16. März 2008

Gattaca

Did I ever tell you about my son, Jerome?

Mit dem Gedanken an Eugenik beschäftigte sich vor rund 2.400 Jahren bereits Platon in seinem Dialog Πολιτεια: „Also werden gewisse Feste gesetzlich eingeführt werden, an welchen wir die neuen Ehegenossen beiderlei Geschlechts zusammen führen werden“ (459e4f.) und „die (…) gebornen Kinder nehmen die dazu bestellten Obrigkeiten an sich (…) die der guten (…) tragen sie in das Säugehaus (…), die der schlechten aber (…) werden sie (…) in einem unzugänglichen und unbekannten Ort verbergen“ (460c). Die Folge: Der perfekte Staat, frei von Makel, die einzig wahre friedliche Staatsform. Eine Dreiklassengesellschaft ohne Familiensystem in der jeder seinen Teil für das Gemeinwohl leistet.

Vom eugenischen Gedanken waren auch die Nationalsozialisten beseelt als die jüdische Bevölkerung sterilisiert und Behinderte oder rassentechnisch Unhygienische euthanasiert wurden. Die menschlichen Genome sind voller Makel: Krebs, ein Herzfehler, Alzheimer, Parkinson – was wäre, wenn man all diese Krankheiten bei seinem Kind vermeiden, es davor schützen könnte? Das Zauberwort heißt Präimplantationsdiagnostik, man trennt sprichwörtlich die Spreu vom Weizen, sondiert die befruchteten Eizellen aus, die entsprechend gesund sind oder die Risiken bergen. Jede Mutter wünsch sich vor der Geburt ihres Kindes, dass es einfach nur gesund sein soll – was wäre aber, wenn sich dies von vorneherein festsetzen ließe?

Ein solches Szenario einer eugenischen Gesellschaft inszenierte Andrew Niccol gegen Ende der Neunziger in seinem Film Gattaca. Paare suchen den Arzt ihres Vertrauens auf und dürfen dann aus den befruchteten Eizellen ihre(n) Favoriten aussuchen. Nur die besten ihrer Eigenschaften werde der Sohn haben, versichert der Genetiker (Blair Underwood) dem Ehepaar Freeman. Ausschließen lässt sich so ziemlich alles, auch jegliche Veranlagung zum Alkoholismus. Doch Marie Freeman (Jayne Brook) ist unsicher. “We were just wondering if it is good to just leave a few things to chance?”, wendet ihr Gatte Antonio (Elias Koteas) ein. Der Genetiker schmunzelt nur. Denn die Entscheidung ist schon längst gefallen.

Denn zwei Jahre zuvor kam ihr erster Sohn Vincent zur Welt, ein natürlich gezeugtes Kind von Gottes Gnaden. In Niccols Zukunft wird ihm kurz nach der Geburt Blut entnommen und seine ganze Zukunft vor ihm ausgebreitet. Vincent hat zu 99% eine angeborene Herzschwäche, seine Lebensprognose beträgt 30,2 Jahre. Vater Antonio erkennt, dass dem Jungen kein einfaches Leben bevorsteht und interveniert, als seine Frau diesem den Namen seines Vaters geben möchte. Er solle nicht „Anton“ heißen – dieses Privileg wird er erst zwei Jahre später vergeben, an seinen eugenisch perfekten Sohn. Im Alter von acht Jahren wird Anton seinen älteren Bruder nicht nur was die Größe betrifft übertrumpft haben.

In dieser Gesellschaft, die nur auf die Gene schaut und in der Urinproben Bewerbungsgespräche ausmachen, haben Gotteskinder keine Chance. Entsprechend strebt Vincent nach höheren Dingen, einer anderen Welt, da draußen im Weltall, wo es keine Rolle spielt, welche Gene du hast. Doch als „Invalide“ ist er nicht gut genug, um die Akademie zu besuchen, seine Gene machen ihm einen Strich durch die Rechnung. Näher außer als Putzkraft wird er der Raumfahrtorganisation Gattaca nie kommen. Vincent (Ethan Hawke) bleibt somit nur die Rolle als Rebell gegen das System. Er geht eine Zweckgemeinschaft mit Jerome Morrow (Jude Law) ein, einem jener makellos-eugenischen Menschen dieser selbst geschaffenen Elite.

Der suizidale Jerome ist seit einem Unfall gelähmt, eine oberflächliche Ähnlichkeit zu Vincent ermöglicht es Letzterem sich mit Jeromes Genen bei Gattaca zu bewerben, wo er es schafft, einer Raumfahrtmission zum Saturn zugeteilt zu werden. Für die Erfüllung von Vincents Traum erhält Jerome im Ausgleich die Aufrechterhaltung seines Lebensstiles. Jene Symbiose dieser genetisch ungleichen Männer droht jedoch aufzufliegen als Vincents Vorgesetzter ihm auf die Schliche gekommen zu sein scheint und tot in seinem Büro aufgefunden wird. Die Ermittlungen obliegen dem hartnäckigen Polizisten Hugo (Alan Arkin), der hierbei von Anton (Loren Dean) unterstützt wird, der es bis in die obersten Ränge geschafft hat.

Um anonym zu bleiben und hinter Jeromes Maske zu verschwinden muss Vincent tagtäglich eine hygienische Prozedur über sich ergehen lassen. Er befreit er seinen Körper von jeglichen Hautschuppen, trägt künstliche Fingerkuppen und einen Urinbeutel an seinem Oberschenkel. Er setzt sich Kontaktlinsen ein und zieht sich Socken über die Beine, welche er operativ verlängern lassen musste, um Jeromes Größe zu entsprechen. Da man bei Gattaca und auch sonst nur noch auf die DNS achtet, ist die wenig glaubhafte Ähnlichkeit von Vincent und Jerome irrelevant. Es ist nicht wichtig, was man tatsächlich kann, sondern wozu man gemäß dem Genpool in der Lage ist. Die richtigen Genome sind das beste Zeugnis.

So wird Vincent lediglich als Jerome wahrgenommen und entsprechend akzeptiert - die zwar illegale, aber auftretende Genomdiskriminierung ist überwunden. Dennoch weckt Vincent die Zweifel seiner Arbeitskollegin Irene (Uma Thurman). Mittels einer Haarprobe sucht sie einen öffentlichen Schalter auf, an welchem Frauen Speichelproben ihrer Verabredungen abgeben, um wenige Sekunden später die genetische Identität – und damit das Potential – ihres möglichen Partners in Form einer Nukleotidfolge ausgehändigt zu bekommen. An jenem Abend besuchen Vincent und Irene ein Konzert eines Pianisten mit zwölf Fingern. “That piece can only be played with twelve”, informiert Irene hinsichtlich des Stückaufbaus.

“There’s no gene for fate”, sagt Vincent an einer Stelle. Der Pianist scheint ihn jedoch zu widerlegen. Sein Karrierepfad wirkt vorherbestimmt, mit schönem Dank an die Präimplantationsdiagnostik. Was am Ende dann entsteht ist ein Mensch, der es im Leben zu allem schaffen kann, zu allem wozu er vorher ausgewählt wurde. Dem Zufall wird hier nichts mehr überlassen, denn der Zufall birgt Risiken. Ob das „Produkt“ am Ende noch als Mensch mit freiem Willen durchgehen kann, wenn man ihm Entscheidungsmöglichkeiten genetisch negiert, ist fraglich. Friedrich Nietzsche sagte, es gäbe keinen Gott, sondern der Mensch erschuf diesen, um sich seine Existenz zu erklären. In Gattaca wird der Mensch zu Gott.

Gegenwärtig werden Themen wie Klonen oder Stammzellenforschung heiß diskutiert, das Spielen mit menschlichem Leben – wie immer alles nur zu einem höheren Ziel. Als Gattaca im Jahr 1997 erschien, schrieb der Molekularbiologe Lee M. Silver, dass Niccols Film Pflichtprogramm für alle Genetiker sein sollte, schon allein, damit sich diese der Tragweite ihres Handelns bewusst würden. Denn wenn man Menschen genetisch konzipieren kann, provoziert man eine selektive Gesellschaft die andere ausgrenzt. So wie Vincent ausgegrenzt wird, als ihn eine Kindertagesstätte wegen des genetischen Risikos einer Verletzungsgefahr nicht aufnehmen will. “Wherever I went, my genetic prophecy preceded me”, sagt er.

Die Genetik ist allgegenwärtig in Gattaca. So hat die Treppe in Jeromes Haus die Form einer Doppelhelix und der Name des Films wie auch von Vincents und Irenes Raumfahrtorganisation setzt sich aus den Nukleotiden des DNS- und RNS-Stranges zusammen. Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin bilden am häufigsten in der menschlichen DNS die Kombination GATTACA. Jene Einrichtung selbst ist wie Niccols gesamter Film sehr steril geraten und wirkt trotz der oft in das bräunlich gehenden Farben weitestgehend kalt. Besonders leblos – natürlich auch als Spiegelung von diesem selbst – wirkt Jeromes Haus, in dem sich der einst perfekte Jerome und der vormals fehlerhafte Vincent schließlich anfreunden.

Sympathien schlagen Vincent immer dann entgegen, wenn Menschen selbst Fehler kennen. So wie bei Hausmeister Caesar (Ernest Borgnine), Firmenarzt Lamar (Xander Berkeley) und allen voran Irene, die aufgrund eines Herzfehler-Risikos selbst nie ins All reisen wird. Das stark besetzte Ensemble überzeugt durch die Bank, ebenso wie die wieder einmal ausgezeichnete musikalische Untermalung durch Michael Nyman, von Andrew Niccol in Gattaca verpackt zu einem Appell gegen Diskriminierung und den Glauben an die Möglichkeit, auch Dinge zu schaffen, die unser Schicksal nicht für uns vorgesehen hat. Denn letztlich, so die Botschaft des Films, ist ein Genom auch nur so gut, wie der Mensch, der es in sich trägt.

10/10

1 Kommentar:

  1. Mehr eine Intepretation des Films als eine Review, und eine sehr gute obendrein.

    Toller Film, wenn nicht sogar einer der besten dieses Genres. Auf alle Fälle mehr als unterschätzt.

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