10. August 2008

The Lost Weekend

Let me have my little vicious circle.

Die meisten Menschen konsumieren Alkohol, viele von ihnen täglich. Sei es zum Abendessen ein Bier oder Gläschen Wein, einen Schnaps hinterher, Alkohol ist allgegenwärtig und in vielen Haushalten fester Bestandteil. Bei Jugendlichen ist Alkohol besonders beliebt und wird am Wochenende deshalb konsumiert, um sich in einen berauschten Zustand zu versetzen. Alkohol als Fluchtmittel aus der realen Welt, schon nach ein paar Gläsern kommen einem mögliche alltägliche Sorgen weniger problematisch vor. Nach ein paar Gläsern mehr erinnert man sich meist gar nicht mehr daran, dass man überhaupt Probleme hat. In Deutschland leiden 4,3 Millionen Menschen unter Alkoholsucht, das sind immerhin fünf Prozent der Bevölkerung. Eine Person unter zwanzig kommt mit ihrem Leben insofern nicht zurecht, dass sie ohne Alkohol nicht leben kann. Dies betrifft die Männer doppelt so stark wie die Frauen, 70 Prozent der Alkoholiker sind männlichen Geschlechts. Seinen Status als Droge schreibt man Alkohol dabei selten zu, ähnlich wie bei Nikotin oder Koffein. Die Grenzen verwischen schnell, dass man selbst oder jemand aus dem Freundeskreis zum Alkoholiker verkommen ist, merkt man oft nicht und wenn dann recht spät. Wo liegen die Grenzen zwischen gewöhnlichem Alkoholkonsum und Alkoholsucht? Muss man erst direkt nach dem Aufstehen anfangen zu trinken, um als Alkoholiker betitelt zu werden? Im Gegensatz zu harten Drogen wie Heroin oder Kokain wird der Alkoholsucht in Hollywood nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Im Gegenteil, Schauspieler wie Brad Pitt lassen sich meist von asiatischen Firmen kaufen und werben jenseits des Pazifik für Bier und Whiskey. Auch in Filmen wird die Sucht selten thematisiert, Ausnahmen sind unter anderem Leaving Las Vegas mit Nicolas Cage oder When a Man Loves a Woman mit Meg Ryan.

Während einer Zugfahrt stieß der aufstrebende Regisseur Billy Wilder, der sich gerade mit der Verfilmung zu Double Indemnity einen Namen gemacht hatte, im Jahr 1944 bei einem Zwischenstopp auf das Buch The Lost Weekend. Es war im selben Jahr erschienen und bildete das Debüt von Charles R. Jackson, der noch fünf weitere, jedoch weniger erfolgreiche Romane verfassen sollte, ehe er letztlich Selbstmord beging. Der gebürtige Österreicher Wilder wählte den Roman aus, um als Vorlage für seinen vierten Spielfilm zu dienen. Die Hauptrolle besetzte er mit Ray Milland, mit dem er zwei Jahre zuvor bereits The Major and the Minor zusammengearbeitet hatte. Nach Wilders eigener Aussage trat während der Dreharbeiten die amerikanische Alkohollobby an Paramount heran und bot fünf Millionen Dollar, wenn man es unterließ den Film herauszubringen. Spaßvogel Wilder meinte, hätte man ihm selbst das Geld angeboten, hätte er das Angebot angenommen. Aber auch so war The Lost Weekend ein heißes Eisen und Paramount extrem unsicher. Erst als die Kritiker nach einer Testvorführung in Lobeshymnen ausbrachen, gab es ein festes O.K. Im Nachhinein sollte der Film neben der Palme d’Or auch vier Auszeichnungen der Akademie gewinnen, darunter für den Besten Film, die Beste Regie, das Beste Drehbuch und den Besten Hauptdarsteller. Für Wilder würden es die ersten beiden Oscars in seiner Karriere sein, zu denen sich später noch vier weitere Preise hinzugesellen sollten. Bis 1997 führte er zudem die Rangliste der Oscarnominierten Drehbuchautoren mit zwölf Nominierungen an, inzwischen musste er diesen Platz an Woody Allen abgeben. Billy Wilder zählt zu den größten Regisseuren aller Zeiten, ich selbst habe ihn in einer eigenen Rangliste einst auf Platz 2 hinter Stanley Kubrick positioniert. Mit Filmen wie Sunset Blvd. und The Apartment begeisterte Wilder ganze Generationen von Filmliebhabern, The Lost Weekend zählt zu seinen großen Filmen und markiert mit Double Indemnity seinen Aufstieg.

Wilder beginnt seinen Film mit derselben Einstellung, mit der er ihn beenden wird. Die Kamera schwenkt zu einer Häuserfassade und fokussiert eine Flasche, die an einer Schnur hängt, die mit einem Fenster befestigt ist. Im Zimmer zum Fenster ist Don Birnam (Ray Milland) damit beschäftigt, einen Koffer zu packen. Sein Bruder Wick (Philip Terry) ist anwesend, doch Dons Blicke wandern immer wieder nervös zum Fenster. Direkt in seiner ersten Einstellung vermittelt Wilder seinem Publikum, was ihn erwartet. Don ist Alkoholiker. Und nicht nur das, er ist auch noch auf Entzug, seit wenigen Tagen erst. Sein Bruder Wick will mit ihm und Dons Lebensgefährtin Helen (Jane Wyman) ein langes Wochenende auf dem Land verbringen. Für Don ist das der Horror pur, mehrere Tage auf dem Land, ohne die Chance auf Alkohol? Er muss die Flasche außerhalb des Fensters – die letzte, die er verstecken konnte – irgendwie mitnehmen. Seine Versuche, seinen Bruder aus der Wohnung zu lotsen, sind dabei so offensichtlich, dass Wick dahinter kommt. Doch ein (un)glücklicher Zufall verschafft Don zehn Dollar und ehe er sich versieht, hat er zwei Flaschen Whiskey gekauft und sitzt in seiner Stammkneipe. Barmann Nat (Howard Da Silva) weigert sich zwar zuerst, doch schenkt er ihm letztlich einen Kurzen ein. Don starrt förmlich auf seinen Kurzen, die gesamte Arbeit der letzten Tage, er trinkt sie mit einem Schluck dahin. Den Wasserfleck, den der Kurze auf der Theke hinterlässt, soll von Nat nicht weggewischt werden.

„Let me have my little vicious circle”, sagt Don stattdessen und macht deutlich, dass er sich seiner aussichtlosen Situation vollkommen bewusst ist. Don wird dem langen Wochenende nicht entkommen können, aber es wird einen anderen Verlauf nehmen, als er glaubte. Wick fährt ohne ihn und Don muss irgendwie über die Runden kommen. Seine Versuche, an Alkohol zu kommen, werden immer wahnwitziger, bis er schließlich am Tiefpunkt anlangt. Die Ironie der Geschichte ist, dass obschon Don im angetrunkenen Zustand ein egomanisches Verhalten an den Tag legt, ihm dennoch von allen Seiten Sympathien zufliegen. Nicht nur Wick unterstützt ihn seit Jahren, er schützt Don sogar in einer Rückblende. Auch Nat erweist sich als Freund und allen voran erweist ihm Freundin Helen die Treue. Ihre Beweggründe versteht man zwar nicht und Wilder führt sie nicht näher aus. Der Zuschauer muss sich mit der Liebe als Antwort begnügen. Die Liebe ist es auch, welche die Prostituierte Gloria (Doris Dowling) zu Don treibt. Im angetrunken Zustand flirtet er gerne mit ihr und macht ihr Versprechungen, die – wie Nat anmerkt – er ohnehin nie einhalten wird. Letztlich wird aber auch Gloria ihren Teil zu Dons Katharsis beitragen. Eine grandiose Rückblende versucht zu erläutern, wie Don zum Alkoholiker wurde, so jedenfalls seine eigenen Worte. Wirklich erfahren tut man es allerdings nicht. Eine Schreibblockade sei verantwortlich, der hoffnungsvolle College-Autor brachte anschließend nichts Gescheites zu Stande. Dies trieb ihn zum Alkohol. Grandios ist in der Rückblende die Opernszene des „Drinking Song“ in La Traviata, in der Wilder hängende Mäntel auf der Bühne zelebriert, die Don an sein eigenes Geheimnis erinnern. Weshalb Don sich La Traviata ansah, wird nicht erläutert, dort trifft er jedenfalls Helen – eine Begegnung, die sein Leben verändern wird.

In Jacksons Roman gibt es einen anderen Auslöser für Dons Alkoholismus, einen Besseren, der aber für Hollywood 1945 wahrscheinlich nicht umsetzbar schien. Don sieht sich der Anschuldigung gegenüber, auf dem College eine homosexuelle Affäre gehabt zu haben. Diese Thematik wird im Film ausgespart. Wilder konzentriert sich ganz auf den Teufelskreis, in dem sich Don befindet. Die Tücken seiner Sucht erläutert er meist in Monologen gegenüber Nat. Wie ein Karussell sei Alkoholismus, wenn man einmal drauf ist, kommt man nicht mehr runter. Zudem sei es am Morgen am schlimmsten, denn da wäre Alkohol wie Medizin. Er redet sich seine Existenz schön, verstrickt sich immer tiefer und schließt sich von seiner Umwelt aus. Phantastisch die Szene, in der Don den Alkohol sucht, den er am Abend zuvor im Suff versteckt und nun nicht mehr finden kann. Ray Milland lebt diese Rolle und ihm ist es zu verdanken, dass die Figur fast zu keinem Zeitpunkt ins Lächerliche abdriftet. Lediglich in der Albtraumszene rutscht er etwas ins Overacting, ohnehin mag man sich an der Albtraumszene beißen, die den ersten Einsatz des Ätherophons in einem Spielfilm darstellt. Die Nutzung des Gerätes wirkt etwas unpassend und besser beheimatet in den Science-Fiction Filmen wie Plan 9 From Outer Space, in denen es in den Fünfzigern Verwendung finden sollte. Dennoch lebt der Film von Millands kompromissloser Darstellung und der authentischen Handlung. Lediglich zum Ende hin lässt Wilders Film ein wenig nach, die Katharsis von Don kommt ziemlich überhastet, die Beweggründe wirken nicht unbedingt plausibel. Es ist die Liebe, wie auch schon bei Helen der Fall, die ihn letztlich zum Sieg führt.

8/10

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen