Im Englischen gibt es das Sprichwort “sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me”. Aber zumindest in vielen US-amerikanischen Großstädten scheint dies nicht der Fall zu sein. “Words could get you killed“, weiß Ameena Matthews. Sie ist seit mehr als drei Jahren ein sogenannter “violence interrupter” für die Organisation CeaseFire in Chicago. Ziel ist es, als Mediator Konflikte unter Gangs zu entschärfen. “They’re not trying to dismantle gangs“, erläutert CeaseFire-Leiter Tio Hardiman. “What they’re trying to do is save a life.” Und von solchen Leben gibt es viele, insbesondere auch in Chicago, wo allein im Jahr 2007 täglich im Schnitt fünf Personen angeschossen worden sind.
Obschon die drittgrößte Stadt der USA, gehört Chicago nicht zu den US-Metropolen mit einer extrem hohen Mord- oder Kriminalitätsrate. Dennoch rückte The Windy City gerade 2009 in den nationalen Fokus, als der Schüler Derrion Albert am 24. September auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde. Es war jenes Jahr, in dem der Dokumentarfilmer Steve James zum ersten Mal seit Hoop Dreams wieder für eine Produktion in Chicago war. In The Interrupters folgt er der Arbeit dreier Mediatoren, darunter Ameena Matthews, die auch zur Tröstung von Derrion Alberts Mutter eilt. Nicht die einzige Trauerzeremonie in James’ Film, der aber neben Gewalt und Tod auch Hoffnung und Vergebung in sich birgt.
Neben Ameena Matthews arbeiten seit einigen Jahren auch Cobe Williams und Eddie Bocanegra für CeaseFire in Chicago. Sie eint nicht nur ihre Arbeit als violence interrupters, sondern auch ihre Vergangenheit als Kriminelle. Das Bestreben, ehemalige in der Szene verankerte Mitglieder für ihre Arbeit zu gewinnen, ist die andere Seite der Medaille von CeaseFire. “From gangster to peacemaker“, umschrieb es der Journalist Alex Kotlowitz in einem Artikel über die Organisation für die New York Times. Jener Artikel wiederum gab für James den Ausgangspunkt, The Interrupters zu inszenieren. Die kriminelle Vergangenheit der Mediatoren ist das beste Beispiel für zweite Chancen und einen Ausweg.
Zugleich verschafft ihr Strafregister den Mediatoren auch den Respekt ihres Gegenübers. So ist Ameena die Tochter von Jeff Fort, “one of the biggest gang leaders in the history of Chicago“, der seit 1987 eine Haftstrafe von 155 Jahren verbüßt. Eddie wiederum ist seit zwei Jahren aus dem Gefängnis, nachdem er 14 Jahre wegen Mordes einsaß. Schwer vorstellbar, dass die Mediatoren Zugang zu Gangmitgliedern erhalten würden, wären sie nicht einer von ihnen. “Cobe has big time credibility with the gang members“, weiß Hardiman. Auch Cobe saß im Gefängnis, insgesamt 12 Jahre für Drogenhandel und versuchten Mord. Mit ausgelöst hat dies sein krimineller Vater. “He was my role model“, sagt Cobe.
Eine Mitschuld in der Erziehung lässt sich auch ausmachen, als Cobe sich mit Kenneth, einem anderen Gangmitglied, trifft. “My life would be totally different if my father was here“, resümiert er hinsichtlich des inhaftierten Erzeugers. Kenneth wurde wie viele sich selbst überlassen, sodass sein Bruder und er den Lebensstil des Vaters adoptierten. “I know I could get shot tomorrow“, sagt er wie selbstverständlich. “These children don’t expect to live past 30“, verrät uns auch der Besitzer eines Beerdigungsinstituts. Noch immer ist Mord die häufigste Todesursache unter jungen afroamerikanischen Männern und wenn man sich einige Vorfälle in The Interrupters ansieht, wundert man sich nicht darüber.
So gibt es zu Beginn der Dokumentation ein Handgemenge, weil ein Mann Ärger mit jemandem hatte, der ihm daraufhin die Zähne ausschlug. Nun tauchen seine Schwestern mit Küchenmessern bewaffnet auf, um die Familienehre zu verteidigen. “It’s a war zone“, sagt einer in die Kamera, von jemand anderes heißt es, die Polizei traue sich schon gar nicht mehr nach Englewood, einem der berüchtigsten Viertel in Chicago. Und während die Polizei bei einer Trauerbekundung eines getöteten Jugendlichen Präsenz zeigt, wird sie auch schon wieder weggerufen, weil anderswo ein weiterer Mord verübt wurde. Die Opfer sind oftmals Kinder, allein 37 von ihnen starben zwischen 2008 und 2009 in den Straßen von Chicago.
Um die Kinder dreht es sich auch bei den anderen beiden Mediatoren. Eddie, der während seiner Haft das Malen begonnen hat, unterrichtet einige Latino-Kids darin, ihre Gefühle in Bildern zum Ausdruck zu bringen. Einige von ihnen wurden bereits Zeuge eines Todesfalls, in einem Fall sogar dem des eigenen Bruders. Auf den Zuschauer wirkt Eddie nicht wie jemand, der einen anderen Jungen eiskalt hingerichtet hat. Nicht einmal dann, als er mit dem Kamerateam an den Tatort zurückkehrt und die Geschehnisse erneut Revue passieren lässt. Auch Cobe wirkt so, als könne er niemandem ein Wässerchen trüben. Sie alle sind die besten Beispiele dafür, dass jeder eine zweite Chance verdient hat und diese nutzen kann.
Während Cobe und Eddie nach vielen Jahren im Gefängnis eine Läuterung erfahren haben, fand Ameena in der Konvertierung zum islamischen Glauben Halt. Sie gibt sich weitaus emotionaler als ihre zwei Kollegen, debattiert dabei oft hitzig, aber nie von oben herab. The Interrupters charakterisiert sie als “the Golden Girl“, stets auf der Suche nach dem “soft spot“ ihres Gegenübers. Wenn Ameena spricht, hört man ihr zu. Und das gilt nicht nur für den Zuschauer. Nicht selten sieht man sie umringt von Gangbangern, die zwar emotionslos dreinblicken, aber jedes ihrer Worte aufsaugen wie ein Schwamm. “You gotta drown yourself with the people“, erklärt Tio Hardiman das Schema seiner violence interrupters.
Mit über 500 Jahren Haftzeit, so einer der Mediatoren, verfüge CeaseFire über genügend Erfahrung und Respekt, um den Menschen zu helfen. Der Gründer von CeaseFire ist dabei jedoch alles andere als ein Krimineller. Ins Leben gerufen wurde die Organisation 1995 von dem Epidemiologe Gary Slutkin, als er nach zehn Jahren in Afrika zu der Erkenntnis kam, auch Gewalt sei eine infektiöse Krankheit. Als solche ließe sie sich auch behandeln, indem man sie am Punkt ihres Ausbruchs zu heilen versucht. “Slutkin wants to shift how we think about violence from a moral issue (good and bad people) to a public health one (healthful and unhealthful behaviour)”, schrieb Kotlowitz in seinem Feature in der New York Times.
Dementsprechend ist auch die junge Caprysha kein schlechter Mensch, bloß einer, mit einem ungesunden Verhalten. Vormerklich für sich selbst, weshalb Ameena viel unternimmt, um das Mädchen vor sich selbst zu retten. Hierbei fungiert sie halb als Freundin, halb als Mutter, wenn sie scherzend mit der Jugendlichen spricht, sie aber auch ermahnt oder belehrt. Es ist bewundernswert, wie viel Zeit sie für ihre Arbeit opfert, wo sie doch auch eine eigene Familie – die Tochter wird im Laufe des Films 9 Jahre alt – zu versorgen hat. Zwischen dem Verteilen von Flyern in der South Side, Gesprächen mit Caprysha, Teilnahmen an Trauerbekundungen und Beerdigungen, bleibt da überhaupt noch Zeit für einen selbst?
Scheinbar zu jeder Zeit ist auch Cobe unterwegs, wenn er abends mit Flamo einen alten Bekannten aus dem Gefängnis aufsucht. Seine Mutter und Bruder wurden aufgrund eines anonymen Waffen-Tipps in seinem Haus von der Polizei verhaftet, weswegen Cobe mit einem Kollegen versucht, Flamo soweit zu beruhigen, dass dieser nicht loszieht und die Verursacher erschießt. Ein anderes Mal begleitet er den jugendlichen Lil’ Mikey dabei, wie er nach drei Jahren Haft jene Opfer aufsucht, die er einst beraubte, um sich bei ihnen zu entschuldigen. Das Ergebnis ist eine hochemotionale Szene, die sinnbildlich für die gesamte Dokumentation steht. Für Wiedergutmachung, so lehrt uns der Film, ist es nie zu spät.
Der Untertitel von The Interrupters lautet: “Every City Needs Its Heroes”. Und was plakativ klingt, könnte in diesem Fall wahrer nicht sein. Die Mediatoren von CeaseFire sind beherzt bei der Sache und das oft auf eigene Kosten. Gegen Ende besucht Hardiman einen von ihnen, der bei einer violence interruption angeschossen wurde, im Krankenhaus. “You cannot mediate conflicts without confrontation“, erklärt Hardiman, kann aber die Tränen nicht zurückhalten. Es ist dieser Wandel den Cobe, Ameena und Eddie durchgemacht haben, den man auch den Capryshas, Kenneths und Lil’ Mikeys wünscht. Und wenn uns Steve James’ Film eines zeigt, dann, dass Worte einen nicht nur töten, sondern auch retten können.
Obschon die drittgrößte Stadt der USA, gehört Chicago nicht zu den US-Metropolen mit einer extrem hohen Mord- oder Kriminalitätsrate. Dennoch rückte The Windy City gerade 2009 in den nationalen Fokus, als der Schüler Derrion Albert am 24. September auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde. Es war jenes Jahr, in dem der Dokumentarfilmer Steve James zum ersten Mal seit Hoop Dreams wieder für eine Produktion in Chicago war. In The Interrupters folgt er der Arbeit dreier Mediatoren, darunter Ameena Matthews, die auch zur Tröstung von Derrion Alberts Mutter eilt. Nicht die einzige Trauerzeremonie in James’ Film, der aber neben Gewalt und Tod auch Hoffnung und Vergebung in sich birgt.
Neben Ameena Matthews arbeiten seit einigen Jahren auch Cobe Williams und Eddie Bocanegra für CeaseFire in Chicago. Sie eint nicht nur ihre Arbeit als violence interrupters, sondern auch ihre Vergangenheit als Kriminelle. Das Bestreben, ehemalige in der Szene verankerte Mitglieder für ihre Arbeit zu gewinnen, ist die andere Seite der Medaille von CeaseFire. “From gangster to peacemaker“, umschrieb es der Journalist Alex Kotlowitz in einem Artikel über die Organisation für die New York Times. Jener Artikel wiederum gab für James den Ausgangspunkt, The Interrupters zu inszenieren. Die kriminelle Vergangenheit der Mediatoren ist das beste Beispiel für zweite Chancen und einen Ausweg.
Zugleich verschafft ihr Strafregister den Mediatoren auch den Respekt ihres Gegenübers. So ist Ameena die Tochter von Jeff Fort, “one of the biggest gang leaders in the history of Chicago“, der seit 1987 eine Haftstrafe von 155 Jahren verbüßt. Eddie wiederum ist seit zwei Jahren aus dem Gefängnis, nachdem er 14 Jahre wegen Mordes einsaß. Schwer vorstellbar, dass die Mediatoren Zugang zu Gangmitgliedern erhalten würden, wären sie nicht einer von ihnen. “Cobe has big time credibility with the gang members“, weiß Hardiman. Auch Cobe saß im Gefängnis, insgesamt 12 Jahre für Drogenhandel und versuchten Mord. Mit ausgelöst hat dies sein krimineller Vater. “He was my role model“, sagt Cobe.
Eine Mitschuld in der Erziehung lässt sich auch ausmachen, als Cobe sich mit Kenneth, einem anderen Gangmitglied, trifft. “My life would be totally different if my father was here“, resümiert er hinsichtlich des inhaftierten Erzeugers. Kenneth wurde wie viele sich selbst überlassen, sodass sein Bruder und er den Lebensstil des Vaters adoptierten. “I know I could get shot tomorrow“, sagt er wie selbstverständlich. “These children don’t expect to live past 30“, verrät uns auch der Besitzer eines Beerdigungsinstituts. Noch immer ist Mord die häufigste Todesursache unter jungen afroamerikanischen Männern und wenn man sich einige Vorfälle in The Interrupters ansieht, wundert man sich nicht darüber.
So gibt es zu Beginn der Dokumentation ein Handgemenge, weil ein Mann Ärger mit jemandem hatte, der ihm daraufhin die Zähne ausschlug. Nun tauchen seine Schwestern mit Küchenmessern bewaffnet auf, um die Familienehre zu verteidigen. “It’s a war zone“, sagt einer in die Kamera, von jemand anderes heißt es, die Polizei traue sich schon gar nicht mehr nach Englewood, einem der berüchtigsten Viertel in Chicago. Und während die Polizei bei einer Trauerbekundung eines getöteten Jugendlichen Präsenz zeigt, wird sie auch schon wieder weggerufen, weil anderswo ein weiterer Mord verübt wurde. Die Opfer sind oftmals Kinder, allein 37 von ihnen starben zwischen 2008 und 2009 in den Straßen von Chicago.
Um die Kinder dreht es sich auch bei den anderen beiden Mediatoren. Eddie, der während seiner Haft das Malen begonnen hat, unterrichtet einige Latino-Kids darin, ihre Gefühle in Bildern zum Ausdruck zu bringen. Einige von ihnen wurden bereits Zeuge eines Todesfalls, in einem Fall sogar dem des eigenen Bruders. Auf den Zuschauer wirkt Eddie nicht wie jemand, der einen anderen Jungen eiskalt hingerichtet hat. Nicht einmal dann, als er mit dem Kamerateam an den Tatort zurückkehrt und die Geschehnisse erneut Revue passieren lässt. Auch Cobe wirkt so, als könne er niemandem ein Wässerchen trüben. Sie alle sind die besten Beispiele dafür, dass jeder eine zweite Chance verdient hat und diese nutzen kann.
Während Cobe und Eddie nach vielen Jahren im Gefängnis eine Läuterung erfahren haben, fand Ameena in der Konvertierung zum islamischen Glauben Halt. Sie gibt sich weitaus emotionaler als ihre zwei Kollegen, debattiert dabei oft hitzig, aber nie von oben herab. The Interrupters charakterisiert sie als “the Golden Girl“, stets auf der Suche nach dem “soft spot“ ihres Gegenübers. Wenn Ameena spricht, hört man ihr zu. Und das gilt nicht nur für den Zuschauer. Nicht selten sieht man sie umringt von Gangbangern, die zwar emotionslos dreinblicken, aber jedes ihrer Worte aufsaugen wie ein Schwamm. “You gotta drown yourself with the people“, erklärt Tio Hardiman das Schema seiner violence interrupters.
Mit über 500 Jahren Haftzeit, so einer der Mediatoren, verfüge CeaseFire über genügend Erfahrung und Respekt, um den Menschen zu helfen. Der Gründer von CeaseFire ist dabei jedoch alles andere als ein Krimineller. Ins Leben gerufen wurde die Organisation 1995 von dem Epidemiologe Gary Slutkin, als er nach zehn Jahren in Afrika zu der Erkenntnis kam, auch Gewalt sei eine infektiöse Krankheit. Als solche ließe sie sich auch behandeln, indem man sie am Punkt ihres Ausbruchs zu heilen versucht. “Slutkin wants to shift how we think about violence from a moral issue (good and bad people) to a public health one (healthful and unhealthful behaviour)”, schrieb Kotlowitz in seinem Feature in der New York Times.
Dementsprechend ist auch die junge Caprysha kein schlechter Mensch, bloß einer, mit einem ungesunden Verhalten. Vormerklich für sich selbst, weshalb Ameena viel unternimmt, um das Mädchen vor sich selbst zu retten. Hierbei fungiert sie halb als Freundin, halb als Mutter, wenn sie scherzend mit der Jugendlichen spricht, sie aber auch ermahnt oder belehrt. Es ist bewundernswert, wie viel Zeit sie für ihre Arbeit opfert, wo sie doch auch eine eigene Familie – die Tochter wird im Laufe des Films 9 Jahre alt – zu versorgen hat. Zwischen dem Verteilen von Flyern in der South Side, Gesprächen mit Caprysha, Teilnahmen an Trauerbekundungen und Beerdigungen, bleibt da überhaupt noch Zeit für einen selbst?
Scheinbar zu jeder Zeit ist auch Cobe unterwegs, wenn er abends mit Flamo einen alten Bekannten aus dem Gefängnis aufsucht. Seine Mutter und Bruder wurden aufgrund eines anonymen Waffen-Tipps in seinem Haus von der Polizei verhaftet, weswegen Cobe mit einem Kollegen versucht, Flamo soweit zu beruhigen, dass dieser nicht loszieht und die Verursacher erschießt. Ein anderes Mal begleitet er den jugendlichen Lil’ Mikey dabei, wie er nach drei Jahren Haft jene Opfer aufsucht, die er einst beraubte, um sich bei ihnen zu entschuldigen. Das Ergebnis ist eine hochemotionale Szene, die sinnbildlich für die gesamte Dokumentation steht. Für Wiedergutmachung, so lehrt uns der Film, ist es nie zu spät.
Der Untertitel von The Interrupters lautet: “Every City Needs Its Heroes”. Und was plakativ klingt, könnte in diesem Fall wahrer nicht sein. Die Mediatoren von CeaseFire sind beherzt bei der Sache und das oft auf eigene Kosten. Gegen Ende besucht Hardiman einen von ihnen, der bei einer violence interruption angeschossen wurde, im Krankenhaus. “You cannot mediate conflicts without confrontation“, erklärt Hardiman, kann aber die Tränen nicht zurückhalten. Es ist dieser Wandel den Cobe, Ameena und Eddie durchgemacht haben, den man auch den Capryshas, Kenneths und Lil’ Mikeys wünscht. Und wenn uns Steve James’ Film eines zeigt, dann, dass Worte einen nicht nur töten, sondern auch retten können.
10/10