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5. März 2010

Alice in Wonderland

Off with their heads!

Die Phantasie ist eine Gabe der Kinder, was man bereits daran merkt, dass es kaum Fantasy-Literatur für Erwachsene gibt. Es sind Harry Potter und Co., die sich mit seltsamen Kreaturen und Welten auseinandersetzen müssen. Was nicht bedeutet, dass die Erwachsenen ihre Phantasie verloren haben, sie verdrängen sie nur. Filme wie Hook oder Finding Neverland präsentieren uns einen erwachsenen Mann, der sich in seine Phantasie flüchtet. Steven Spielberg setzt den Hebel um, als Peter Banning an dem fiktiven Abendessen der Verlorenen Jungs teilnimmt (“You’re playing with us, Peter.“), Marc Foster lässt seinen J.M. Barrie nach einem Gespräch mit seiner Frau in ein strahlendes Zimmer mit Landschaft abtreten, während seine Frau in ihrem kargen Realismus verschwinden muss. Es ist jener Realismus und Ernst des Lebens, der ein Kind oft zum Erwachsenen macht. “I met a man the other day who did not believe in fairy tales”, beginnt Gilbert Keith Chesterton seinen Aufsatz The Dragon’s Grandmother, einem Lanzenbruch für Märchen.

Ein Satz, auf den Barrie wohl geantwortet hätte: “Every time someone says ‘I do not believe in fairy tales’, somewhere there’s a fairy tale that dies“. Insofern war Barrie ein Mensch, der sehr wohl an das Phantastische glaubte und es für Kinder in seiner Literatur greifbar machte. Inspirationsquelle für Barries berühmteste Geschichte Peter Pan waren dann die die fünf Sohne der Llewelyn Davies Familie, allen voran vermutlich ihr drittältester Sohn Peter. Barrie lernte die Familie 1897 kennen, ein Jahr bevor Charles Lutwidge Dodgson, ein Mann, der viel mit Barrie gemein hatte, verstarb. Dodgson, ein britischer Mathematiker, ist besser bekannt unter seinem Pseudonym „Lewis Carroll“ und für seine beiden Kinderbücher Alice’s Adventures in Wonderland sowie Through the Looking Glass. Auch Dodgson war mit einer Gruppe von Kindern eng befreundet, namentlich den drei Töchtern seines Universitätsdekans Henry Liddell. Speziell dessen Tochter Alice hatte es Dodgson angetan und es war sie, die ihm als Inspirationsquelle für seine Alice-Abenteuer dienen sollte.

Nun soll an dieser Stelle dem Verdacht, dass beide Männer pädophil gewesen sein sollen oder könnten - zu Dodgsons Hobbys gehörte es, nackte Mädchen zu photographieren - nicht nachgegangen werden. Vielmehr soll Dodgsons Werk in den Fokus gerückt werden. Die Alice-Abenteuer zählen zu den beliebtesten Adaptionen der Unterhaltungsbranche. Mehrere Dutzend Mal wurde das 1865 entstandene Buch Alice’s Adventures in Wonderland bereits adaptiert. Ein Abenteuer eines kleines Mädchens, das in einer phantastischen Welt landet, in der es auf allerlei Nonsens und sie unentwegt beleidigende Kreaturen trifft. Eine Analogie nicht nur auf die viktorianische Gesellschaft selbst, sondern auch auf den Kontrast zwischen Kindern und Erwachsenen (“I was never so ordered about in all my life, never! (…) I might just as well be at school at once“, Alice’s Adventures in Wonderland). Verständlich also, dass Kinder sich auch noch nach der Viktorianischen Epoche mit Dodgsons Werk identifizieren konnten. So wie der einst acht Jahre junge Tim Burton.

Tim Burtons Filme sind einzigartig in ihrer Art, von Edward Scissorhands über Mars Attacks! bis hin zu Sleepy Hollow. In den meisten Fällen erzählen sie von einer verschrobenen, eigenartigen Figur, sei es eben Edward Scissorhands, der sich nachts als Batman verkleidende Bruce Wayne oder der Bioexorzist Beetlejuice. Dabei wurde Burton selbst stets als ebenso „weird“ erachtet, wie seine Geschichten beziehungsweise Charaktere. “Well, (…) what’s weird?“, fragte Burton den britischen Talk-Show-Host Jonathan Ross. “You (..) are”, entgegnete dieser lachend. „Weird“ wäre auch eine Beschreibung, die sich auf Dodgsons Nonsense-Werk münzen ließe, weshalb es vielen als nicht nur gelungene, sondern in gewisser Hinsicht auch konsequente Entscheidung erschien, dass Burton in diesem Jahr nun (s)eine Version/Vision von Dodgsons beiden literarischen Werken in die Kinos bringen würde. Mit Alice in Wonderland legte Burton nun jedoch einen lieb- und leblosen Aufguss vor, der sich nur selten wirklich wie ein Tim-Burton-Film anfühlen will.

Nach einer kurzen Episode zu Beginn, springt der Film zu einer viktorianischen Gartengesellschaft. Hier soll die Verlobung der 19-jährigen Alice (Mia Wasikowska) bekannt gegeben werden. Etwas, von dem Alice selbst erst vor Ort erfährt. Alice ist ein seltsames Mädchen, das sich beim Tanzen vorstellt, wie es wäre zu fliegen, und Kaninchen mit Westen sieht. Um den einschläfernden Hamish zu heiraten, fühlt sie sich natürlich nicht bereit. Stattdessen folgt sie dem weißen Kaninchen in seinen Bau, purzelt hinunter in eine ovale Halle voller Türen, trinkt und isst verzauberte Lebensmittel, ehe sie durch die einzige sich aufschließende Türe passt und sich fortan in Underland wiederfindet, einem verschrobenen Ort, in dem sie einerseits erwartet wird, andererseits dann aber doch auch irgendwie wieder nicht. Ob sie die Alice sei, fragen sie zwei kugelrunde Jungen, ein Dodo, eine Haselmaus und das Kaninchen. Alice ist verwirrt, soll das doch ihr Traum sein und dennoch scheint alles bereits vorgeschrieben zu sein. Allen voran ihr zukünftiges Schicksal.

Für Tim Burton ist sein Alice in Wonderland keine Neuinterpretation von Dodgsons beiden Werken. Und eine Fortsetzung ist es seiner Aussage nach auch nicht. Wahrscheinlich, weil es Beides ist. Neuinterpretation und Fortsetzung. Schließlich war Alice als Siebenjährige bereits in Underland und erlebte einer späteren Rückblende nach zu urteilen das Meiste aus Alice’s Adventures in Wonderland. Und zugleich ist eine Fortsetzung, weil Alice nun, zwölf Jahre später, zurückkehrt, nach Underland. Was Burton nun stets an jedweder Alice-Adaption gestört hat, war die Tatsache, dass es immer um ein Mädchen ging, „wandering around from one crazy character to another”, sodass Burton nie „any real emotional connection“ gefühlt habe. Eine weitere Aussage, die verwundert, denn im Grunde besteht auch sein Film aus einer herumwandernden Alice, die von einer verrückten Figur auf die Nächste trifft. Von Tweedledee und Tweedledum zum Caterpillar, von diesem zur Cheshire Cat, dann zu Mad Hatters (Johnny Depp) Teeparty, bis hin zur Roten Königin (Helena Bonham Carter) und letztlich ihrer Schwester, der Weißen Königin (Anne Hathaway).

Der gesamte erste Akt stellt dabei eine an verschiedenen Stellen leicht abgewandelte Adaption von Dodgons erstem Roman dar. Dem Schema seiner Bücher bleibt Burton jedoch treu. Alice trifft von einer Figur, auf die Nächste. Worin sich Drehbuchautorin Linda Woolverton nun versuchte, war dem Film einen roten Faden zu geben, sodass es gilt, von einem Punkt A zu einem Punkt B zu gelangen. Ein kläglicher Versuch, wirkt die Handlung des Films doch zu keinem Zeitpunkt wie mehr als ein müder Aufguss. Burtons „wirkliche emotionale Bindung“ besteht nunmehr aus der Tatsache, dass Alice die Auserwählte ist, die mittels eines mächtigen Schwerts einer Prophezeiung folgen und den Drachen Jabberwocky erschlagen muss. Ein Handlungsgerüst, das oberflächlich betrachtet funktionieren mag (Auftrag: Jabberwocky erschlagen), aber bei näherer Betrachtung in seiner Konstruktion zusammenbricht. Denn an den Stellen, wo Burtons emotionale Bindung beginnt, versucht man sich planlos in Fantasy-Abenteuer anderer Autoren zu retten.

Aus unerfindlichen Gründen herrscht in Underland die Rote Königin als Despotin, das Volk allein durch ihre Kontrolle über den Jabberwocky unterjochend. Abgesehen von jenem Land, in dem ihre Schwester, die Weiße Königin - vormals auch richtige Königin - unbehelligt mit ihrer Armee lebt. Wieso nun der Jabberwocky allein auf die Rote Königin hört - es wirkt nicht so, als würde er einen Nutzen aus dieser Koalition erzielen -, wird nicht klar. Auch nicht, weshalb die Königin selbst, die in einem grünen, prachtvollen Palast lebt, das restliche Umland und damit ihr eigenes Königreich abfackelt. In ihrer Darstellung erinnert sie daher ein wenig an Tolkiens Sauron, wie sie da in ihrer Bastion sitzt, während das karge Umland von ihren Schergen durchwütet wird und dabei Angst und Schrecken verbreiten. Weshalb sich die anderen Figuren nicht in das wunderschöne Reich der Weißen Königin retten, die, wie gesagt, unbehelligt mit Armee und Hof leben darf, bleibt ebenfalls ein Rätsel. Doch hier fangen die Anleihen an J.R.R. Tolkien und Co. leider erst an.

Wo die Rote Königin in ihrem von kargem Umland umschlossenen Palast sitzt, befindet sich wie Weiße Königin in einem an Minas Tirith erinnernden Schloss, das direkt an Bruchtal anzugrenzen scheint. Da gehört es sich dann auch, dass Wasikowska und Hathaway in einer Nacht wie einst Pippin und Gandalf auf dem Balkon in die Ferne zu ihren Feinden blicken. Zuvor musste sich Alice zum Palast der Roten Königin über einen mit Leichen von Soldaten der Weißen Königin gefüllten Burggraben durchschlagen, wie zuvor Frodo das Sumpfland vor Mordor zu durchqueren hatte. Und bei Tolkien hört der kreative Diebstahl nicht auf, auch sein Kollege C.S. Lewis darf kräftig Ideen beisteuern. Von der Haselmaus, die zum Degenschwingenden weiblichen Pendant von Reepicheep verkommen darf, bis hin zur finalen Schlacht im dritten Akt, wenn Alice als kleiner Achilles in Troy-Manier sich in den Kampf gegen den Jabberwocky stürzt. Und weil es so schön war, erinnert die Szenerie des Kampfes dann an Frodos Konfrontation mit dem Nazgûl-Drachen aus The Two Towers.

Es finden sich auch noch andere Filmzitate (z.B. an Mononoke-hime) wieder, die Szenen aus den Lord of the Rings- und The Chronicles of Narnia-Filmen sind jedoch die Zahlreichsten und Offensichtlichsten. Bedauernswert, mit welch geringer Kreativität Burton, ein Meister des Phantastischen, sich hier bei Anderen bedient. Dabei scheitert Alice in Wonderland nicht an jenen Referenzen und auch nicht an seiner unsinnigen finalen Schlacht, sondern gerade an dem Versuch, Dodgsons Romane in eine stringente Handlung zu pressen. Das Wonderland, ursprünglich und hier wieder eingeführt Underland benannt, ist eine Welt des Nonsense. Argumente der Logik und der Mathematik, die als Ausgangsbasis für die Gespräche eines kleinen Mädchens mit unterschiedlichen durchgeknallten Figuren dienen. Dass Burton diesen seltsamen Charakter einer ganzen Welt in die narrativen Zwänge einer stringenten Geschichte zu zwängen versucht, mutet da fast schon wie ein Kardinalsdelikt an. Dementsprechend fällt auch die Figurenzeichnung aus.

“We’re all mad here. I’m mad. You’re mad”, erklärt die Cheshire Cat in Alice’s Adventures in Wonderland. “How do you know I’m mad?”, will Alice wissen. “You must be,” said the Cat, “or you wouldn’t have come here.” Nun ist Alice bei Burton kein kleines Mädchen mehr, sondern reifer geworden. Sie weiß - oder glaubt zu wissen -, dass sie Underland lediglich träumt. Wieder und wieder weißt sie die Figuren darauf hin, speziell wenn sie von diesen herumkommandiert wird. Obschon Alice auch weit in die Geschichte hinein noch glaubt, dass alles nur ein Traum und selbst ihr sympathisch gewordene Figuren wie der Mad Hatter reine Figmente ihrer Imagination sind, hat sie panische Angst gegen den Jabberwocky, eine vermeintlich fiktive Figur ihres eigenen Traums, anzutreten. Erst als sie erfährt beziehungsweise glaubt, dass alles in Underland tatsächlich real ist, entschließt sie sich paradoxerweise gegen den Drachen zu kämpfen. Ein Faktor, den man als Nonsense bezeichnet könnte, hätte Burton dieses nicht durch seine Stringenz aus dem Film revidiert.

Dass dann Johnny Depp - wohl nur, weil es die einzige positive Figur ist, die er hätte repräsentieren können und er unter keinen Umständen nicht in dem Film mitspielen konnte - seinen Mad Hatter als Carrot-Top-artigen Charakter interpretiert, der im dritten Akt zum Schwertschwingenden Revoluzzer mutiert und wenn er aggressiv wird, den Tonfall eines verärgerten schottischen Pub-Besitzers annimmt, um in der einen Szene Alice auf die Titten zu starren und in einer anderen einen Siegestanz aufzuführen, stellt da nur die Spitze des Besetzungseisberges dar. Auch Anne Hathaway, deren Weiße Königin ständig aussieht, als würde sie unter extremen Achselschweißausdünstungen leiden, reiht sich ein zu den Charakteren, die es in diesem Film nicht wirklich gebraucht hätte. Immerhin Helena Bonham Carter scheint ihren Spaß gehabt zu haben, wenn sie ihre Lieblingsphrase „Off with the heads!“ ausrufen durfte. So vermag lediglich Wasikowska neben den Synchronsprechern (u.a. Alan Rickman, Michael Sheen und Christopher Lee) zu überzeugen.

Es gilt also wenn schon nicht narrativ, dann doch zumindest optisch zu punkten. Und wie sich das inzwischen gehört, muss dies in der dritten Dimension geschehen. Obschon der Film selbst in 2-D gedreht wurde (was James Cameron zur Äußerung verleitete: ”It doesn’t make any sense to shoot in 2D and convert to 3D“). Dementsprechend sehen dann auch die Bilder aus. Nur in seltenen Fällen kommt der 3-D-Effekt wirklich zur Geltung, während er in den meisten Anderen das traditionelle Gimmick bleibt. So nett die visuellen Effekte, egal ob mit 3-D-Effekt oder ohne, auch anzusehen sind, stellt der Film keinen optischen Rausch dar, wie Camerons Pandora-Welt, sondern mutet eher als digital animierte Variante der bekannten Alice-Geschichte an. Und so gefällig die Landschaft und Kreaturen auch anzusehen sind, desto misslungener sind die Kostüme und Maske für den Mad Hatter und die Weiße Königin ausgefallen. Gänzlich gelungen ist dafür Danny Elfmans musikalische Untermalung, die perverser Weise zum Abspann von einem Avril-Lavigne-Song abgelöst wird.

Wäre Elfmans Musik nicht, man wüsste in den meisten Szenen ohnehin nicht, dass man in einem Tim-Burton-Film sitzt. “Sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast”, lautet ein Ausspruch der Weißen Königin aus Through the Looking Glass, den Alice im Film mehrmals wiedergibt. Hätte sich auch Burton daran gehalten, wäre Alice in Wonderland vielleicht etwas kreativer und persönlicher geworden. So wirkt der Film oft, als wäre er eine Auftragsarbeit von Disney, das Burton Handlungselemente von Tolkien und Lewis aufzwängen wollte. Das Hook-sche Element des Helden, der nach einigen Jahren zurück in die Welt kehrt, die er verlassen hat, scheitert letztlich vielleicht nicht so sehr am Versuch, Dodgsons Nonsense-Welt in eine Geschichte pressen zu wollen, als vielmehr daran, dass es eine ausgesprochen schwach ausgearbeitete Geschichte ist. Und so lässt sich auf Alice in Wonderland durchaus das semantische Beispiel des Märzhasen münzen. Denn “I like what I get” ist hier leider nie dasselbe wie ”I get what I like“.

5/10

8. April 2008

Alice in Wonderland

Why is a raven like a writing desk?

Eigentlich kann man Disney-Filmen ebenso wenig vorwerfen, wie es bei Ghiblis möglich ist. Es handelt sich hierbei in den meisten Fällen um einfache Geschichten, oftmals konzentrierend auf eine weibliche, junge Protagonistin, in Interaktion mit Tieren oder Fabelwesen. Als Thematik werden oftmals moralische Handlungen gewählt, die den Kindern eine subtile moralische Richtung vorgeben, wie Respekt vor anderen Lebewesen oder Akzeptanz des eigenen Charakters, unabhängig vom Erscheinungsbild. Ironischerweise war Walt Disney selbst nicht der Heilige, für den man ihn halten könnte, betrachtet man seine Filme. Doch Disneys Persönlichkeit soll bei der Rezeption dieses Filmes keine Rolle spielen.

Alice’s Adventures in Wonderland erschien am 4. Juli 1865 in Großbritannien, verfasst von dem Mathematiker und Schriftsteller Charles Lutwidge Dodgson unter seinem Pseudonym Lewis Carroll. Sechs Jahre später erschien schließlich eine Art Fortsetzung mit dem Roman Through the Looking Glass. Beide Romane werden in den häufigsten Fällen von Verfilmungen zusammengelegt respektive ineinander verwoben, wobei das Schachspiel des zweiten Teiles eher selten eine thematische Zentrierung erfährt. Drei Jahre vor dem Druck von Alice in Wonderland unternahm Dodgson eine Bootsfahrt auf der Themse, gemeinsam mit Freunden. Hier erzählte er drei Mädchen eine fantastische Geschichte, eines dieser Mädchen hieß Alice Pleasance Liddell. Ihr widmete Dodgson zumindest Through the Looking Glass, auch wenn er stets abstritt, dass seine Alice auf Alice Liddell aufgebaut war.

Bis heute liegen 25 Verfilmungen von Carrolls Roman vor, die Disney Version von 1951 markierte den dreizehnten Film im Disney Kanon. Inszeniert wurde die Alice-Geschichte vom Regie-Trio Clyde Geronimi, Hamilton Luske und Wilfred Jackson, die gemeinsam auch die Regie bei anderen Disney-Filmen wie Cinderella oder Peter Pan übernehmen sollten. Ganze zehn Jahre dauerte die Planung für Alice in Wonderland und fünf Jahre wurden benötigt, um unter den Augen von Disney persönlich den Film schließlich fertig zu stellen. Als er schließlich in die Kinos kam, war der Film ein totaler Reinfall. Doch bereits in den sechziger Jahren erfreute sich das Werk schließlich einer größeren Beliebtheit und gilt heute trotz einiger schlechten Kritiken als eines der gelungensten Werke der Disney-Studios. Viele andere Werke, wie Miyazakis Tonari no Totoro oder The Matrix der Gebrüder Wachowski wurden von Dodgsons Werk beeinflusst. Insbesondere Alice Eintritt in das Wunderland durch den Kaninchenbau bzw. der Verfolgung eines weißen Kaninchens ist heute zum Slangausdruck für Drogenerfahrungen geworden. Alice in Wonderland selbst gehört zu der literarischen Kategorie „Nonsens“, was Dodgson auch nie verleugnet hat. Seine Geschichte ist keine im eigentlichen Sinne, was Alice im Wunderland erlebt, hat weder Hand noch Fuß, keinen rechten Anfang, sowie keinen rechten Schluss und einen Sinn hat es gleich gar nicht. Nicht nur ist das Geschehen totaler Nonsens, auch was die Einwohner des Wunderlandes von sich geben, ergibt in den wenigsten Fällen Sinn. Paradox ist hier nicht nur die Umgebung, sondern auch die Platzierung eines siebenjährigen Mädchens in das Ganze.

„Wenn ich ein Wort verwende“, erwiderte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig, „dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.“ - „Die Frage ist doch“, sagte Alice, „ob du den Worten einfach so viele verschiedene Bedeutungen geben kannst“. - „Die Frage ist“, sagte Humpty Dumpty, „wer die Macht hat - und das ist alles“ [Through the Looking Glass, S. 99]. Hierbei handelt es sich nur um eine von verschiedenen Passagen, in welchen Dodgson mit der Logik spielt. Der Mathematiker versteht es, auf geschickte Weise sein Wissen so in die Handlung einzugliedern, dass Alice in Wonderland, ebenso wie Through the Looking Glass zu Klassikern für Mathematiker geworden sind. An sich sind die Alice-Geschichten ohnehin vielmehr für Erwachsene denn Kinder gedacht, da in den Büchern nicht nur ständig verqueres Zeug geredet wird, sondern die Figuren des Wunderlands mit Alice auch äußert rabiat umgehen. „Wie diese Viecher einen immer herumkommandieren und einen Sachen aufsagen lassen!“, dachte Alice [Alice in Wonderland, S. 130], und in der Tat wird Alice besonders in Wonderland ständig von den Einwohnern stillos herumkommandiert und in den meisten Fällen auch beleidigt. Da ihre Logik nicht mit der ihrer Umgebung funktionieren will, wird ihr häufig ihre Beschränktheit und Dummheit vorgeworfen („Du solltest dich schämen so dumme Fragen zu stellen“, meinte der Greif; Alice in Wonderland, S. 119). Für Kinder selbst ist die Handlung wohl schwer nachzuvollziehen.

Eher lassen sich die Alice-Geschichte als subtilen Seitenhieb auf die damalige Gesellschaft verstehen, in der Kindern in der Schule aufgetragen wurde, ständig irgendwelche Gedichte auswendig rezitieren zu können, weswegen auch die Einwohner des Wunderlandes Alice jedes Mal ein solches Gedicht aufsagen lassen. Sie selbst reden währenddessen sinnloses Zeug, dem Alice als Siebenjährige schwerlich folgen kann, ähnlich wie es einem Kind schwer fällt, den Gesprächen von Erwachsenen zu lauschen. Fragt Alice schließlich nach, wird sie von oben herab betrachtet und ihr ihre eigene Einfältigkeit vorgeworfen. Zudem gelingt es dem Mädchen ziemlich oft, die Geschöpfe des Wunderlandes vor den Kopf zu stoßen, die zumeist beleidigt reagieren und gekränkt Abschied nehmen.

Auch vor dem Königshaus macht Dodgson nicht halt und schildert die Herzkönigin während des Croquet-Spiels als (ironischerweise) herzlose Despotin, die Hinrichtungen en masse anordert, wenn ihr nicht nach dem Mund geredet wird. Alice selbst traut sich erst gegen die Königin auf zu gebären, als sie dieser körperlich überlegen ist. Von all diesen sozial-kritischen Komponenten und den logischen Spielereien findet man in der Disney-Version fast gar nichts mehr. Überraschenderweise fehlen auch Figuren wie Humpty Dumpty oder die Suppenschildkröte, während andere Figuren wie der Türknopf zur Handlung dazu erfunden wurden, in den meisten Fällen, um die Geschichte verständlicher zu machen. Mehr Raum bekommt auch die Grinsekatze, die seltsamerweise im Film Tigerkatze heißt und für eine total andere Wendung im Geschehen sorgt, als es in der Romanvorlage der Fall gewesen ist.

Die Tatsache, dass Disney die philosophischen Nischen der Vorlage aus seinem Film subtrahierte, spricht ebenfalls dafür, dass es sich bei den Alice-Geschichten schwerlich um Kinderbücher handelt, zumindest sind sie ungeeignet für Kinder in Alices Alter. Disney setzt stattdessen die Gewichtung auf die komischen Aspekte, nicht nur der Handlung, sondern auch der Szenerie. Dideldum und Dideldie verkommen zu Spaßmachern, ihre Geschichte vom Walross und dem Zimmermann durch die Adaption der Mär vom Mäusefänger von Hameln zur Lehrstunde („Geht nicht mit fremden Männern mit!“). Auch die Mittelpassage, die in Ansätzen dem fiktiven Jabberwocky-Gedicht entlehnt ist, ist typisch disneyscher Zeigefinger. Alice jammert und weint, sieht ein, dass sie niemals hätte weglaufen sollen und nun, da sie verirrt ist, am besten bleibt wo sie ist, bis sie jemand findet.

Die auftretenden Figuren sind ins Lächerliche gezogen, die gesamte Geschichte wird kindgerecht serviert und funktioniert als solche nur bedingt. Unterhaltsam ist das sicher für die Kleinen, erzählt aber nicht mehr eine - relativ - stringente Handlung, wie es Dodgsons Version tut. Statt in den schönen Garten gelangen zu wollen, rennt Alice in Disney Version ständig dem weißen Kaninchen hinterher, mit welchem es paradoxerweise auch mehrfach direkt interagiert. Zudem spricht sie zu Beginn des Filmes das Wunderland als solches auch noch direkt an, bevor ihre Katze Dina das weiße Kaninchen als erste (!) erblickt und somit die psychologische Frage nach der Existenz des Wunderlandes praktisch im Vergleich zum Ende respektive der Vorlage ad absurdum führt.

Weil Dodgsons Geschichte nicht wirklich Sinn macht, ist sie etwas schwer verdaulich, viel mehr Anschauungsobjekt, denn Märchen. Disney adaptiert zwar das verrückte Wunderland, beschränkt sich jedoch auf die Charakterisierung der Verrücktheit. „Du musst verrückt sein, sonst wärst du nicht hierher gekommen“, eröffnet die Grinsekatze Alice gegenüber [Alice in Wonderland, S. 78], und in gewissem Sinne hat sie durchaus Recht. Es ist Alice, die das weiße Kaninchen sieht und es ist Alice, die all den Einwohner begegnet, keines der Geschöpfe trifft direkt auf sie. Auch ihr Abenteuer hinter den Spiegeln spricht für ihre eigene Verrücktheit, auch wenn vielleicht Phantasie eine besser gewählte Bezeichnung wäre. Wie bereits angesprochen vernachlässigt Disney jedoch die Tiefgründigkeit der sinnlosen Vorlage, sodass die eigene zelebrierte Geschichte eine sinnlose ohne jede Tiefgründigkeit ist, weshalb sie letzten Endes scheitert, leidlich unterhält und Alice in Wonderland somit zu den schwächeren Disneys, zählt.

4.5/10