5. Juli 2008

XXY

Everyone will find out.

Mit dem Klinefelter-Syndrom bezeichnet man Fälle in denen Jungen ein zusätzliches X-Chromosom haben, folglich gewisse weibliche sexuelle Eigenschaften wie die Ausbildung kleiner Brüste nach sich ziehen können oder eine Unterentwicklung männlicher sexueller Eigenschaften. Regisseurin und Autorin Lucía Puenzo wählte für ihren Film den Titel XXY, ohne dass ihre Geschichte mit direkt mit dem Klinefelter-Syndrom zu tun hat. Die Hauptfigur Alex (Inés Efron), ein 15-jähriges Mädchen, leidet nicht an besagtem Syndrom, sie ist im Grunde ein Hermaphrodit respektive eine Intersexuelle. Aber selbst als solche ist Alex noch speziell, denn sie verfügt sowohl über ein männliches als auch ein weibliches Geschlechtsorgan. Dieser Umstand macht es ihr nicht besonders leicht sich in die Gesellschaft einzugliedern, besonders nicht in ihrer Pubertät.

Um ihr Kind vor bösen Blicken und etwaigen Animositäten zu schützen, sind Alex’ Eltern Néstor (Ricardo Darín) und Suli (Valeria Bertuccelli) mit ihr von Argentinien in ein kleines Fischerdorf in Uruguay gezogen. Doch auch hier droht ihr „Geheimnis“ aufzufliegen. Das Thema, mit welchem sich Puenzo nunmehr in XXY auseinandersetzt, ist: Mann oder Frau – was will Alex sein? Wobei die Frage vielmehr lauten müsste, was will Alex’ Umgebung, dass Alex wird? Eingeleitet und ausgeleitet wird der Film mit der Ankunft und Verabschiedung von Sulis Freundin Erika (Carolina Pelleritti), die gemeinsam mit ihrem Mann Ramiro (Germán Palacios), einem Schönheitschirurgen, und ihrem Sohn Alvaro (Martín Piroyanski) Alex und ihre Eltern besucht. Man darf es als Sulis Wunsch erachten, Klarheit für ihre Tochter zu schaffen, indem Ramiro Alex kastrieren soll. Néstor selbst weiß nichts davon, kommt jedoch letztlich ebenso schnell darauf wie Alex selbst.

Einer der Kritikpunkte an Puenzos Film ist die Tatsache, dass sich die Handlung und Problematik nicht an Alex orientiert. Was genau in dem jungen Mädchen vorgeht, wie sie denkt und was sie fühlt, all das verwehrt Puenzo dem Zuschauer, zumindest auf der Oberfläche. Wenn Alex nach dem Erwachen ihre Cortisol-Tabletten zwischen ihre kleinwüchsigen Brüste legt, die sie nehmen muss, damit das Testosteron in ihrem Körper unterdrückt wird, und daraufhin in dem Buch ihre Vaters die Stelle liest, dass jedes Lebewesen zuerst weiblich ist, sagt dies genauso viel über ihren Seelenzustand aus, wie ihr nächtliches, nacktes Begutachten im Spiegel. Ihre Sexualität beschäftigt das junge Mädchen durchaus, aber ob sie sich wirklich damit auseinandersetzt, ob sie ein Mann oder eine Frau sein will, macht Puenzo nicht wirklich deutlich.

Denn Alex ist sich ihrer Sexualität unschlüssig, sie hegt sowohl Gefühle für Alvaro, den sie nach einigen Neckereien quasi anal vergewaltigt, als auch für ihre Nachbarin Roberta. Aus einer Dusche unter Frauen wird in einer Szene sehr schnell sehr viel mehr – Alex ergreift die Flucht. Es wird nicht klar, ob Alex nun auf Männer oder Frauen steht, sie ist vielmehr ein verwirrtes Kind, eingeschüchtert und verängstigt durch ihre eigene – nicht eindeutige – Sexualität. Hinzu kommt dann auch noch ihre Pubertät, ein allgemeines, natürliches Aufbegehren. Ihr Pfeiler in der Brandung ist dabei Vater Néstor, der sein Kind liebt, wie es ist. In einem Gespräch mit Ramiro erklärt Néstor eindrucksvoll, dass es für ihn nie in Frage stand, sie operieren zu lassen. Für Néstor ist Alex perfekt, er erkennt in ihr die inneren Werte, will nur das Beste für sein Kind. So hat es zumindest den Anschein, doch ein Erlebnis lässt auch Néstor veranlassen, eigene Nachforschungen zu beginnen.

Das erste was Alex im Film sagt, ist an Alvaro gerichtet und kurz nach dessen Ankunft. Ganz direkt fragt sie ihn, ob er zuvor masturbiert habe. Alvaro ist so perplex, dass er es bereitwillig eingesteht. Noch perplexer ist er, als Alex ihn ohne Umschweife fragt, ob er Sex mit ihr haben will. Sie hat bereits ihrem besten Freund Vando diese Frage gestellt, aber dieser hat schockiert reagiert. Für Alex geht es hierbei primär darum, für sich selbst zu bestimmen, wie sie sexuell gepolt ist, eine Anziehung zu Alvaro selbst lehnt sie ab. Alvaro lehnt jedoch ebenfalls ab, doch ein hitziges Argument wird später eine Meinungsänderung bewirken. In einer Scheune beginnen sich beide hemmungslos zu küssen, Alvaro will die Initiative ergreifen, doch diese wird von Alex übernommen. Ehe sich Alvaro versieht, liegt er auf dem Bauch und wird, wie es Néstor später bezeichnen wird - von Alex in den Arsch gefickt. Doch Alvaro wehrt sich nicht, Néstor erwischt die beiden Jugendlichen miteinander.

Die Situation wird jedoch nicht zur Klärung allerlei sexueller Fragen beitragen können. Néstor zieht daraus scheinbar den Schluss, dass Alex ein homosexuelles Leben als Mann anstreben könnte - schließlich verfügt sie auch über eine Vagina, hat sich aber entschlossen zu penetrieren denn penetriert zu werden. Über Zeitungsartikel stößt er auf eine weitere Intersexuelle, die nach Operationen jetzt als Mann lebt und über eine Frau und einen adoptierten Sohn verfügt. Später wird Néstor auch Alex gegenüber den Dorfbewohner als „seinen Sohn“ verteidigen, er fällt praktisch eine Entscheidung Alex betreffend, wenn auch bloß für sich selbst. Alvaro wiederum wusste zuvor nichts von Alex’ Zustand, dass weiß auch Ramiro, der sich sichtlich über Alvaros Interesse an Alex freut. Schließlich hatte er seinen Sohn für schwul gehalten, die ganze Wahrheit kennt er aber nicht - auch nicht das Publikum.

Es ist nicht eindeutig klar, ob Alvaro nun homo-, bi- oder heterosexuell ist. Ob er mit Alex schlafen wollte, um sich selbst etwas zu beweisen oder weil es ihn danach verlangte. Der Sex mit ihr hat ihm jedoch gefallen, er selbst weiß nicht wirklich, was dies für ihn bedeutet. Es wäre vorschnell Alvaro als homosexuell zu verklären, nur weil ihm eine anale Penetration gefallen hat. Auszuschließen ist es aber auch nicht. Die finale Szene sollte oder könnte Auskunft darüber geben, doch auch hier ist unschlüssig, ob Alvaro so reagiert hat wie er wollte oder wie er erwartet hat, dass er reagieren soll. Für die Erwachsenen scheint es für Alex nur eine Lösung zu geben, sie muss sich entscheiden. Während Ramiro und Suli die offensichtliche Variante der Kastration bevorzugen, schließlich lebt Alex seit jeher als Mädchen, scheint sich Néstor nach dem Erlebnis in der Scheune für einen Sohn entschieden zu haben. Was Alex darüber denkt, rückt Puenzo jedoch nicht in den Vordergrund, Alex setzt sich mit ihrem Konflikt nicht auseinander, will sich nicht festlegen, wie es die Erwachsenen tun.

Inés Efron spielt die unsichere, zerrissene Alex grandios, intensiv und äußerst beeindruckend. Erstaunlich wie problemfrei sie mit den vielen Nacktszenen umgeht, gerade die Duschszene mit Roberta zeugt von ihrem großen Talent als Schauspielerin. Ähnlich intensiv spielt Martín Piroyanski den Jugendlichen, der sich ebenso unschlüssig ist, was eigentlich gerade mit ihm vorgeht, wie Alex. Weiterer Kritikpunkt an Puenzos Film ist der Vater-Sohn-Moment zwischen Alvaro und Ramiro. Die Szene kommt sprichwörtlich aus dem Nichts und beinhaltet eine Offenbarung, die den ganzen Film hindurch nicht genährt wurde. Ob entsprechende Szenen der Schere zum Opfer fielen oder einfach nicht existieren, lässt sich nicht sagen. Die Sequenz am Lagerfeuer wirkt aber ihres Inhaltes wegen vollkommen deplatziert, da ihr jeglicher Nährboden fehlt.

Abgesehen von der Szene zwischen Alvaro und Ramiro, sowie der Vernachlässigung von Alex’ Charakter, gibt es relativ wenig auszusetzen an Puenzos Sexualdrama. Das Ensemble überzeugt, vielleicht abgesehen von Bertuccelli, die mitunter in der Rolle der verzweifelten und zugleich beschützenden Mutter überfordert scheint. Es ist die Leistung von Efron, die den Film trägt und gewürzt mit den Darbietungen von Piroyanski zu einem großen Schauspielfilm macht. Die Katharsis erlebt im Film weniger Alex als vielmehr ihre Eltern. Ein großes Drama am Ende bleibt dem Zuschauer jedoch erspart, ebenso wie ein Happy End. Ob Alex’ Entscheidung die richtige ist, bleibt offen. Welche Auswirkungen dies haben wird, ist nicht absehbar. Gut möglich, dass man während des Filmes seine eigene Sexualität hinterfragen kann, schließlich sind wir alle von Geburt weiblich. Beispielhaft hierfür hält Alex in ihrem Zimmer Clownfische, die ebenfalls Hermaphroditen sind und ihre Sexualität ändern können. Praktisch ein amphibisches Pendant zu Alex. Wenn das Drehbuch etwas besser ausgearbeitet worden wäre, hätte XXY sehr viel intensiver sein können. Aber auch so ist es ein beachtlicher Film geworden, der wieder mal die Frage stellt, wieso in Deutschland selten so gute Filme entstehen.

8.5/10

3 Kommentare:

  1. Ich wusste, dass ich bei dem was verpasst hatte, trotz zwei PV's. Fuck.

    Hast du WOLKE 9 gesehen? Der ist auch was für dich.

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  2. Die PV zu WOLKE ist erst noch. Und was soll das heißen "ist was für dich", da wir beide ja meist divergieren interpretier ich mal, dass du ihn nicht so prall fandest (?)

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