Going up that river was like travelling back to the earliest beginnings of the world“ (Conrad, S. 33). Genauso wie der Film spielt auch Conrad mit dem Bild, das er von Kurtz evoziert. Während Marlon Brando lediglich im letzten Sechstel des Filmes auftaucht, begegnen sich auch Marlowe und Kurtz erst, als bereits Dreiviertel der Geschichte erzählt wurden.

Was somit beide Geschichten eint, ist speziell der Wandel, den die Figur von Kurtz als Surrogat für die gesamte westliche Zivilisation erfährt. „He broke from them. And then he broke from himself“, lautet Willards Erklärung für das Verhalten des Abtrünnigen. Letztlich verkörpert Kurtz jenes westliche Ideal (sei es das Britische oder das Amerikanische), welches durch den Krieg und (Neo-)Kolonialismus korrumpiert wurde. „Kurtz (..) sees his own perversity as the interiorization of the perversity of the war“ (Norris, S. 498). Wenn man so will, stehen Willard, Kilgore und Kurtz exemplarisch für den Verlauf der USA während bzw. durch den Vietnam Krieg. Willard wie Marlowe verkörpern die alten Ideale, eine Idee des sauberen und gerechten Amerika. Durch das Bleiben auf dem (moralischen) Pfad, sichert man sich seine innerliche Ehrlichkeit. Dieses altruistische Bild der Demokratieverfechter des Zweiten Weltkriegs ist de facto nicht mehr präsent. An diese Stelle ist nunmehr Kilgore getreten, der Repräsentant des gegenwärtigen Amerika. Er verkörpert den Yankee, den Cowboy, der mit Stetson-Hut und Surfbrett Barbecue-Grills und Bier importiert. Kurtz hingegen stellt die Bedrohung des baldigen Amerika dar. Eine in der eigenen Dunkelheit verlorene Seele. „I think [the darkness] had whispered to him things about himself which he did not know, things of which he had no conception till he took counsel with great solitude – and the whisper had proved irresistibly fascinating“, fasst Conrad Kurtz’ Wandel in einem Satz zusammen (Conrad, S. 57).

4. He broke from them. And then he broke from himself – Der Blick in den Abgrund
Nach der Kilgore-Episode erwartet das Patroiullenboot ein Zwischenstopp auf der Basis Hau Phat. Das umfangreiche Set wusste seine eigene Geschichte zu erzählen und war unter anderem mitverantwortlich für die Explosion des Budgets, als es nach dem Einfall des Hurrikans „Olga“ im Grunde vollständig zerstört und wieder aufgebaut wurde (vgl. Weyand, S. 103f.). Coppola nutzte die Zeit, um sechs Wochen in die USA zu fliegen, um dort ein Ende für seinen Film zu finden. Zu diesem Zeitpunkt war der Regisseur bereits derart fertig mit den Nerven, sodass er sogar vom Tod sprach. Drehbuchautor John Milius wies er an, dass wenn er, Coppola, sterbe, Milius selbst die Regie für den Film übernehmen müsste. Sollte auch Milius sterben, würde die Regie an George Lucas fallen (vgl. Goodman/Wise, S. 223). Welch bittere Ironie, dass im Verlauf der Dreharbeiten beinahe tatsächlich jemand gestorben wäre. Eines Tages erlitt Martin Sheen während des Joggens einen Herzinfarkt (vgl. Weyand, S. 103f., sowie Goodman/Wise, S. 232). Er schleppte sich in einen Bus und konnte schließlich von Produktionsdesigner Dean Tavoularis gefunden werden. Um den Gesundheitszustand von Sheen soll es so schlecht gestanden sein, dass ihm ein herbeigeholter Priester bereits die Absolution erteilt hatte (vgl. Cowie, S. 200).

„Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, schrieb Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse. Ein Aphorismus, der begann Apocalypse Now zu überwältigen, sowohl im Film, als auch auf dem Set. Als Mitte des Filmes fungiert die Szene an der Do Lung Brücke – praktisch dem Rubikon von Vietnam. Jede Nacht bauen die amerikanischen Soldaten diese Brücke auf, bevor sie um 8 Uhr Morgens vom Vietcong wieder zerbombt wird. Diese Sysyphus-Arbeit dient dem alleinigen Zweck, behaupten zu können, dass der Weg nach Kambodscha frei sei. Dabei ist es lediglich der Vietcong, der sich der Brücke überhaupt bedient. Für Coppola selbst stellte jene Sequenz eine Allegorie auf Dantes Inferno dar. Das Dunkel der Nacht wird lediglich von gelegentlichen Scheinwerfern, Explosionen, Feuern oder einer Lichterkette durchbrochen. Von allen Seiten ertönen Schreie und als sich das Patrouillenboot der Brücke nähert, stürmen amerikanische Soldaten mit gepackten Koffern aus dem Ufer ins Wasser, um mitgenommen zu werden. „You’re in the asshole of the world, Captain“, ruft Willard ein Offizier zu, nachdem er ihm eine Erweiterung des Dossiers zukommen ließ und im Dickicht verschwand. Gemeinsam mit Lance, vollgedröhnt mit LSD und seinem Hundewelpen in der Brusttasche, macht sich Willard auf, um den Befehlshabenden Offizier ausfindig zu machen. Wieso wird nicht klar und der Sinn und Zweck der Szene ist auch vielmehr der sinnlose Wahnsinn zweier ungeordneter Parteien, sie sich unentwegt beschießen. Als Willard einen Soldaten schließlich fragt, wer nun der Befehlshabende Offizier sei, erhält er die bezeichnende Gegenfrage: „Nicht Sie?“.

Wie in den anderen Szenen stellt auch die Do Lung-Sequenz nur ein Spiegelbild der amerikanischen Bestrebungen in Vietnam dar. „The river journey (…) takes the detective and viewer, not through Vietnam as a separate culture, but through Vietnam as the resisting object of a hallucinatory self-projection of the American culture“ (Hellman, S. 70). Hier wird der Vietnamkrieg als ein sinnloses Gefecht dargestellt, welches auf Kosten des eigenen Verstandes ausgefochten wird. Auch die folgende Szene beinhaltet einen weiteren Kritikpunkt und zwar der des jungen Soldaten. In der geschnittenen Szene der Besatzungsvorstellunug erklärt Chief gegenüber Willard, dass Mr. Clean heißt wie er heißt, weil er sehr sauber und ordentlich sei. Passender ist jedoch die Interpretation von Greiff: „Clean (…) is in truth only a child, innocent as his name implies and not yet old enough (…) for valid moral choice“ (Greiff, S. 489). Mit der Situation eines Krieges kann der 17-Jährige (noch) nicht entsprechend umgehen. Dies äußert sich in seiner überhasteten Erschießung der Sampan-Besatzung und letztlich auch in seinem eigenen Tod. „Clean’s special role in the film, is as every war’s victimized infant – victimized in his pathetic death and even victimized in his pathetic killing of others.“ (Greiff, S. 489). Wenn Coppola den Tod des Teenagers schließlich simultan zu den Anweisungen seiner Mutter (im Übrigen ist hier Fishburnes eigene Mutter zu hören), sich vor den Kugeln in Acht zu nehmen und gesund nach Hause zu kommen, abspielen lässt, bedarf es für die Figuren keiner trauernden oder anklagenden Worte mehr.

4.1. Turning into Kurtz – Wenn Film zur Realität wird
Während der Film unweigerlich auf sein Finale zusteuerte – in einer weiteren direkten Conrad-Referenz scheidet auch Chief noch aus dem Leben -, hatte Coppola mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Nicht nur befand er sich bereits viel zu lange im philippinischen Dschungel, sondern sein Budget wuchs auf fast schon astronomische Ausmaße an. Aus den eingeplanten zwölf Millionen Dollar wurden dreißig und ein Großteil stammte aus Coppolas eigener Tasche. Apocalypse Now wurde im Laufe der Jahre zum heißen Eisen, an dem sich niemand die Finger verbrennen wollte. Die Verzögerungen bei den Dreharbeiten sorgten dafür, dass man in der Heimat bereits zynisch von Apocalypse Never scherzte. Für die enormen Kosten war Coppola jedoch selbst verantwortlich. Nicht nur bezahlte er der philippinischen Regierung Unsummen für deren Militärapparat, sondern mit Geld wurde allgemein nicht sonderlich gegeizt. Ähnlich wie Kilgore ließ es sich der Oscarpreisträger nicht nehmen, Steaks, Wein und Klimaanlagen aus Amerika einfliegen zu lassen, um den Aufenthalt im Dschungel so angenehm wie möglich zu gestalten. Es wurde bereits erwähnt, dass er sich zu seinem Geburtstag eigens eine Torte importieren ließ und auch die Bestellungen von Vittorio Storaro und den anderen Italienern am Set wurden angesprochen. Letzterer Fall ist exemplarisch für die Ausuferung des Budgets, denn jene Würste und andere Lebensmittel, die Storaro und Co. für $700 aus Rom orderten, kosteten im Nachhinein mit Versand und Zollgebühren ganze $8,000 (vgl. Goodman/Wise, S. 215).

Identifizierte sich Coppola zu Beginn noch mit Willard, wandelte sich dies im Laufe der Drehzeit. „He was turning into Kurtz“, hielt Coppolas Ehefrau Eleanor in ihrem Tagebuch fest (vgl. Weyand, S. 118). Der Italo-Amerikaner verlor sich inzwischen immer mehr in seinem Projekt. „My film is not (…) about Vietnam. It is Vietnam“, erklärte er (Weyand, S. 119; Herv. d. Verf.). Die Surrealität des Filmes nahm überhand. In einigen Szenen verwendete man echte Leichen, denn diese waren „less costly than dummies“ (vgl. Goodman/Wise, S. 216). Erinnerungen an den Pferdekopf in The Godfather werden wach. Immer wieder improvisierte Coppola während der Dreharbeiten, hielt sich schon lange nicht mehr primär ans Drehbuch, sondern filmte was ihm gerade einfiel. So erklärt sich die vielfache Verwendung der Rauchbomben, an deren Farben sich Coppola, Storaro und Tavoularis immer wieder ergötzten oder die Einbindung von Lance, der mit einem Pfeil im Kopf Chief zu Grabe trägt. Alles stets unter der Prämisse, dass der Regisseur keine Ahnung hatte, wie oder wann der Film enden sollte. Dies führte zur nur halb im Scherz geäußerten Bemerkung an Frederic Forrest, dass dieser nie wieder nach Hause kommen würde. Teilweise verbrachte Coppola seine Abende jammernd und den Tränen nahe, schier verzweifelnd an dem Projekt, dass er als seinen persönlichen Niedergang sah. Lediglich eine Affäre, die er auch nach den Dreharbeiten noch aufrecht erhielt, wusste seine Laune kurzzeitig zu bessern. Was Coppola inzwischen in Apocalypse Now betrieb, war filming by doing.

4.2. I don’t see any method at all – Marlon Brando und das Finale

Die Aussichten des Filmes wurden nicht besser. Marlon Brando kündigte sich an, um innerhalb von vier Wochen für drei Millionen Dollar seine Rolle als Kurtz zu spielen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Coppola immer noch keine Vorstellung davon, wie das Ende des Filmes aussehen würde, geschweige denn die Szenen mit Brando. Als dieser eintraf, verschlimmerten sich Coppolas Befürchtungen. Seit der Regisseur den Star das letzte Mal gesehen hatte, war dieser noch dicker geworden. Brando war von einer derartigen Fettleibigkeit gezeichnet, dass es dem Hollywood-Star schon selbst peinlich war. Während der ersten Tage war an Drehen nicht zu denken, da Brando sich weigerte, den Ideen von Coppola Folge zu leisten. Stattdessen verbrachten die beiden Männer die Tage damit, über Termiten zu diskutieren, während die Produktion stillstand. Erst als Brando Heart of Darkness gelesen hatte, konnte das Drehen weitergehen. Infolge seiner Fettleibigkeit wurde der Star größtenteils nur bis zu seinem Schultern gefilmt, während für die anderen Szenen ein Körperdouble einsprang. An ein Drehbuch war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken, es war praktisch nicht mehr existent. Stattdessen improvisierte Brando seinen Text die meiste Zeit, so stammt im Grunde sein kompletter erster Dialog mit Willard vollkommen von ihm selbst.

Das zeitliche Problem mit Brando war zugleich ein finanzielles. Sollte man seine Szenen nicht in den vertraglich vorgeschriebenen vier Wochen abgedreht haben, müsste man für jede zusätzliche Woche nochmals Millionenbeträge ausgeben. Teilweise wurde stundenlang von Brando improvisiert, woraus in der Post-Produktion halbwegs zusammenhänge Monologe geschnitten werden mussten. Grundsätzlich ist die Besetzung des übergroßen Kurtz mit dem übergroßen Brando sichtlich gelungen. Die Eigenheiten des enfant terrible verzeiht man ihm, wenn man zu Schätzen lernt, was er hier erschaffen hat. Auch die improvisierten Dialoge des Schauspielers sind von einer pointierten Präzision, die sich ganz in den Dienst der Surrealität des Filmes stellt. Lediglich die Conradsche Übernahme der finalen Worte („The horror. The horror.“) will im Film selbst nicht so recht passen, da der Kontext von Kurtz hier etwas differenzierter ist als in Heart of Darkness. Dennoch verkommt Colonel Kurtz zu einer von Brandos imposantesten Figuren, die sich vor Vito Corleone oder Terry Malloy nicht zu verstecken braucht. Für die Brando-Szenen gilt ebenso wie für einige andere Einstellung speziell, jedoch ohnehin für den Film allgemein, dass Storaro hier eine grandiose und beeindruckende Leistung abgeliefert hat. Sein Licht- und Schatteneinsatz stellen sich ganz in den Dienst der Handlung.

Erst kurz vor knapp fand Apocalypse Now sein heutiges Ende. Nach eigenen Angaben hatte Coppola um die 500 Entwürfe im Laufe der Zeit skizziert und alle verworfen. Letztlich verdankte der Film sein Finale Dennis Jakob, sowie der Dokumentation von Eleanor Coppola. Jakob, ein Kommilitone und Freund Coppolas von der Filmhochschule, hatte einst an einem Kurzfilm über James George Frazers The Golden Bough gearbeitet und den Film als Lektüre für Kurtz im Film nahegelegt. Jenes mythische Buch, in dem ein König getötet wird, damit dessen Nachfolger als neuer König für einen Neuanfang stehen kann, inspirierte Coppola letztlich zu den finalen Minuten, die für Kurtz und Willard ein Ende und zugleich einen Neuanfang darstellen sollten. Als Coppolas Frau Eleanor mit Aufzeichnungen von der rituellen Opferung eines Wasserbüffels durch das eingeborene Volk der Ifugao heimkehrte, offenbarte sich dem Regisseur jene Verbindung zwischen Zeremonie und Mord, die sich auch in anderen Werken (z.B. Cotton Club) finden würde. Das Ende war gefunden, der Film abgeschlossen. Anstatt Willard zum neuen König verkommen oder Kurtz’ Lager in die Luft sprengen zu lassen, begnügte Coppola sich mit einem relativ friedlichen Schluss und der Rückkehr von Willard und Lance in die Zivilisation. Doch das Ende der Dreharbeiten bedeutete noch lange nicht das Ende des Filmes. Die Nachproduktion sollte ebenfalls zu einem länger währenden Prozess werden, in welchem das, was man als „Film“ bezeichnen konnte, sich noch herauskristallisieren musste.

5. There are two of you, don't you see? – Die unterschiedlichen Filmfassungen
Schon bald nachdem man Apocalypse Now abgedreht hatte, verschob man den Starttermin. Zu diesem Zeitpunkt war der Film bereits ein Jahr überfällig und es wurde begonnen Immobilien von Coppola aufgrund seiner Verschuldung zu pfänden (vgl. Goodman/Wise, S. 257). Als Walter Murch 1977 zum Schnitt des Filmes dazu stieß, gestand er: „there was only a 20 per cent chance [I] could pull off the film“ (Cowie, S. 100). Coppola hatte einfach drauf los gefilmt, viele Szenen ergaben keinen Sinn, erklärten ihren Kontext nicht. Murch empfahl eine Erzählstimme einzubauen, die sogar im ursprünglichen Skript von Milius vorgesehen war. Im selben Jahr holte man Michael Herr an Bord, der mit seiner Aufsatz-Sammlung Dispatches über den Vietnam-Krieg zuvor für Aufsehen gesorgt hat (vgl. Cowie, S. 105). Schließlich sind es zu einem Großteil Herrs brillante Monologe, die den fertigen Film zu dem machen, was er letztlich geworden ist. Nichtsdestotrotz empfand Coppola sein Werk als zu lang für die Zuschauer. Im Zuge seiner Anmeldung beim Filmfest in Cannes – wo Apocalypse Now infolgedessen gemeinsam mit Die Blechtrommel die Palm d’Or gewann – wurde der Film stringenter geschnitten und existierte anschließend für gut zwanzig Jahre in seiner Kinofassung.

Ende der neunziger Jahre stolperte Coppola bei einer Fernsehausstrahlung über sein Werk und war überrascht. „[Apocalypse Now] looked like a regular movie”, bemerkte der Regisseur. Was folgte war die Wiederherstellung einer Schnittfassung, die mehr den Wünschen und den Ideen des Regisseurs entsprach. Die 2001er Version des Filmes, Apocalypse Now Redux getauft, sollte die Handlung bereichern und einiges verständlicher machen, während man die Stringenz des Originals durchbrach. Hierbei handelt es sich oft um Erweiterungen für Willards Entwicklung. Darunter fallen die „Flucht“ vor Kilgore und der Diebstahl seines Surfbretts. Für sich genommen wirkt der Diebstahl genauso wie Kilgores Reaktion auf diesen recht kindisch, zumindest aber nicht typisch für Willards Charakter. Es sollte jedoch bedacht werden, mit welchem Unglauben Willard auf die Begegnung mit Kilgore reagiert. Das Unverständnis, was man gegen Kurtz haben kann, wenn man Leute wie Kilgore an der langen Leine lässt. Jemand, der das Leben seiner Soldaten gefährdet, um zu Surfen. Gemeinsam mit der Playmates-Sequenz steht der Raub des Surfbrettes für die „Vermenschlichung“ des Armee-Killers. Willard, der Einzelgänger, ist nun Teil einer Einheit. Etwas, das für ihn ungewohnt ist, von dem er sich teilweise anstecken lässt (Surfbrettdiebstahl), aber dann auch gleich wieder distanziert (Marihuana-Konsum). Kilgores Bittstellung an Lance – der ursprünglich im Skript als Dieb vorgesehen war – reflektiert anschließend nur nochmals seine ganze Position zum Surfer und Neokolonialismus an sich.

Die nächste Erweiterung ist das verregnete Lager und die dort gestrandeten Playmates. Dass Willard hier als Zuhälter auftritt, der seiner Crew eine, um es euphemistisch auszudrücken, „Erleichterung“ zuteil werden lässt, resultiert aus den Anspannungen innerhalb der Truppe (die auch zugleich während Willards Abwesenheit erkenntlich werden). Die Sequenz an sich ist somit zum einen als Dienst an der Truppe zu verstehen und ein weiteres Indiz für Willards „Vermenschlichung“ und zum anderen weiteres Exempel für den Wahnsinn des Krieges (selbst ohne Feindkontakt), welcher selbst vor, wenn man sie so nennen will, „Unterhaltungsmedien“ nicht Halt macht. Es ist dieser offenere, umgänglichere Willard, der schließlich im Finale nicht der Versuchung erliegt, sondern der Verheißung des „Königreiches“ den Rücken zukehrt. Der stärkste Einschnitt geschieht jedoch sicherlich durch die 23-minütige Sequenz auf der französischen Plantage. Hier widmet sich Coppola allein in einer neunminütigen Tischszene (großartig ausgeleuchtet von Storaro) der Thematik des Vietnamkrieges. „You Americans are fighting for the biggest nothing in history“, urteilt Hubert de Marais (Christian Marquand) über die Bestrebungen der Amerikaner. Dass die amerikanische Regierung dieselben Fehler wie die Franzosen zwei Jahrzehnte zuvor begehen, das geschichtliche Thema des „geerbten Krieges“, kulminiert in der Klimax der Szene, wenn de Marais schließlich sein Verweilen in Vietnam dem Wohle der Familie unterordnet, die inzwischen, sich über die politische Lage brüskierend, vom Tisch entfernt hat.

Des Weiteren sorgen die Playmate- und Plantageszenen dafür, dass Apocalypse Now Redux sich von der gewöhnlichen Stringenz des Vorgängers entfernt. Es entstehen Pausen, Stimmungs- und Farbwechsel, sodass die Handlungspunkte (Sampan-Massaker, Do Lung Brücke, Mr. Cleans und Chiefs Tod) nicht Schlag auf Schlag geschehen, sondern in ruhigeren und durch ihre Einbindung in surrealere Szenen eingebettet werden. Zusätzlich erklärt die Plantagensequenz auch, was mit Cleans Leichnam passiert ist und fördert außerdem nochmals die Vermenschlichung von Willard. Wenn Roxanne (Aurore Clément) ihn nach einer Opiumpfeife (deren richtige Stopfung von einem extra von der philippinischen Regierung geschickten Gefängnisinsassen angeleitet wurde) seinen Charakterbruch („There are two of you, don’t you see? One that kills … and one that loves“) vergegenwärtigt, spielt auch dies wieder in die Entwicklung von Willard und seine finale Entscheidung den Militärdienst zu quittieren mit hinein. Währenddessen bezieht sich die ergänzte Kurtz-Szene mit den TIME Magazine Artikeln erneut auf den politischen Aspekt des Krieges. Wenn man so will, ist Apocalypse Now Redux durchaus ein Anti-Kriegsfilm, während dieser Aspekt in der Kinofassung weniger zu Tage tritt (vgl. Darmstädter, S. 40). Grundsätzlich ist die Geschichte jedoch eine „Frage nach der Grenze zwischen Gut und Böse“ (ebd.), in der Willard am Ende „by his own inner honesty“ (Cowie, S. 172) gerettet wird.

6. A fifth-grader in a third-grade world – Ein Fazit
Im Nachhinein kam Apocalypse Now obschon der Auszeichnung in Cannes bei den Kritikern nicht sonderlich gut an. Nach einigen Testvorführungen, vor denen Coppola darum gebeten hatte, anschließend keine Kritik zu verfassen, da es sich noch um einen Film im Arbeitsprozess handeln würde, war das Urteil teilweise vernichtend. Coppola glaubt sich im Audiokommentar zu entsinnen, dass das TIME Magazin den Film damals als das Schlechteste bezeichnete, was das Kino in den letzten vierzig Jahren hervorgebracht habe (was Coppola bedrückt zurück und sich fragen ließ, ob es nicht wenigstens nur der drittschlechteste Film sei). Auch andere Rezensenten blickten verachtend auf jenes Werk, das geschlagene drei Jahre auf sich warten ließ (Tookey spricht von einen prätentiösen Ende und einer hoffnungslosen, selbstverliebten Darstellung Brandos, vgl. Tookey, S. 32). Coppola, der inzwischen nicht nur sein Herzblut, sondern auch sein Vermögen in das Projekt gesteckt hatte, fühlte sich nicht entsprechend gewürdigt. „I feel like a fifth-grader living in a third-grade world“, schmollte der korpulente Regisseur (vgl. Goodman/Wise, S. 271).

Retrospektiv betrachtet zählt Apocalypse Now inzwischen zu den geschätzten Meisterwerken des vergangenen Jahrhunderts. Der Virgin Film Guide nennt das Werk „(…) one of the most complex and unforgettable war movies ever made“ (Virgin Film Guide, S. 34) und das britische Empire Magazin führt ihn auf Platz Sieben der 500 Besten Filme aller Zeiten. Kim Newman befindet den Redux-Schnitt als „einen langsameren Film, mit Geist und Gedanken“ (Newman, Internet), will sich jedoch nicht festlegen, welche der beiden Versionen die Bessere ist. Den Ausführungen im vorangegangenen Kapitel tendiert der Autor selbst dazu, die neue Schnittfassung der alten vorzuziehen. Es entsteht eine stimmigere Version mit mehr charakterlicher Tiefe, speziell wie angesprochen in Bezug auf Willard. Die endgültige Entscheidung, welcher der beiden Filme dem anderen überlegen ist, muss dennoch jeder Zuschauer und jede Zuschauerin für sich selbst treffen. Die Hochphase des fünffachen Oscarpreisträgers war nach Apocalypse Now jedenfalls vorbei, der Ruhm und die Anerkennung hatten gelitten, selbst wenn Coppolas Name weiterhin zahlreiche Stars zu seinen Projekten lockte.

Wie in der Einleitung angesprochen wurde, war Coppola bei der Rückkehr von den Philippinen nicht mehr derselbe Mann, der The Godfather gedreht hatte. Dieser Mann sei, so der Regisseur selbst, im Dschungel gestorben. „I think that I’m a more interesting person and I’m going to do more interesting films“, prognostizierte Coppola, der in den folgenden neun Jahren seinen zweiten Vornamen „Ford“ ablegen sollte (vgl. Goodman/Wise, S. 272). Es folgte mit den Achtzigern das Jahrzehnt seiner schwächsten schöpferischen Phase, in welcher Coppola sich vom Blockbuster-Denken zu lösen und in die lang ersehnte Arthouse-Richtung vorzustoßen versuchte. Es sollte noch Jahre dauern, ehe Apocalypse Now seine Kosten wieder einspielte und Coppola selbst hatte sich bereits ein neues, nicht minder kostspieligeres „Hobby“ zugelegt. Ein eigenes Gelände für sein ins Leben gerufenes Zoetrope Studio. Für über zwanzig Millionen Dollar würde Coppola hier Straßenzüge der Glitzerstadt Las Vegas nachbauen lassen und auf neue, technologische Innovationen für sein kommendes Projekt One from the Heart setzen. Doch keines seiner kommenden Projekte sollte je wieder an die Stärke seiner Schaffensphase der Siebziger anschließen können. Nichtsdestotrotz bleibt Francis Ford Coppola wahrscheinlich der dominierende Regisseur dieses Jahrzehnts schlechthin.


Apocalypse Now: 8.5/10
Apocalypse Now Redux: 9/10


Quellen und Literatur:
• Adair, Gilbert: Hollywood’s Vietnam. From THE GREEN BERETS to APOCALYPSE NOW, London/New York 1981.
• Audiokommentar von Francis Ford Coppola, Apocalypse Now Redux, Apocalypse Now Collector’s Edition, Miramax, 2006.
• Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Authorative text backgrounds and contexts criticism, Paul B. Armstrong (Hrg.), New York/London 2006.
• Cowie, Peter: The Apocalypse Now Book, London 2000.
• Darmstädter, Tim: Artikel „Apocalypse Now“, in: Töteberg, Michael (Hrg.): Metzler Film Lexikon, Stuttgart/Weimar ²2005, S. 39-41.
• Goodwin, Michael/Wise, Naomi: On the Edge. The Life and Times of Francis Coppola, New York 1989.
• Greiff, Lois K.: Conrad’s Ethics and the Margins of Apocalypse Now. In: Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Authorative text backgrounds and contexts criticism, Paul B. Armstrong (Hrg.), New York/London 2006, S. 484-491.
• Hellman, John: Vietnam and the Hollywood Genre Film. Inversions of American Mythology in The Deer Hunter and Apocalypse Now. In: Anderegg, Michael (Hrg.): Inventing Vietnam. The War in Film and Television, Philadelphia 1991, S. 56-81.
• Newman, Kim: Apocalypse Now Redux (1979/2000). In: Empireonline.com, o.J., http://www.empireonline.com/reviews/reviewcomplete.asp?FID=15049 <22 .03.2009="">
• Norris, Margot: Modernism and Vietnam. In: Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Authorative text backgrounds and contexts criticism, Paul B. Armstrong (Hrg.), New York/London 2006, S. 491-499.
• o.A.: Artikel “Apocalypse Now”, in: The Eighth Virgin Film Guide, London 1999, S. 34.
• Suid, Lawrence H.: Guts & Glory. Great American War Movies, London u.a. 1978.
• Tookey, Christopher: The Critic’s Film Guide, London 1994.
• Weyand, Gabriele: Der Visionär. Francis Ford Coppola und seine Filme, St. Augustin 2000.

erschienen bei Wicked-Vision

21. März 2009

Panel to Frame: V for Vendetta

Silence is a fragile thing … one loud noise, and it’s gone. (V for Vendetta, S. 193)

Wir schreiben das Jahr 1981, ein Mädchen mit dem Namen Evey Hammond wird geboren und ihre nächsten Lebensjahre in Shooters Hill, im südlichen Osten von London verbringen. Es ist der 5. November 1605 und der Katholik Guy Fawkes wird unter dem House of Lords bei einem Stapel Holz erwischt, nachdem man Warnungen über ein Attentat erhalten hatte. Im Jahr 1988 eskaliert der Kalte Krieg zwischen den USA und der UdSSR. Ein atomarer Krieg bricht los, in dessen Folge Afrika und Europa vernichtet werden. Zu diesem Zeitpunkt ist Evey Hammond sieben Jahre alt, ihre Mutter wird sich drei Jahre später das Leben nehmen. Nach seiner Festnahme gesteht Guy Fawkes Mitglied einer Verschwörung gewesen zu sein, die als Gunpowder Plot in die Geschichtsbücher eingehen wird und der noch ein Dutzend andere Männer beiwohnten. 1988 versinkt England im Chaos, der nukleare Winter führt zu globalen Katastrophen und Überschwemmungen. Vier Jahre nach dem Krieg steigt die faschistisch-politische Organisation Norsefire auf und ergreift die Macht in England.

Am 31. Januar 1606 wird Fawkes gemeinsam mit einigen anderen Verschwörern vorgeführt, um gehängt, gestreckt und gevierteilt zu werden. Fawkes ist glücklicher als seine Mitverurteilten und schafft es, dass bei seiner Erhängung sein Genick bricht. Im England der neunziger Jahre führt Norsefire ein totalitäres Staatsgebilde ein. Zur Bewahrung der weißen Rasse werden alle afrikanischstämmigen Bürger, Pakistani, Ausländer und Homosexuellen in Internierungslager gebracht. In der Nacht vom 4. zum 5. November 1997 wird der Palace of Westminster in die Luft gesprengt, jener Ort, an dem Fawkes 391 Jahre zuvor seinen Tod fand. Vier Jahre zuvor wird Evey Hammonds Vater von der Sicherheitspolizei abgeführt und in ein Internierungslager gesteckt. Es wurde ihm zur Last gelegt, dass er in Universitätszeiten Freunde mit sozialistischer Gesinnung hatte. Weihnachten 1993 sorgt eine Explosion im Internierungslager Larkhill für Aufsehen, einer der inhaftierten Patienten kann fliehen. In der Nacht vom 4. zum 5. November 1997 wird die Geschichte Englands neu geschrieben, wenn Evey Hammond auf den mysteriösen Patient aus Larkhill trifft.

Die Mitte der achtziger Jahre gehörten im Comic-Genre zweifelsohne dem britischen Autor Alan Moore. Mit seiner zwölfteiligen Serie „Watchmen“ und den zehn Ausgaben zu V for Vendetta sind Moore nicht nur zwei außerordentliche Geschichten gelungen, sondern vielmehr politische Comics von herausragender Brisanz. Im Gegensatz zu seinem Superhelden-Abgesang schrieb Moore ganze sieben Jahre an V for Vendetta. Bezeichnenderweise begann seine Arbeit 1981, jenes Jahr, in dem seine Protagonistin Evey Hammond geboren wurde. Und nicht nur sie, sondern auch Moore eigene Tochter Amber erblickte in jenem Jahr das Licht der Welt. Im folgenden Jahr erschien die erste Ausgabe von Moores neuem Comic, die ihren Abschluss sechs Jahre später finden würde. Für Moore waren die Achtziger eine politisch bedrohliche Zeit. Während er sich dem nahenden Nuklearen Holocaust in Watchmen ausgiebig widmete, erschuf er in „V for Vendetta“ ein Szenario, welches sich nicht mit dem Prolog eines solchen ausgearteten Konfliktes beschäftigt, sondern mit seinem Epilog. Die ersten Anzeichen für seine Dystopie sah er Brite im eigenen Land.

Strength through purity, purity through faith. (V for Vendetta, S. 11)

Zielgerichtet ist Moores Kritik an den Thatcherismus im Allgemeinen und die Politik der Konservativen im Speziellen. Die britische Polizei wurde für Aufstände mit Überwachungskameras auf ihren Wagen ausgestattet, per Gesetz wurde die Klause 28 verabschiedet, um der Förderung von Homosexualität in den Schulen und Bibliotheken vorzubeugen, während die britischen Boulevardblätter nach Konzentrationslagern für AIDS-Kranke schrien. Für Moore ein Grund mehr, ein Horrorszenario zu spinnen, um die aktuelle politische Lage in einem Comic zu konterkarieren. Wie bereits in Watchmen bediente er sich hierfür der Genesis einer Dystopie und versetzte seine Handlung in die Jahre 1997/98. Gemeinsam mit Zeichner Dave Lloyd wurde V for Vendetta in drei ca. achtzig Seiten starke Bücher verpackt, in denen durchschnittlich sieben bis acht Panels vorherrschen. Über die Colorisierung kann man sich streiten, fügt sie sich doch in die Atmosphäre der achtziger Jahre ein. Dennoch ist es bedauerlich, dass die damals bei Warrior erschienen s/w-Version heute nicht mehr erhältlich ist, gewinnt die Geschichte durch die Farblosigkeit ungemein an Tiefe.

Innerhalb von Moores Comic prallen zwei Ideologien aufeinander: auf der einen Seite der Faschismus, stark angelehnt an Hitlers Drittes Reich, auf der anderen Seite die Anarchie, wie sie unter anderem von Mikhail Bakunin propagiert wurde. Sehr schön wird hier vor Augen geführt, welche Auswirkungen ein Weltkrieg auf eine Bevölkerung haben kann. Dass das, was in Deutschland während der Weimarer Republik geschah, kein Einzelfall sein muss, sondern wieder geschehen kann. Denn Geschichte wiederholt sich. Und auf das Chaos des Dritten Weltkrieges folgte schließlich die Ordnung einer einzelnen Partei. Fraglos bedingt durch die Unwirren in der Bevölkerung, durch eine Anarchie, die Ähnlichkeiten mit Platons Schilderungen seiner Demokratie in dessen Politeia hat. Menschen können nicht so frei sein, dass sie tun und lassen dürfen, wie es ihnen beliebt. Diese Form der „Unordnung“, der „Systemfreiheit“ wird von den Menschen selbst nicht angenommen. Es sehnt sie nach Führung, nach einem Führer und somit zu der von Platon beschriebenen Tyrannis unter einem einzelnen Herrscher oder der – wenn auch stark pervertierten Form – von Thomas Hobbes Vorstellungen aus seinem Leviathan. Man begibt sich unter die Führung eines einzelnen Individuums und durch jene Wahl entledigt man sich selbst in gewissem Maße der Verantwortung.

Ein Opfer dieses Faschismus’ wurde ebenjener Inhaftierte, der seine Freiheit am Weihnachtstag 1993 wiedererlang. Über seine Identität verrät Moore nichts, man erfährt nicht, ob er aufgrund seiner Hautfarbe oder seiner sexuellen Orientierung im Larkhill Konzentrationslager gelandet ist. Allerdings verfügt er über ein Vorwissen der Chemie, welches ihm ermöglicht anhand von Ammoniak-Dünger seine Zelle in die Luft zu sprengen. Ebenjene Zelle trug die römische Ziffer „V“ und ebenjene Kenntnis von Sprengstoff dürfte für V anschließend zur Adaption der Guy Fawkes Maskierung geführt haben. Die Anarchie, der V nunmehr folgt, ist keine selbst gewählte, sondern eine vom Staat auferlegte. In Frankenstein-Manier hat sich Norsefire sein eigenes Monster erschaffen, welches nun konsequent für den Niedergang seines Schöpfers aktiv wird. Für V zählt nur, seine ehemaligen Peiniger zur Strecke zu bringen. Dazu gehören nicht nur die Mitarbeiter des Konzentrationslagers, sondern auch jene Regierung, die für diese Lager verantwortlich ist. Wer alles bei seiner Vendetta zu Schaden kommt, ist für V unerheblich, geht der Maskierte doch sprichwörtlich über Leichen und versucht sich auch keineswegs in das Bild eines Helden zu zwängen. „I’m the bogeyman. The villain“, sagt er Evey bei ihrer Begegnung (V for Vendetta, S. 13).

It is the duty of every man in this country to seize the initiative and make Britain great again. (V for Vendetta, S. 10)

In welche Dystopie Moore seine Leser hineinwirft, merken diese bereits auf den ersten Seiten. Die Wetterangaben sind präzise, auf die Minute genau, Stadtteile werden spontan abgesperrt, willkürliche Razzien wegen Terrorverdacht finden statt und Fleisch ist eine Ware, die man nur rationiert erhält. Evey Hammon ist 16 Jahre alt, Waise und arbeitet seit Jahren in einer Fabrik. Der Lohn ist gering, so gering, dass sich Evey in der Nacht des 4. November 1997 entschließt sich zu prostituieren. Dumm nur, dass sie dabei einen Fingerman anspricht, einen geheimen Ermittler des Staatsorgans The Finger. In V for Vendetta funktioniert der Staat – eine erneute Anlehnung an Hobbes – wie der menschliche Körper. Einzelne Abteilungen werden nach ihren nahestehenden Organen benannt: The Head, The Mouth, The Ear. Für Evey bedeutet ihre Konfrontation mit den Fingermen jedoch mehr als Bußstrafe. Es bedeutet Vergewaltigung und Tod. Eine besondere Ironie erhält die Szene, da sie sich vor dem Staatsmotto „Stärke durch Reinheit, Reinhaut durch Glauben“ abspielt. Es ist Vs Auftritt, der Evey das Leben rettet und den Fingermen den Tod bringt.

Was folgt, ist eines von mehren Sprengstoffattentaten. Und die Wandlung von der jungen, naiven Evey, zu einer erwachsener werdenden, sich selbst bestimmenden Frau. Sie steht exemplarisch für alle anderen Menschen in Moores dystopischen England. Für all jene Menschen, die mit Filmen und Musik nichts mehr anfangen können, weil sie ohne sie aufgewachsen sind. An ihr konzipiert Moore seine Vorstellung von Freiheit. Denn selbst wenn sie in einem totalitären Staat lebt, realisiert Evey nicht wirklich, dass ihre Freiheit nicht mehr als ein Trugschluss ist. Um ihr dies zu vergegenwärtigen, lässt V sie seine eigenen Erfahrungen durchleben. Ein streitbarer Punkt innerhalb des Comics, welcher nur für Vs Kompromisslosigkeit steht. Denn auch Eveys Befreiung hat weniger einen sozialen Aspekt, als eine tiefere Bedeutung, die sich ihr erst zum Ende hin entschlüsseln wird. Ob man Vs Anarchie gutheißen mag, bleibt dabei jedem Leser selbst überlassen. Eine eindeutige Einteilung in Schwarz oder Weiß ist hier scheinbar nicht möglich, bewegt sich der maskierte Rächer unentwegt in einer Grauzone. Der Zweck ist über alle Zweifel erhaben, doch ob man die Mittel billigt bleibt eine andere Frage. „I am the devil, and I come to do the devil’s work“ zitiert V fälschlicherweise Charles Manson, als er einen pädophilen Priester ins Jenseits befördert (V for Vendetta, S. 60).

Nun oblag es den Wachowskis und ihrem Regisseur James McTeigue, im Jahr 2005 Moores Kultcomic filmisch umzusetzen. Angesichts der zuvor in London verübten U-Bahn-Anschläge wurde der Film hinsichtlich seiner Thematik kritisch diskutiert. In seiner das Comic verfälschenden Botschaft sicherlich zu Recht. Wie so oft und speziell auch in Hinblick auf Zack Snyders Adaption von Watchmen, wird eine Geschichte präsentiert, die von dem Kern der Vorlage vollkommen abstrahiert und stattdessen den zeitgenössischen Sehgewohnheiten angepasst wurde. So wird aus dem anarchischen V – für amerikanische Zuschauer eine schwerlich sympathische Figur – ein schwadronierender Romantiker und aus der infantilen Evey (Natalie Portman) ein Kind von politischen Aktivisten. Da passt es auch sehr gut, wenn sie V (Hugo Weaving), nachdem er ihr das Leben gerettet hat, als verrückt und durchgeknallt bezeichnet (und somit lediglich die Reaktion des Kinopublikums widerspiegeln soll). Um das Tempo aufrecht zu erhalten, werden dann bevorzugt Themen aus dem zweiten und dritten Buch bereits in die Exposition des Filmes miteinbezogen.

England prevails. (V for Vendetta, u.a. S. 190)

Schließlich ist Zeit Geld und Action verkauft sich besser als sozial-politische Dialoge. Da passt es nur allzu gut, dass V for Vendetta zwar versucht, gelegentlich an die politische Brisanz des Comics anzuknüpfen, aber immer dann ausblendet, wenn es darum ginge die Situation näher zu beleuchten. „There’s something terribly wrong with this country, isn’t there?“, fragt V bezeichnenderweise im Film, nur ist es eine rhetorische Frage. Etwas ist falsch, aber was genau, das erklärt der Film nicht. Ein anderes Mal heißt es, der amerikanische Krieg sei nach London gekommen. Welcher Krieg, wird nicht klar, denn aus dem Fernsehen erkennt man nur, dass in den USA der zweite Bürgerkrieg herrscht. Von alltäglichen Razzien und einer unterdrückten Stimmung wird auch nicht sehr viel deutlich. Wieso aus England nun ein totalitärer Staat wurde, bleibt unklar. Dass sich der Film versucht in überzogene Hitlereske Gestiken zu retten, um dem Zuschauer den faschistischen Staat einzuprügeln, spricht nur dafür, dass er nicht verstanden hat, worauf Moore eigentlich hinaus wollte. Scheinbar trauten die Wachowskis dem Publikum nicht zu einen faschistischen Staat als solchen zu entlarven, wenn nicht ein Mann auf dem Podest wild um sich spuckend gestikuliert (der große Diktator lässt grüßen).

Auch in seiner anarchischen Botschaft tritt V for Vendetta in ein derbes Fettnäpfchen. Vs Argumentationen beginnen irgendwann von (s)einer persönlicher Vendetta in eine große Befreiungsbewegung umzuschlagen. Dabei fallen dann schon mal Sätze, die im Schatten des 11. September derbe deplatziert wirken. „The building is a symbol, as is the act of destroying it. Blowing up a building can change the world”, erläutert er Evey beim Frühstück und spielt damit mehr als unbewusst Terrororganisationen wie Al Kaida genüsslich in die Karten. Das wird dann nur noch getoppt, wenn V Haltungen propagiert wie „Violence can be used for good“. Damit rückt man V von einer ähnlichen sozialen Haltung wie man sie von Rorschach kennt viel eher zu einem Comedian. Sehr bedenkliche Äußerungen, die im falschen filmischen Kontext doppelt zu hinterfragen wären. Die große Gegenüberstellung von Faschismus und Anarchie gelingt daher dem Film nur selten und wenn dann eher um seine durchschnittliche Filmhandlung durchzupeitschen. Ob ein Terrorist gleich ein Terrorist ist, sich alle in einen Topf werfen lassen und wann es gilt ein Gebäude in die Luft zu sprengen, wenn man denn schon eines in die Luft sprengt, beantwortet der Film nicht.

Sehr amüsant sind auch einige Fehler in der Handlung. Zum Beispiel wenn im totalitären England, das von einer neofaschistischen Partei geleitet wird, alle Fernseher vom japanischen Hersteller JVC stammen. Dass es mit Technik in V for Vendetta nicht weit her ist, zeigt auch Vs Mord an Lewis Prothero (Roger Allam). Nachdem Evey von V entführt wurde (auch eine schöne Abänderung) und Ermittler Eric Finch (Stephen Rea) sie als Komplizin sieht, macht man sich dennoch nicht die Mühe, ihren Zugang zum Fernsehsender (zu dem V soeben erst unberechtigten Zugang hatte) zu stornieren. Wieso Evey überhaupt mit ihrem Ausweis Zugang zu Protheros Penthouse hat, bleibt ebenso im Unklaren. Zeit ist Geld, die Handlung muss vorangetrieben werden und da darf die Logik schon mal auf der Strecke bleiben. Große Polizeiarbeit auch, wenn Finch bereits nach dem Mord an Prothero die Verbindung von V mit Larkhill feststellt, sich aber nicht die Mühe macht, andere ehemalige Mitarbeiter wie Lilliman oder Surridge zu warnen. Wieso die Pathologin in einem totalitären Staat, nach einer vom Staat organisierten Versuchsreihe, ihren Namen ändert, bleibt auch im Dunkeln.

Ave atque vale. (V for Vendetta, S. 245)

Und um die Spannung fortwährend aufrecht zu halten, sind Änderungen nunmal unabdingbar. So wird Gordon Deitrich (Stephen Fry) vom Schmalspurganoven zum homosexuellen Talk Show Host, der kurzzeitig als Pseudo-V inszeniert wird, um dann letztlich als die dümmste Figur im ganzen Film dazustehen. Allein seine Naivität zu glauben, dass seine mediale Verballhornung (und Exekution!) des Staatspräsidenten (John Hurt) keine größeren Konsequenzen hätte, als eine Geldstrafe und Sozialdienst, ist so unglaublich, dass man die Szene fast zweimal sehen müsste. Dennoch kommt man auch hier nicht um die Frage herum, wer seine Sendung überhaupt abgesegnet hat. Wie Vs Infiltrierung der Sendezentrale aufgezeigt hat, sind Staatskörper in dieser als Produktionsleiter vorhanden. Unvorstellbar, dass von den gut zwanzig Personen, die mit der Produktion der Sendung konfrontiert waren, niemand entweder selbst das Ganze gestoppt hat oder zumindest jemanden informiert hat. Hier verkommt der totalitäre Staat der Wachowskis zum totalen Witz und läuft sich selbst zuwider.

Mit dem Subplot des Massenvirus, vom Staat gezüchtet und ausgesetzt, tut sich der Film auch alles andere als einen Gefallen. Die Botschaft von Moores Geschichte wird einem unterhaltsamen Action-Film geopfert, in dem – wir leben in der Post-Matrix-Äre – auch ein Finale in Bullet Time nicht fehlen darf. All das, was V for Vendetta eigentlich verkörpert, ist in McTeigues Film nur noch rudimentär vorhanden. Viele Panels sind eins zu eins abgefilmt, treffen auch sowohl Stimmung wie Inhalt. Mit ein bisschen mehr Eiern in der Hose hätte das auch gewiss was werden können. Dafür hätte man nur da etwas mehr und dort etwas weniger erzählen müssen. Die Einbindung von Guy Fawkes zu Beginn ist ob ihrer Geschichtsverfälschenden Darstellung auch unnötig, da die Analogien zu V (seine Flucht aus Larkhill) im Film nicht aufgegriffen werden. Gerade die gegenüberstellende Exposition des Filmes zwischen Evey und V kann exemplarisch dafür herangezogen werden, dass V for Vendetta durchaus tatsächlich Moores Werk gerecht wird. Nicht nur auf optischer Ebene wie Watchmen, sondern auch inhaltich.

Bei der Besetzung ist das Ergebnis zwiespältig. John Hurt als Staatsführer beschränkt sich auf ein und denselben Gesichtsausdruck in seiner eigenen kleinen 1984-Referenz. Hugo Weaving als V mag mit seiner Stimme durchaus überzeugen und auch Stephen Rea gibt mit Finch eine sehr gute und humane Darstellung, selbst wenn der Charakter der Figur verändert wurde. Natalie Portman hadert dagegen ein ums andere Mal mit dem britischen Akzent, der sie nie wirklich authentisch anhören möchte. Da auch Keira Knightley für die Rolle vorgesprochen hat, wäre ihre Besetzung, so sehr ich Natalie vergöttere, an dieser Stelle wohl – nicht nur aufgrund des Akzentes – vorzuziehen gewesen. Generell lässt sich also sagen, dass man dem Film durchaus anmerkt, dass seine Macher Respekt vor der Vorlage gehabt haben. Etwas das beispielsweise einem Watchmen gänzlich abging. Die Anpassungen der Geschichte, sich der zeitgenössischen Gesellschaft anbiedern zu wollen, gelingen jedoch nicht und lassen V for Vendetta trotz seiner ungewöhnlichen Thematik im Einheitsbrei der Comicverfilmungen verschwinden. Schade um die politisch-geschichtlich-philosophische Thematik, die viel zu oft Spannungsschrauben und Actionszenen weichen muss. Was bleibt ist eine solide Verfilmung eines nachdenklich stimmenden Comics.

6/10

18. März 2009

RocknRolla

Whisky is the new vodka.

“There is no spring without a winter”, erklärt uns Archy (Mark Strong) am Ende von RocknRolla und reflektiert damit nicht nur die zuvor gesehene Geschichte, sondern an sich auch die Karriere von Regisseur Guy Ritchie. Mit seinen beiden Erstlingswerken Lock, Stock & Two Smoking Barrels sowie Snatch gelang es diesem innerhalb von zwei Jahren zum angesagtesten Regisseur Großbritanniens zu avancieren. Dann kam die Ehe mit Madonna und der Karriereknick. Sein drittes Filmprojekt Swept Away, mit der Gattin in der Hauptrolle, war zum Scheitern verurteilt und stellte einen herben Wintereinbruch in Ritchies Sommermärchen dar. Revolver war ein erster zaghafter Schritt zurück ins Licht, und in RocknRolla fokussiert sich der Engländer auf das, was er am besten kann: Einen humoristischen Blick in die Unterwelt Londons zu werfen.

Hier verwebt Ritchie drei Geschichten miteinander: Da wäre zum einen Lenny (Tom Wilkinson), ein geldgieriger Kredithai, der London kontrolliert, weil Lenny jeden in London kontrolliert. Immer loyal an seiner Seite: Archy. Dieser ist für seine berüchtigten Ohrfeigen bekannt, seine bevorzugte Foltermethode. “Keep your receipts, cos this ain’t the Mafia”, gibt er seinen Jungs mit auf den Weg, als diese sich auf die Suche nach einem Bild machen. Nicht irgendein Bild, sondern das Glücksbild von Uri Omovich (Karel Roden) – einem russischen Oligarchen, der nicht von ungefähr an Roman Abramovich erinnert. Uri und Lenny machen einen Deal und der Russe hat Lenny als Zeichen des guten Willens jenen Bild überlassen. Doch als sich der Deal und die Rückgabe des Bildes in die Länge ziehen, wird die Beziehung beiden Männer zum Pulverfass.

Dass mit Lenny nicht zu Spaßen ist, weiß auch dessen Stiefsohn und Rockstar Johnny Quid (Tobey Kebbell), wurde er doch als Kind ins Internat abgeschoben. Um seine Ruhe zu haben und zugleich seine Plattenverkäufe anzukurbeln, hat Johnny mal wieder sein eigenes Ableben inszeniert und vertreibt sich in einem verfrackten Loft die Zeit, indem er jenes Bild bestaunt, dass Uri Lenny geliehen und Johnny Lenny gestohlen hat. Die letzten im Bunde sind The Wild Bunch. Eine Gruppe von Kleinkriminellen, die bei einem Immobiliendeal von Lenny „gefickt“ wurden. Nun haben One Two (Gerard Butler), Mumbles (Idris Elba) und Handsome Bob (Tom Hardy) nicht nur das Grundstück verloren, sondern auch noch Schulden bei Lenny. Daher willigt One Two ein, für Uris Buchhalterin Stella (Thandiwe Newton) unwissentlich einen von Lennys Geldtransporten zu überfallen.

Wo Ritchies ersten beiden Kinofilme den Mut besaßen, ihre simple und primitive Geschichte durch ihre Charaktere, Tempo und Wortwitz auszeichnen zu lassen, fehlen diese Aspekte in RocknRolla bisweilen. So wirken durch die sommerliche Platzierung die Bilder meist zu freundlich und aufgehellt, infolgedessen dann die ganze Atmosphäre weniger bedrohlich. Hinzu kommt, dass Ritchie seinen Heist-Film zu elegant daherkommen lässt. RocknRolla biedert sich zu sehr wie eine Mainstream-Version eines Films von Guy Ritchie an, weshalb es mitunter so wirkt, als würden sich Snatch und Match Point auf halber Strecke treffen. Alles verläuft zu reibungslos, ist zu einfach und wirkt dadurch weniger gefährlich. Nichts, womit The Wild Bunch nicht klar käme, keine Tendenzen, welche die ewigen Drahtzieher verraten würden.

Das größte Problem von RocknRolla jedoch ist die Tatsache, dass er zu selten Tempo aufnimmt. Zwar steht der Film sichtbar in der Tradition von Lock, Stock & Two Smoking Barrels und Snatch – nur vermisst er ihre Stärken. Es verwundert also nicht, dass gerade jene Szene den Höhepunkt des Filmes darstellt, die am meisten von Ritchies Eigenschaften zu transferieren weiß. Als One Two, Mumble und Handsome Bob ihren zweiten Geldtransporterüberfall durchziehen, beschenkt Ritchie sein Publikum mit einer brillanten sechsminütigen Heist-Szene, die alles besitzt, was Ritchie auszeichnet. Liebenswerte, schräge Figuren. Treffende Einzeiler. Tempo, Witz, Charme. Insbesondere Gerard Butler läuft hier zur Hochform auf. Es ist also weniger ein verhunztes Rezept, dass einem etwas sauer aufstößt. Das Fleisch schmeckt nicht schlecht, nur ist es ein wenig zu lang gebraten.

Nichtsdestotrotz ist RocknRolla ein gelungener Film, mit sympathischen Figuren in einem tollem Ensemble.  Zudem genoss es Ritchie sichtlich, etwaige Filmreferenzen zu Jaws, Pulp Fiction, Terminator 2, The Italian Job und Hitchcock (das ominöse Bild fungiert als bloßer MacGuffin) in seine Geschichte einzubauen. Deren Herzstück ist wie so oft ihr Soundtrack. Egal ob „Bankrobber“ von The Clash, „I’m a Man“ von Black Strobe oder Wanda Jacksons „Funnel of Love” – im Grunde ist der gesamte Soundtrack außergewöhnlich und ein einziger 54-minütiger Ohrwurm. Wenn man also mit den richtigen Erwartungen in Guy Ritchies letztes Werk geht und keinen neuen Snatch erwartet, wird man Unterhaltung finden die zwar nicht meisterlich, aber überdurchschnittlich ist. Eine Schwalbe macht zwar noch keinen Sommer, aber Guy Ritchies Frühling hat sichtbar eingesetzt.

7/10

15. März 2009

Slumdog Millionaire

Your destiny is in your hands.

Die Schnitte sind hart. Die Farben sind bunt. Die Szenerie lebendig. Aus den Boxen dröhnt indische Musik. Poppige Musik. Jamal (Ayush Mahesh Khedeker) rennt gemeinsam mit seinem großen Bruden Salim (Azharuddin Mohammed Ismail) durch die Slums von Mumbai. Die Stilmittel des Regisseurs Danny Boyle sind hier so offensichtlich, wie vielleicht in keiner der anderen Szenen. Allgegenwärtig sind die Merkmale des Engländers dennoch durch Slumdog Millionaire hindurch. In seinem neuesten Film, der Romanadaption von Vikas Swarups Q & A, verschlägt es Boyle nach Indien, auf seine eigene kleine Welttournee der audio-visuellen Meisterwerke. Was einst mit Shallow Grave seinen Anfang nahm, ihn mit Filmen wie The Beach in die USA trieb und schließlich mit 28 Days Later zurück auf eine andere Insel, bevor es in Sunshine hinaus hing in die Unweiten des Alls, findet mit der ehemaligen britischen Kolonie Indien vorerst sein Ende.

Der britische Drehbuchautor Simon Beaufoy adaptierte Swarups zwölf Kurzgeschichten zu einem zusammenhängenden Märchen über Liebe und Schicksal. Den Rahmen für Slumdog Millionaire bildet hierbei das Quizshow-Format Who Wants to be a Millionaire?, welches nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ein Quotenhit ist. Mit jener Show leitet Boyle seinen Film, der offiziell eine Komödie ist, auch ein. Gelungen stellt er seinen Protagonisten Jamal (Dev Patel) in einer Parallelmontage vor. Während er sich dem Jubel der Quizshow hingibt, wird er gelegentlich an einen Stuhl gefesselt von einem Mann geohrfeigt und gefoltert. Woher er die Antworten auf die Fragen gewusst habe, will der Mann (Saurabh Shukla) wissen, der sich wenig später als Polizeisergeant entpuppt. Sein vorgesetzter Inspektor (Irrfan Khan) übernimmt das Verhör und lässt parallel dazu eine Videoaufnahme von Jamals Siegeszug ablaufen. Frage für Frage erläutert Jamal schließlich, woher er die Antwort wusste: „It was written“.

Die Geschichte von Slumdog Millionaire gliedert sich in drei Teile. Im Zentrum stehen dabei stets die beiden Brüder Jamal und Salim, sowie die Waise Latika. Als eines Tages hinduistische Fanatiker Jamals und Salims Slum stürmen und unter anderem ihre Mutter töten, sind die beiden Brüder auf sich allein gestellt. Jamal freundet sich mit dem Mädchen und der Waise Latika (Rubina Ali) an und fortan haust die Gruppe auf einer Müllkippe. Dort werden sie schließlich vom Kinderhändler Maman (Ankur Vikal) aufgelesen, der ziemlich schnell das soziopathische Potential in Salim entdeckt. Als sich die Situation zuspitzt, können die Brüder fliehen, doch Latika bleibt zurück. Während sich Jamal (Tanay Hemant Chheda) und Salim (Ashutosh Lobo Gajwala) als Kleinkriminelle durchschlagen, lässt Latika (Tanvi Ganesh Lonkar) Jamal einfach nicht los. Die Beziehung zwischen Jamal (Patel) und Latika (Freida Pinto) stellt die Quintessenz des Filmes dar, der verschiedene Genres in sich vereint.

Beaufoy platziert verschiedene komische Elemente zur humoristischen Auflockerung in seine Geschichte, die speziell zu Beginn sehr tragisch daherkommt. Hetzjagden auf indische Muslime, das Leben im Slum, der Verlust der Mutter und das Schicksal als Straßenbettler für einen Kinderhändlerring. All dies sind eigentlich Aspekte, die Boyles Film sehr ernst erscheinen lassen könnten. Doch dies ist nicht der Fall. Ausgesprochen unterhaltsam, stets rechtzeitig auflockernd, präsentiert der Engländer die Geschichte der Kinder bzw. Jugendlichen Jamal, Salim und Latika, die trotz ihrer Unernsthaftigkeit dennoch keineswegs belanglos ist. Diese authentischen Probleme einer Kultur in einem Schwellenland werden einem sehr wohl bewusst und dieser Aspekt der unterhaltsamen Mitteilung von politisch brisanten Perspektiven ist fraglos einer der größten Vorzüge von Beaufoys Skript.

Neben diesen Ansätzen einer Milieustudie ist Slumdog Millionaire zugleich aber auch Gangsterfilm, quasi eine indische Antwort auf Cidade de Deus, aber auch Liebesfilm und Satire. Speziell die Szenen mit dem fiktiven Who Wants to be a Millionaire?-Moderator Prem Kumar (Anil Kapoor) nutzt Boyle, um einen etwas fragwürdigen Blick hinter die Kulissen einer erfolgreichen Fernsehshow zu werfen. Denn Kumar fragt sich ebenso wie jeder andere in Indien, woher Jamal stets die richtige Antwort auf seine Fragen weiß. An diesem Punkt verlässt Boyles Film dann natürlich die Ebene der Realität, da jener Aspekt der Geschichte vollkommen konstruiert ist. Im Zuge seines Märchens werden Jamal selbstverständlich stets die Fragen gestellt, die er durch seine Lebenserfahrung beantworten kann. Sinnbildlich steht dies jedoch auch für jenes Wissen, dass man nicht aus Schulbüchern erlernt, sondern im harten Leben auf der Straße. Beaufoy verdeutlicht dem westlichen Publikum damit, inwieweit Kinder in Krisenregionen schon in jungen Jahren mehr mitmachen, als manch Erwachsener, der in einem sozial normalen Umfeld groß wurde.

Nichtsdestotrotz ist Slumdog Millionaire abgesehen von seiner kitschigen Konstruiertheit bisweilen stark redundant. Jene Redundanz und die Tatsache, dass einige Handlungselemente nicht immer allzu deutlich sind, trüben das ansonsten sehr ansehnliche Gesamtbild von Boyles Film. Die positiven Seiten überwiegen allerdings. Castingleiterin Loveleen Tandan ist ein Meisterstück gelungen. Speziell die Darsteller der jüngsten Versionen des Trios sind sehr stark besetzt. Das fabelhafte Gesamtbild verdankt sich dann der Kamera, dem Schnitt und speziell der Musik von Allah Rakha Rahman und Maya Arulpragasam. Alles in allem macht die Geschichte des Filmes die meiste Zeit richtig Laune, lässt einen als Zuschauer mitfiebern, obschon das Gezeigte nicht zwingend spannend ist. Die sympathischen Darsteller wissen dabei ihre Rolle stets zu tragen und auch den Entwicklungsprozess der Charaktere glaubwürdig zu transferieren. Danny Boyle untermauert mit diesem Film seine anhaltende Konstanz, die ihn in den elitären Kreis der Regisseure hebt, die bisher ohne wirklichen Flop ausgekommen sind.

7.5/10

12. März 2009

The Fall

Kaboom.

Klassische Musik wird eingespielt. Dazu präsentieren sich in Zeitlupe abgefilmte Szenen in Schwarzweiß. Irgendwie erweckt dies den Eindruck, man betrachte eine Hugo-Boss-Werbung, die Bilder zumindest wirken durch ihre enorme Ästhetik durchaus einer Werbepause entnommen. Sobald die Anfangscredits von The Fall langsam laufen, gibt einem der erfahrene Werbe- und Musikvideo-Regisseur Tarsem Singh einen ersten Vorgeschmack auf das, was das Publikum in den folgenden zwei Stunden noch erwarten wird. Ein Fest für die Sinne, ein audiovisueller Schmaus. Und während man sich in Tarsems Welt und ihrer Bildgewalt verliert, vergisst man bisweilen beinahe, dass die Handlung mitunter leicht schwächelt. Aber nur beinahe.

Im Los Angeles der 1920er Jahre befindet sich die kleine Alexandria (Catinca Untaru) im Krankenhaus. Sie hat sich den Arm gebrochen als sie beim Orangenpflücken gefallen war. Als eines Tages eine persönliche Nachricht an Alexandrias Lieblingsschwester Evelyn (Justine Waddell) verloren geht, macht sie die Bekanntschaft des scheinbar querschnittsgelähmten Roy (Lee Pace). Auch Roy hat seine augenblickliche Lage einem Sturz zu verdanken. Bei den Dreharbeiten zu einem Hollywoodfilm wollte der gelernte Stuntman seine Freundin beeindrucken, doch ging sein Stunt schief. Seine Beine kann Roy nun nicht mehr benutzen und auch seine Freundin hat unterdessen mit dem Hauptdarsteller des Films (Daniel Caltagirone) angebandelt.

Unzufrieden mit seinem Leben will Roy Suizid verüben. Um an Morphium-Tabletten zu gelangen, versucht er sich Alexandria gefügig zu machen. Er beginnt ihr eine phantastische Geschichte von sechs Gleichgesinnten zu erzählen. Der mysteriöse Blaue Bandit (Lee Pace) und fünf andere Geächtete streben nach Rache am verhassten Gouverneur Odious (Daniel Caltagirone). Immer mehr beginnen sich Alexandria und Roy in ihrer Geschichte zu verlieren. Für seinen zweiten Kinofilm nach The Cell hat sich Singh von dem bulgarischen Film Yo Ho Ho von 1981 inspirieren lassen. Darin ist es ein gelähmter Schauspieler, der einem kleinen Jungen eine Piratengeschichte erzählt, um diesen dadurch für seine persönlichen Pläne einzuspinnen.

Das Original findet insofern eine Referenz, als Roy der kleinen Alexandria zuerst ebenfalls eine Piratengeschichte erzählt, ehe die desinteressiert abwinkt. Wenn man sich fragt, was Tarsem seit The Cell gemacht hat, so ist die Antwort auf diese Frage: The Fall. Vier Jahre lang drehte der Inder weltweit in über 20 Ländern – ein Aufwand, der in jeder Sekunde spürbar ist. Endlose Wüstenlandschaften, eine Insel mit Schmetterlingsförmiger Bucht – Tarsem hat sie für seinen neuesten Film gefunden und mit elegischer Schönheit in diesen integriert. Man mag sich zwar durchaus fragen, wieso der Regisseur einen schwimmenden Elefanten mitten im Pazifik in seine Handlung einbaut, grandios anzusehen ist der Dickhäuter aber allemal.

Am beeindruckendsten ist zudem fraglos die Tatsache, dass Tarsem den Film ohne jegliche computergenerierte Spezialeffekte gedreht hat. Besonders bei der Schmetterlingsbucht oder dem Treppenkomplex erstaunt dies. Leider vermag die Geschichte mit den Bildern nicht immer mitzuhalten. So liebevoll die Beziehung zwischen Roy und Alexandria auch aufgebaut ist, so sehr die Hommage an The Wizard of Oz zu gefallen weiß, zu gezwungen wirken ihre Szenen speziell zum Schluss. Dies kulminiert dann in einem etwas enttäuschenden Finale, in dem die Geschichte innerhalb der Geschichte – selbst wenn sie nie wirklich stringent war – sträflich vernachlässigt wird und das Ende des eigentlichen Films somit zusätzlich aufgesetzt wirkt.

Hier zelebriert Tarsem Style over Substance, womit sich der Kreis zu The Cell schließt. Mit seinem Horrorfilm von 2000 konnte der Inder ebenfalls visuell überzeugen, jedoch auf Kosten der Handlung. Auch in The Fall schenkt Tarsem seinen Figuren wenig Motivation für das, was sie tun. Wenn Alexandria die Anweisungen des Arztes für ihre Mutter nicht wahrheitsgemäß übersetzt, so denkt man sich, dass sie lediglich die Existenz ihrer Familie schützen möchte. Ein wenig mehr Ausbau der Charaktere sowie Handlung hätte nicht geschadet. Aber wie erwähnt, beginnt man meist seine Gedanken zur Geschichte zurückzustellen, wenn Singh die Szenerie wechselt und das Publikum in eine neue, atemberaubend photographierte Kulisse entführt.

8/10