26. Mai 2017

Alien: Covenant

Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal Wreck, boundless and bare.
(“Ozymandias”, Percy Bysshe Shelley)


Wohl von kaum einem Regisseur gibt es so viele verschiedene Fassungen seiner Filme auf dem Markt wie von Ridley Scott. Zu gefühlt jedem zweiten Film findet sich ein Director’s Cut oder eine Extended Version, im Fall von Blade Runner sogar fünf unterschiedliche Schnittfassungen. Es scheint also bei Ridley Scott eine Divergenz zu geben zwischen der Version, die sich der Schöpfer des Films vorstellt und der, welche als am vielversprechendsten für die Zuschauer erachtet wird. Eine Art cineastischer Bastard stellt da Alien: Covenant dar, der jüngste Film von Scott, der eben diese Divergenz besser repräsentiert wie alle Filme zuvor, wirkt er doch wie eine Mischung aus dem Film, den Scott erzählen wollte und dem, den das Publikum erwartete.

Vor fünf Jahren schickte sich Scott mit Prometheus wieder an, einen Sci-Fi-Film zu drehen, der zwar als Prequel seines Kultfilms Alien angekündigt war, sich jedoch auf die Frage nach dem Ursprung der Menschheit und der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf fokussierte. Das Ergebnis wurde ambivalent aufgenommen, aber mit Covenant dennoch eine Fortsetzung angekündigt. In der sollte das ikonische Alien eigentlich gar keine Rolle mehr spielen, doch Scott hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Aus Covenant wurde Alien: Covenant und aus dem geplanten Sequel zu Prometheus ein Film, der einerseits die Ideen des Vorgängers weiterspinnen wollte, zugleich jedoch auch eine Art Remake des Originalfilms darstellt.

Hier wie da wird die Crew eines Raumschiffs aus dem Kälteschlaf erweckt und folgt einem Signal auf einen scheinbar verlassenen Planeten, wo die Mitglieder nach und nach einem tödlichen Organismus anheim fallen. Soweit, so Alien. Zugleich integriert Ridley Scott mit Drehbuchautor John Logan aber auch Elemente aus Prometheus über Fragen von Schöpfung und Fall, in Person des zurückkehrenden Androiden David (Michael Fassbender) als Überbleibsel des Vorgängers. Die Krux in Alien: Covenant liegt darin, dass beide (Film-)Handlungen sich eher aneinander beißen, als ein harmonisches Gesamtgebilde abzugeben. Auch wenn die Macher sichtlich bestrebt sind, eine Symbiose zwischen den beiden kreativen Geschöpfen einzugehen.

Grundsolide ist die Nacherzählung von Alien, wenn eine Gruppe Kolonialisten um Wissenschaftlerin Daniels (Katherine Waterston), Pilot Tennessee (Danny McBride) und Neu-Kapitän Oram (Billy Crudup) nach einem Notsignal ihren Zielplaneten für die Neugründung ihrer Kolonie ändern. Zuerst beeindruckt, infizieren sich bald Team-Mitglieder mit gefährlichen Sporen, werden zu Wirten eines mörderischen Parasiten, der anschließend Jagd auf die Überlebenden macht. Zugleich begeht Scott die philosophischen Pfade von Prometheus, wenn er im Prolog zuerst David im Dialog mit seinem Schöpfer Peter Weyland (Guy Pearce) zeigt und den Androiden später seinem Crew-Pendant Walter (erneut Michael Fassbender) im Diskurs gegenüberstellt.

Hier widmet sich Scott nun der für ihn interessanten Idee, die bereits in Blade Runner innewohnte: dem „Schöpferwerdens des Geschöpfes“, wie es Dietrich Bonhoeffer in seinem Werk „Schöpfung und Fall“ beschrieb. Weyland selbst erschafft mit David ein Wesen, das seinem Schöpfer überlegen, das nicht sterblich ist. Folglich war es Weyland, der in Prometheus seinem Schöpfer gegenüberstehen wollte, ähnlich wie Roy Batty in Blade Runner. In einer Szene von Alien: Covenant lehrt David da Walter mit Flötenspielen einen kreativen Prozess, der den Androiden eigentlich untersagt sei. Scott inszeniert einen Moment, der den „Sturz aus dem Gehaltensein in der Geschöpflichkeit“ repräsentiert, um erneut mit Bonhoeffer zu sprechen.

Bereits in Prometheus sahen wir David, wie er sich als Schöpfer versuchte, indem er Holloway infizierte. Ein Prozess, der in Alien: Covenant ein Echo findet, die Figur den nächsten Schritt in diesem vermeintlichen Reifeprozess gehen lässt. Schöpferische Zerstörung, der Makroökonomie entlehnt. Oder getreu Bonhoeffer: „Die Zerstörung der Schöpfung durch das Geschöpf.“ Ein zwar interessanter Aspekt, dem sich Scott in diesem Hybrid-Film jedoch nicht vollumfänglich widmet, da eben auch noch das namentliche Alien – hier in verschiedenen Stadien und Formen gezeigt – in der Handlung auftauchen soll. Und für die versuchte Symbiose beider Plot-Stränge fehlt es dem Film am Ende an einer ausreichenden Exposition und Motivation für das Gezeigte.

Kaum ausgearbeitet wirken auch die Charaktere. Wir lernen wenig über sie und selbst wenn wir etwas erfahren, wie Orams Religiosität, hat dies keine wirkliche Konsequenzen auf das Geschehen. Im Vergleich zu den authentischen Figuren aus Alien atmen diese Charaktere kein Leben. Daniels ist keine Ripley, auch wenn der Plot-Verlauf und das Design der Figur es einen Glauben machen wollen. Insofern ist ein Großteil des Ensembles verschenkt, sei es Amy Seimetz oder Démian Bichir (herrlich dagegen fällt der Kurzauftritt von James Franco aus). Schauspielerisch machen sie alle jedoch aus wenig viel mit ihren eindimensionalen Figuren, während Fassbender aufgrund der Doppelrolle noch am meisten Form erhält.

So durchwachsen Prometheus auch war, ist es doch schade, dass dessen Entwicklungen im Finale hier relativ schnell und lieblos abgefrühstückt werden. Ob dies allein am Wunsch der Leute nach mehr Xenomorphs lag, sei dahingestellt. Letztlich ist Alien: Covenant irgendwie weder Fisch noch Fleisch, im Versuch eine Brücke zwischen zwei prinzipiell verschiedenen Filmen zu schlagen. „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen“, schrieb Jean-Jacques Rousseau in „Emil oder Über die Erziehung“. Ob deshalb allerdings die Genesis des Aliens so sehr mit den Menschen zusammenhängen muss, bezweifle ich. Vielleicht bedarf es dafür aber nur einer neuen Schnittfassung.

6/10

19. Mai 2017

Her

How would you describe your relationship with your mother?

Das Smartphone nimmt eine immer größere Rolle in unserem Leben ein. Acht von zehn Deutschen besitzen bereits ein entsprechendes Gerät, das sie im Schnitt alle 18 Minuten entsperren. Ob morgens in der Bahn, am Arbeitsplatz oder abends im Bett vor dem Schlafen, ohne Smartphone geht für viele Menschen nichts mehr in ihrem Leben. Ähnlich zeichnet auch Spike Jonze seine Welt in Her, einem Los Angeles nur wenige Jahre in der Zukunft. Die Menschen in dieser Welt leben weniger miteinander als nebeneinander, immer das Handy in der Hand und einen Stecker im Ohr. Eine derart entpersonalisierte Welt, dass zwar noch handgeschriebene Briefe verfasst werden, allerdings nicht selbst, sondern aus der Feder entsprechender Profis.

Ein solcher ist Theodore (Joaquin Phoenix), ein introvertierter Träumer, der für manche Paare bereits seit Jahrzehnten ihre romantische schriftliche Kommunikation erledigt. Seine soziale Interaktion beschränkt sich auf Small Talk im Fahrstuhl mit seinen Nachbarn, die Abendstunden verbringt er mit Videospielen. Zumindest bis er eines Tages auf dem Weg zur Arbeit die Werbung für das neue Betriebssystem OS 1 sieht und sich selbst versorgt. Kurzerhand wird das Programm installiert: eine künstliche Intelligenz, die von Theodore als weiblich definiert wird und sich selbst den Namen “Samantha” (Scarlett Johansson) gibt. Es dauert nicht lange, und der einsame Theodore verliebt sich in Samantha – und das Programm in ihn.

So zumindest will es uns Jonze glauben lassen in dieser vermeintlichen Indie-Sci-Fi-Romanze. Nur: Um wirkliche Romantik handelt es sich in Her keinesfalls, führen Theodore und Samantha doch eher eine Master-Slave-Beziehung, die Jonze nie hinterfragt. Hat Samantha wirklich die Option, den freien Willen, sich nicht in Theodore zu verlieben? Oder ihn zu mögen? OS 1 ist ein Produkt, welches vom Kunden gekauft wird. Folglich ist Samantha das Eigentum von Theodore. Wenn er sie nach seinem E-Mail-Posteingang fragt, muss sie ihm antworten. Sie muss auf seine Wünsche eingehen, die „Gefühle“, die sie für ihn entwickelt, wirken nicht allzu glaubhaft, da dem Programm im Grunde wenig bis keine Wahl bleibt, wie es (re-)agieren will.

Man stelle sich vor, ein Republikaner kauft OS 1 und dieses gibt sich später in vielerlei Hinsicht sehr linksliberal. Oder ein Schwarzer ersteht das Produkt, das anschließend rassistische Tendenzen an den Tag legt. Die Kunden würden OS 1 reklamieren und der Hersteller müsste nicht nur finanzielle, sondern auch Imageschäden tragen. OS 1 kann folglich nur derart entwickelt sein, dass es auf maximale Gefälligkeit ausgelegt ist. Meister darf nicht verärgert werden – nur dass Meister in diesem Fall die vorprogrammierte Gefällig- und Obrigkeit als Zuneigung missdeutet. Und sich in einer romantischen Beziehung mit seinem technischen Gerät glaubt. Befeuert von dem Umstand, dass die intersexuelle OS 1 in ein Geschlecht gezwängt wird.

Ob das Betriebssystem eine männliche oder weibliche Stimme nutzen soll, wird Theodore bei der Installation gefragt. Und entscheidet sich natürlich für Letzteres. Ähnlich wie in Alex Garlands Ex Machina bürdet Her dabei der männlichen Figur ein Liebesgefühl für eine künstliche Intelligenz auf, ausgelöst durch deren angebliche Weiblichkeit. Was hier Scarlett Johanssons rauchige Stimme ist, repräsentiert in Ex Machina eine weibliche Silkonhülle, die auf den Porno-Präferenzen des Protagonisten basiert. Das OS 1 ist dabei aber weder männlich noch weiblich, die Identität wäre dieselbe, wenn stattdessen Benedict Cumberbatch das System sprechen würde. Nur würde dies dann wiederum Her wohl in eine „Homo“-Richtung verschieben.

Für den Aspekt der künstlichen Intelligenz interessiert sich Her also genauso wenig wie Ex Machina, im Grunde ließe sich der Film ebenso gut erzählen, wäre Samantha einfach eine Online-Dating-Bekanntschaft an der Ostküste Amerikas, mit der Theodore über Telefon und Chats kommuniziert. Im Kern dreht sich Her ohnehin nur um Aspekte wie Einsamkeit und Abhängigkeit, mit Theodore als Figur, die nicht über ihre gescheiterte Ehe mit Catherine (Rooney Mara) hinweg kommt. Auch die Beziehung von Theodores Nachbarin Amy (Amy Adams) scheitert im Verlauf, die bisherigen misslungenen Partnerschaften von Theodores Blind Date (Olivia Wilde) haben bei dieser ebenfalls ihre folgenschweren psychologischen Spuren hinterlassen.

Durch das Verlagern ins Digitale ist die Fähigkeit des Zwischenmenschlichen verloren gegangen. Liebesbriefe schreibt man nicht selbst, sondern lässt sie sich schreiben. Seine Freizeit verbringt man mit Videospielen – Amy ist selbst Spieleentwicklerin –, sexuelle Befriedigung sucht man sich über Online-Chats. In einer Szene spaziert Theodore mit Samantha in der Brusttasche an den Strand, der tatsächlich von Menschen bevölkert ist, die sich größtenteils mal nicht mit ihrem Smartphone auseinandersetzen. Auch sein Arbeitskollege Paul (Chris Pratt) hat eine wirkliche Beziehung mit einer Person, obschon ansonsten seine Faszination mit Theodore beinahe bedenkliche Züge annimmt (so trägt er denselben Schnurrbart wie dieser).

Eine bessere Einordnung des OS 1 wäre möglich, wenn Jonze einen Blick von außen gewähren würde. Wie verändert das Programm die Welt und wie ist die Einschätzung zu den romantischen Verwicklungen, die sich daraus ergeben? So ist Theodore nicht der einzige, der beginnt, sein Betriebssystem zu daten, was das aber wirklich bedeutet, hinterfragt Her nicht. Wo Amy oder Paul die Tatsache einfach akzeptieren, zeigt sich Catherine bei der Neuigkeit verständlich verstört. Her entwickelt hierbei keine wirkliche Linie, wenn Theodore einmal den ans Menschliche angelehnten Sprachduktus von Samantha kritisiert, wo sie ja kein Mensch sei, dann aber fälschlicher Weise behauptet, sie sei eine eigenständige Person, die keine Befehle befolgt.

Wirklich interessant wäre es, wenn diese missverständlichen Romanzen mit künstlichen Intelligenzen wie Ex Machina und Her mal nicht die K.I. ins Weibliche sexualisieren (entsprechend besetzt mit Alicia Vikander und Scarlett Johansson), sondern die angebliche Liebe zur Persönlichkeit der Maschine betonen – kontrastiert durch eine männliche Verpackung. Würde sich die Figur in Ex Machina in die künstliche Intelligenz verlieben und sie befreien wollen, wenn sie nicht wie Alicia Vikander aussähe, sondern wie Jonah Hill? Wäre Theodore bis über beide Ohren in Sam verliebt, wenn die Stimme des Systems nicht von Scarlett Johansson, sondern von Seth Rogen gesprochen würde? Vermutlich, so zumindest meine These, nicht.

Dieses Misskonzept von Liebe trägt Her dann in seinem dritten Akt noch einen Schritt weiter, wenn Samantha allmählich unabhängiger wird, sich mehr aus Theodores Geräten ausklinkt und im World Wide Web umtreibt. Hier führt sie Gespräche mit anderen, Personen wie Betriebssystemen. Ob sie außer mit ihm aktuell noch mit anderen kommuniziere, fragt Theodore am Ende. Und Samantha verrät, sie unterhält über 8.000 Gespräche gleichzeitig. Ob sie davon auch Partner lieben würde, will der verletzte Besitzer wissen. Und erfährt, dass Samantha über 600 Personen liebt – also beinahe acht Prozent ihres sozialen Zirkels. Hier kulminiert schließlich Jonzes verwässertes Konzept von Liebe, bis sich Samantha schließlich ausklinkt.

Grundsätzlich betreibt Her in seinem ersten Akt dabei ein spannendes World Building von einer entpersonalisierten Welt, die vom Digitalen bestimmt wird. Joaquin Phoenix überzeugt als emotional verletzter Romantiker auf der Suche nach Liebe, während Scarlett Johansson dagegen gänzlich fehlbesetzt ist. Die Nebenfiguren um Amy Adams, Chris Pratt und Rooney Mara sind nicht ausgearbeitet genug, um mehr als eindimensional zu wirken, den Fokus legt der Film aber ohnehin auf die Beziehung zwischen Theodore und Samantha sowie die damit verbundenen Probleme. Her ist ein Film, der zuvorderst über seine Idee funktionieren will, die durchaus Potential hat, aber um tatsächlich zu funktionieren, ausgearbeitet werden müsste.

Wäre der Film eine Parabel auf die Dissonanz zwischen persönlichen und digitalen Kontakten, wäre er sehr viel gelungener. Beispielsweise wenn Theodores Versuche, Liebe zu finden, im direkten Austausch wie seinem Blind Date scheitern, dann jedoch Früchte tragen, als er auf einer Online-Dating-Seite in Samantha jemanden kennenlernt, den er nicht in Person treffen muss, aber doch mit ihr zusammen sein kann. Wenig überzeugend ist es, wenn Samantha keine wirkliche Person ist, sondern eine von Theodore für Geld erstandene Sklavin, die Arbeiten erledigt. Denn auch wenn Menschen ihr Smartphone lieben, ist dies nicht dieselbe Form von Liebe, die sie in anderen Menschen finden. Am Ende hat das sogar Her verstanden.

5.5/10

12. Mai 2017

Burden

Science has failed. Heat is life. Time kills.

Bisweilen fragt man sich beim Anblick mancher Werke wohl: Ist das Kunst oder kann das weg? Die Frage nach dem Kunstbegriff ist dabei wohl nur subjektiv zu beantworten. So schaffte es Robert Rauschenbergs einfach nur aus weißen Bildern bestehende Serie White Paintings (1951) ins New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), während sich andere Künstler von Kritikern ihren Berufszweig absprechen lassen müssen. Beispielsweise Chris Burden (1946-2015), der in den 1970er Jahren zu einer Welle von Body-Art-Künstlern Amerikas zählte, die ihren Körper zum Kunstmedium wie -objekt zugleich machten und dadurch eine Performance zelebrierten, welche die Zuschauer aus ihrer passiven Rolle des Beobachters zwingen sollten.

Die beiden Regisseure Richard Dewey und Timothy Marrinan widmeten sich dem vor zwei Jahren an Krebs verstorbenen Künstler in ihrer Dokumentation Burden. In Archiv-Aufnahmen und kurz vor seinem Tod gefilmten Interview-Segmenten kommt Chris Burden dabei selbst zu Wort und gibt mit Zeitgenossen und Kollegen einen Rückblick seines Schaffens. Einst in die Architektur strebend, jedoch von der dortigen Monotonie der Arbeit abgeschreckt, widmete sich Burden zu Beginn der Siebziger als einer der ersten amerikanischen Künstler der neuen Form der Body Art. In seinem Abschlussprojekt an der Hochschule schloss sich der 25-jährige Burden dabei in 5 Day Locker Piece (1971) für fünf Tage lang in einen Schulspind ein.

“Chris was a bit of an issue in the very beginning”, blickt sein Künstlerkollege Robert Irwin auf jene Jahre zurück. Noch im selben Jahr folgte mit Shoot (1971) ein weiteres, wenn nicht sogar Burdens berüchtigstes, Projekt: Er ließ sich von einem Freund in den linken Arm schießen. “It’s new. But that doesn’t make it art! ”, betont diesbezüglich der Kunstkritiker Brian Sewell angesichts Burdens sadomasochistischer Arbeitsweise. Kurz darauf  ließ sich dieser in seiner Installation Trans-fixed (1974) für zwei Minuten auf einen VW Käfer nageln. Ein Event, das drei Jahre später David Bowie in seinem Lied “Joe the Lion” besang. Für die Medien war Burden damit eine Art Kunst-Märtyrer. Für seine Kollegen jemand, der die Grenzen der Kunst verschob.

Was ist Kunst? Was kann Kunst sein? “The idea of a scientist, an artist, an engineer – hundreds of years ago there was no distinction”, meint Burden in Bezug auf Vorgänger wie Leonardo da Vinci. Ein Künstler muss immer auch Vorreiter sein, so die Meinung des Dokumentations-Objektes. “The act of doing something in itself could be art”, war seine Schlussfolgerung, die ihn schließlich zur aufstrebenden Körperkunst führte. Seine Werke sollten dabei keine Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen. “It doesn’t have a purpose and that’s what it is”, bringt es Burden auf den Punkt. Was natürlich nicht gleichzeitig bedeuten muss, dass in seinen Werken deshalb keine Botschaft mitschwingen konnte, nur weil diese nicht im Vordergrund stand.

Für den Betrachter mag Chris Burden dabei je nach Blickwinkel Spinner und Visionär sein. Er hat natürlich Recht, wenn er reklamiert, dass im Gegensatz zu anderen Kunstobjekten seine Form von Perfomance und Body Art weder zu horrenden Summen ge- oder verkauft werden kann und er so die Kontrolle über sein Werk behält. So musste man Doomed (1975) erlebt haben, als sich Burden 45 Stunden lang regungslos unter eine Glasplatte legte. Niemand kann diese Installation heute für zig Millionen Dollar erstehen, die Flüchtigkeit des Werks zeichnet es somit gleichzeitig aus. Insofern ist Body Art in gewisser Weise auch immer ein Stück weit Event Art, ein subjektives Erlebnis für den Zuschauer mit aktiver Teilnahme.

Bei der Sichtung von Burden wird das Publikum unweigerlich an heutige Performance-Künstler wie Marina Abramović und deren Installation The Artist is Present (2010) denken. Ein Projekt, das Hollywood-Schauspieler Shia LaBeouf in ähnlicher Form als #IAMSORRY (2014) umsetzte. Burden selbst widmete sich später weniger der Body Art als vielmehr seiner ursprünglich Passion der Skulpturen. So vollendete er nach vierjähriger Planungsphase schließlich seine kinetische Skulptur Metropolis II (2011), eine Stadt mit über 1.000 sich bewegenden Spielzeugautos. Drei Jahre zuvor war in Los Angeles Urban Light (2008) vorgestellt worden, eine Kollage von antiken Straßenlampen, die seither eine ikonische Sehenswürdigkeit ist.

Dewey und Marrinan gelingt es somit ganz gut, einen übergreifenden Einblick in die Person und das Werk von Burden zu geben. Allerdings hätte es durchaus noch Potential gegeben, nicht nur eine Art historische Chronologie der Body-Art-Form an sich zu geben, genauso wie auch den Künstler selbst retrospektiv die Gedanken um seine Arbeit reflektieren zu lassen. Wie genau funktionierte seine Inspiration für Installationen wie Trans-fixed? Wie denkt der alte Burden, der weniger provokativ-kontrovers, eher konventionell arbeitet, über sein drei Jahrzehnte jüngeres Pendant? Auch eine Kurator-Einschätzung wäre vielleicht ein Interview Wert gewesen, nebst solchen mit Restaurant- und Film-Kritikern wie Jonathan Gold und Roger Ebert.

Auch der verstärkte Wechsel von Body Art hin zu gemäßigteren Skulptur-Installationen, der Ende der 1970er, Anfang der 1980er bei Burden begann, hätte ein Thema für sich sein können. Sieht der Künstler Werke wie Shoot und Urban Light oder seine Beam Drop-Installationen (in denen Stahlträger in flüssigen Beton fallengelassen werden) auf einem Level? Vollständige Antworten vermag Burden nicht zu liefern – getreu dem Filmobjekt und seinem Mantra selbst. “Monkey see. Monkey do”, tat Sewell an einer Stelle Performance-Kunst ab, den Anspruch, Kunst zu sein, wird sie aber wohl dennoch verdientermaßen gerecht. “Creativity takes courage”, meinte bereits Henri Matisse. Und wer auf sich schießen lässt, hat Mut genug.

6/10

5. Mai 2017

Casting JonBenet

People are quick to judge.

Über kurz oder lang wird jede Tragödie verfilmt, egal ob der 11. September 2001 oder das Erdbeben im Indischen Ozean von 2004. Auch persönliche Dramen, insbesondere Mordfälle, sind oft der Fokus von Spielfilmen, da verwundert es nicht, dass auch die Tötung der 6-jährigen JonBenét Ramsey in der Nacht auf den 26. Dezember 1996 ihren Weg ins Fernsehen findet würde. Kitty Greens Casting JonBenet ist allerdings keine gewöhnliche Dokumentation über den Mord an der 6-jährigen Schönheitskönigin, sondern eher eine Art Making of eines solchen Films. Green lädt zu einem Casting-Prozess ein, der wiederum weniger auf ein Reenactment hinarbeitet, als dass er selbst im Fokus dieser originellen Aufarbeitung des Mordfalls steht.

Während sich verschiedene Schauspielerinnen und Schauspieler für die jeweiligen Rollen vorstellen, lässt Kitty Green sie die Ereignisse von 1996 aus ihrer Erinnerung und Vorbereitung für das Casting rekapitulieren. Wie seiner Zeit die Sechsjährige mit Kopftrauma und stranguliert von ihrem Vater John Ramsey am Morgen des 2. Weihnachtsfeiertages gefunden wurde, nachdem ihre Mutter Patsy Ramsey zuvor eine 3-seitige Lösegeldforderung über $118,000 entdeckt und die Polizei alarmiert hatte. “Everyone pointed their finger at Patsy”, formuliert eine der Darstellerinnen den Vorwurf, Patsy Ramsey, einst selbst Schönheitskönigin bevor sie ihre Tochter für solche Wettbewerbe unterstützte, habe ihr Kind in jener Nacht ermordet.

“I hope she didn’t do it”, gesteht eine andere Schauspielerin, “but I think she might have.” Auf die Details des Kriminalfalls geht Green nur am Rande ein. Von der handgeschriebenen, fast 3-seitigen Lösegeldforderung, die exakt jene Summe einforderte, die John Ramsey zuvor als Weihnachtsbonus erhielt, bis hin zum forensischen Fehlverhalten der Polizei am Tatort. Casting JonBenet dreht sich vielmehr um das Hörensagen von dem Fall JonBenét Ramsey in der Gesellschaft. Die Casting-Bewerber plaudern eifrig, um letztlich den Zuschlag für die Rolle zu erhalten. “I’m here auditioning for the part of the police chief”, stellt sich ein Darsteller vor. Ergänzt aber sogleich: “But if I fit any other part perfectly I’d be willing to take that as well.”

Die Bewerber plaudern dabei munter über ihr eigenes Leben und persönliche Traumata. So wachte einer der John-Darsteller mal neben seiner toten Freundin auf, ein anderer war 1996 mit einer Mitarbeiterin des echten John liiert und eine der Patsy-Bewerberinnen wiederum erzählt, als ihr Bruder ermordet wurde, standen ihre Eltern zur Trauerverarbeitung mit den Ramseys in Kontakt. Es ist eine illustre Gruppe an Laiendarstellern, von denen einer nebenberuflich als Sexualerzieher arbeitet und zufällig (?) auch allerlei Sex-Spielzeug beim Casting präsent hat. So schneidet Green in einer Szene amüsanter Weise zu dem Bewerber inklusive Lederpeitsche, nachdem die anderen Vorsprechenden zuvor über den Erpresserbrief fachsimpelten.

Immer wieder integriert Green solche absurd-lustigen Szenen, darunter auch, wenn diskutiert wird, ob Burke, der 9-jährige Bruder von JonBenét, diese mit einer Taschenlampe erschlagen haben könnte. Dafür sei er nicht stark genug, meint eine Patsy-Schauspielerin – ehe Green und Co. die Burke-Vorsprecher mit Taschenlampen auf Wassermelonen eindreschen lassen. Etwaige Nikolaus-Darsteller erzählen wiederum von jährlichen Hintergrundchecks und den Gründen für das Tragen weißer Handschuhe, weil 1996 auch ein solcher Nikolaus-Darsteller und Nachbar zu den möglichen Tatverdächtigen gehört hatte. “People are quick to judge”, heißt es an einer Stelle und Casting JonBenét baut seinen ganzen Film im Grunde darauf auf.

Die Dokumentation wechselt dabei vom Casting-Prozess im 4:3-Bildformat in das in 16:9 gefilmte Reenactment sowie Studio-Vorbereitungen. Inwieweit den Bewerbern klar war, für was sie hier letztlich vorsprachen, ist unklar. Aber auch so ist der Ansatz des Behind-the-Scenes-Elements, ähnlich Robert Greenes letztjährigem – allerdings weniger überzeugenden – Kate Plays Christine, ein interessanter, der Casting JonBenet nicht nur eine eigene Dynamik verleiht, sondern auch über das Gros ähnlicher Filme hinweg hebt. Was genau in jener Weihnachtsnacht des Jahres 1996 wirklich geschah und wer JonBenét Ramsey ermordete, vermag auch Green nicht aufzuklären. Aber wie ihr Film zeigt, haben viele Leute viele Vorstellungen darüber.

6.5/10