23. Oktober 2020

La vérité [Leben und lügen lassen]

Memory can’t be trusted.


In seiner japanischen Heimat ist Koreeda Hirokazu der Meister des stillen Familiendramas, in dessen Zentrum oft mehr oder weniger dysfunktionale Sippen stehen. Koreeda widmet sich deren Familienverhältnissen nie wirklich wertend, stets ruhig und bedacht, verständnisvoll und vergebend. Eine Herangehensweise, wie man sie im westlichen Kino eher selten findet, was La vérité – in Deutschland Leben und lügen lassen –, die erste westliche Regiearbeit Koreedas, umso interessanter macht. Thematisch fügt sich die französisch-japanische Koproduktion dabei nahtlos in das Œuvre des Regisseurs ein, adaptiert aber zugleich Elemente seines Gastlandes, sodass der Film weitaus weniger persönlich als Koreedas jüngere Werke wirkt.

Im Fokus steht dabei dieses Mal nicht der Sohn einer Familie, sondern mit Juliette Binoches Drehbuchautorin Lumir eine Frau. Die gebürtige Pariserin kehrt mit ihrer Tochter Charlotte und ihrem Mann, dem zweitklassigen Fernsehdarsteller Hank (Ethan Hawke), nach Frankreich zurück, um die Veröffentlichung der Memoiren ihrer Mutter, Schauspiel-Ikone Fabienne (Catherine Deneuve), zu feiern. Nur um festzustellen, dass die Erinnerungen der Mutter sich wenig mit der Realität zu decken scheinen, die Lumir als vernachlässigtes Kind eines Kinostars ihrer Zeit erlebt hat. Im Verlauf der folgenden Tage werden alte Wunden wieder aufgerissen und Familienbande auf die Probe gestellt, während Fabienne ihr aktuelles Filmprojekt abdreht.

La vérité erzählt somit vom Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder haben, von der Relevanz ihrer Präsenz und Erziehung – davon, woran wir uns erinnern und was wir verdrängen. Aspekte unharmonischer Eltern-Kind-Beziehungen, die Koreeda aus dem Effeff beherrscht. Fabienne wird als klassische Diva inszeniert, die zu sehr mit ihrer Karriere beschäftigt war, als sich um ihre Familie zu kümmern. Ihre Ehe scheiterte, der Ex-Mann muss zu seinem eigenen Erstaunen in Fabiennes Memoiren sogar das Zeitliche segnen. Nicht die einzige Freiheit, die sich Fabienne mit der Realität nimmt, auch die gemeinsamen Spaziergänge mit Lumir zum Schulschluss nach Hause gab es nie, wie die Tochter der Mutter nach der Buchlektüre erbost vorhält.

“I’m an actress. I won’t tell the naked truth. It’s far from interesting”
, entschuldigt Fabienne. Wenn die Realität zu banal ist, muss sie narrativ aufgepeppt werden. Zugleich erhält Lumir einen Hinweis, den ihr später auch Fabiennes Agent, selbst enttäuscht über seine Aussparung in den Memoiren, mitgibt: “You can’t trust memory.” Dies wird verdeutlicht, wenn Lumir ihre Mutter zum Set ihres Sci-Fi-Dramas “Memories of My Mother” begleitet und das Studio-Gelände aus Kindeszeiten viel größer in Erinnerung hat. Sie sei inzwischen ja gewachsen, erwidert die Mutter. Quasi ihrer Erinnerung entwachsen. Woran erinnern wir uns, woran glauben wir uns zu erinnern und was haben wir nie realisiert und so zur Erinnerung avancieren lassen?

Ironischerweise dreht sich “Memories of My Mother” ebenfalls um eine zerrüttete Mutter-Tochter-Beziehung, in der Fabienne die altgewordene Tochter des aufsteigenden Starlets Manon (Manon Clavel) spielt, deren Mutter-Figur sich aufgrund einer Krankheit immer für sieben Jahre ins Weltall verabschiedet und dadurch nicht altert. Fabienne übernimmt quasi die Rolle von Lumir, der vernachlässigten Tochter, deren Mutter nie so intensiv Teil ihres Lebens war, wie erhofft. “Isn’t a little neglect better than being a helicopter mum?”, fragt Fabienne eingangs noch, lernt aber im Verlauf die Beziehung zu Lumir sowie zu ihrer Umwelt zu hinterfragen. Obgleich ihr Koreeda keine Katharsis schenkt, reift die Figur dabei dennoch etwas.

Über weite Strecken fühlt sich La vérité wie ein Film von Olivier Assayas an, konkreter wie eine Mischung aus L'Heure d’été und Clouds of Sils Maria. Letzterer habe Koreeda wohl auch dazu inspiriert, mit Juliette Binoche und Catherine Deneuve in Frankreich zu drehen. Mit Éric Gautier findet sich dann auch neben Binoche ein weiterer Assayas-Vertrauter als Kameramann an Bord. Dessen Einstellungen erinnern mitunter an Assayas, bleiben jedoch dem Stil von Koreedas japanischen Werken durchaus treu, was auch seinem Schnitt geschuldet sein dürfte. Ähnliches lässt sich von Alexeï Aïguis Musik sagen, die zwar konstant französisch gerät, aber in ihrer optimistischen Melancholie stets auch die Aura von Koreedas Filmen einfängt.

Ein autobiografisches Buch hatte schon in Umi yori mo mada fukaku [Atfer the Storm] für Misstöne in einer Familie gesorgt. Dissonanzen zwischen Erzeuger und Kind bildeten das Fundament von Aruitemo aruitemo [Still Walking] und Soshite chichi ni naru [Like Father, Like Son]La vérité fügt sich in diese Reihe geschickt ein, allerdings mit spürbarer französischer Note. Der Respekt, den japanische Kinder gegenüber ihren Eltern entgegenbringen, geht der etwas liberaleren Lumir hier ab, die Figur spricht nicht um den heißen Brei, sondern zielgenau, geht auch dorthin, wo es wehtut. Das macht die Inszenierung seitens des Regisseurs interessant, wird ihm und seinem Stil letzten Endes aber vielleicht nicht hundertprozentig gerecht.

Gelungen ist Koreedas Fingerübung im westlichen Kino aber allemal, seine Inszenierung weiter gewohnt gelassen, selbst wenn die Emotionen der Charaktere einmal höher schlagen. Die Besetzung mit Binoche und Deneuve ist natürlich kongenial und ein Höhepunkt für sich, das übrige Ensemble, darunter Ethan Hawke mit einer wenig ausgearbeiteten Figur, gerät da etwas ins Hintertreffen. La vérité ist ein Film über eine Familie, die das Herz am rechten Fleck trägt, auch wenn sie sich nicht daran erinnern mag. Vielleicht nicht von ungefähr wird The Wizard of Oz in Koreedas Geschichte referiert, denn wie hieß es schon in Victor Flemings Klassiker: “A heart is not judged by how much you love; but by how much you are loved by others.”

7/10