29. Juni 2018

Jane

Someone with an open mind.

Wie viel Mensch steckt im Affen – oder umgekehrt. Eine Frage, mit der sich vor über einem halben Jahrhundert auch der kenianische Paläoanthropologe Louis Leakey befasste. Und für seine Primatenforschung in Tansania seine damalige 26-jährige Sekretärin Jane Goodall rekrutierte. Die hatte zwar keine entsprechende akademische Ausbildung, aber Leakey wollte vielmehr “someone with an open mind (…) and a monumental patience”. Für Goodall ging wiederum ein Traum in Erfüllung, faszinierte sie doch bereits als Kind die Tierwelt und der afrikanische Kontinent. Mit einer enormen Fülle von Archivmaterial ausgestattet, beleuchtet Regisseur Brett Morgen in Jane jenen Weg von Jane Goodall zur vielleicht bekanntesten Primatenforscherin.

Der enorme Fundus am Filmaufnahmen mag eingangs beim Zuschauer noch die Vermutung nach sich ziehen, es handele sich bei den Szenen vor Ort um Re-Enactment. Stattdessen aber hat National Geographic etliche Stunden bisher unveröffentlichten Materials bereitgestellt, ein neues Interview mit Goodall von Morgen unterlegt die Bilder mit dazugehörigen Hintergrund-Informationen. Das Ergebnis ist ein bis dato wohl in dieser Form nicht dagewesener dokumentarischer Zugang zu Goodalls Arbeit – und auch ihrer Person. Denn wie sich in Jane zeigt, ist das (Privat-)Leben der heute 84-Jährigen unweigerlich mit ihrer Primatenforschung im Gombe-Nationalpark in Tansania verwoben. Zum Positiven wie vielleicht auch mitunter Negativen.

Die Ursprünge sind dabei ungewöhnlich – aber nicht ohne Vorreiter. Jane Goodall zog es als weiße alleinstehende Frau in den Dschungel, lediglich begleitet von ihrer Mutter. Zu einer Zeit, “when aloneness was a way of life”. Ihre Beobachtung einer Schimpansen-Kolonie war zu Beginn noch relativ fruchtlos. Oft fanden sich keine Mitglieder und wenn, nahmen diese Reißaus. “I was an intruder – and a strange one at that”, reflektiert Goodall jene Anfangsphase, in der ihre Anwesenheit erst von der Schimpansen-Gruppe akzeptiert werden musste. Schnell stellten sich dann aber erste Erfolge ein, beispielsweise die bahnbrechende Entdeckung, dass Schimpansen wie der Mensch auf Werkzeug zurückgreifen, um zu Nahrung zu gelangen.

Nur mittels Eckpunkten gibt Morgen dabei eine zeitliche Einordnung, sei es Goodalls Ankunft in Gombe 1960 oder wenn vier Jahre später für National Geographic der niederländische Tierfilmer Hugo van Lawick nach Tansania kam. Ihn würde Goodall wenig später heiraten und einen Sohn von ihm gebären. Ab Mitte der 1960er Jahre springt Jane dann aber mitunter ohne rechte Orientierung. Wann und wie oft die Engländerin in der Heimat ist – wo sie letztlich ihre akademische Reife nachholte – oder welche Folgen ihre weitere Forschung auf die Wissenschaft hatte, macht Morgen nicht deutlich. Womöglich, weil die Fülle an Material zu groß ist, währte Jane Goodalls Primaten-Studie in Tansania doch insgesamt über fünf Jahrzehnte lang.

Den Fokus zu Beginn gibt der Dokumentarfilm also leider spätestens zur Hälfte seiner Laufzeit etwas auf. Morgen möchte sich dem Mensch Goodall ebenso widmen wie der Forscherin – wohl weil beides letztlich korreliert. In der Folge konzentriert sich Jane aber weder auf das eine noch andere vollends. Der in Afrika aufgezogene Sohn ist irgendwann plötzlich weg und die Beziehung der Mutter zu ihm wird unklar, wie auch die zu van Lawick schließlich scheitert. Gänzlich unerwähnt bleibt Goodalls zweiter Ehemann, genauso – aber nicht unüblich für diese Art der biografischen Dokumentation – auch Kritik an der Arbeit der Primatologin. Das alles macht Morgens Film nicht weniger korrekt, aber letzten Endes dann doch etwas weniger rund.

Die guten Ansätze des ersten Aktes verfolgt Jane nicht ausreichend zu Ende. Darunter die Faszination Goodalls mit den Schimpansen. “I saw a thinking, reasoning personality”, beschreibt sie ihren ersten intensiven Kontakt mit einem der Affen. Diese rücken irgendwann aber wie ihre menschlichen Artgenossen etwas in den Hintergrund. Selbst wenn Jane später durchaus interessant Goodall die Erziehung ihres Sohnes in Relation mit der von Schimpansen-Weibchen Fifi und deren Nachwuchs setzt. Die Musik von Philip Glass gibt sich Mühe, die Emotionalität des Gezeigten zu unterstreichen, am Ende gelingt es Brett Morgen aber doch nicht, seinen Film gänzlich so interessant zu gestalten, wie es seine Protagonistin und die Thematik sind.

6.5/10

22. Juni 2018

Jurassic World: Fallen Kingdom

I say we shut this whole thing down.

Es gibt in Jurassic World eine Szene mit Genetiker Henry Wu (BD Wong), die exemplarisch das Problem des Jurassic Park-Franchises auf den Punkt bringt. “You didn’t ask for reality, you asked for more teeth”, sagt Wu darin in Bezug auf den amoklaufenden Hybrid-Dino Indominus Rex. Versuchte die Filmreihe um rebellierende Riesenechsen zuerst in The Lost World noch, den Erfolgsdruck einer Fortsetzung mit einem Mehr an Kreaturen aufzufangen (mehr Tyrannosaurier, mehr Raptoren), ging Jurassic Park III mit seinem Spinosaurier bereits dazu über, den Fokus eher auf einen neuen, „Supersaurier“ zu legen. Wo Stephen Sommers’ Trilogieabschluss scheiterte, reüssierte Colin Trevorrow 2015 mit Jurassic World – zumindest finanziell.

“Life finds a way”, sinnierte Ian Malcolm (Jeff Goldblum) da im Original – und könnte genauso für jeden Kino-Blockbuster sprechen, der bei ausreichend Erfolg eine Sequel-Lawine lostritt. Bei einem Einspiel von über 1,6 Milliarden Dollar war absehbar, dass Jurassic World zurück auf die Leinwand kehrt. Immerhin bleibt der Park dieses Mal geschlossen – was nicht bedeutet, dass J.A. Bayona, der Trevorrow als Regisseur ersetzt, aber nicht dieselben Fehler wie sein Vorgänger macht. Jurassic World: Fallen Kingdom erzählt so im Grunde zwei Geschichten in einem Film – wobei die erste angelehnt ist an The Lost World und die zweite im Prinzip der Handlung des Vorgängers folgt. Dies aber zumindest in einer neuen und eher ungewöhnlichen Umgebung.

Ein Vulkanausbruch droht, die auf Isla Nublar verbliebenen Dinos auszulöschen. Für die Tiere ein kataklystisches Déjà-vu, welches Milliardär Benjamin Lockwood (James Cromwell), der mit John Hammond (Richard Attenborough) einst das Dino-Klonen anstieß, gemeinsam mit Claire (Bryce Dallas Howard), vormals Park-Leiterin von Jurassic World, verhindern will. Elf Spezies können auf eine andere Insel Lockwoods verlagert werden, klärt Lockwoods Assistent Eli (Rafe Spall) auf. Darunter auch Velociraptor Blue. Nur: Um diese im verwahrlosten Park ausfindig zu machen, müssen Claire, ihr IT-Kollege Franklin (Justice Smith) sowie Ex-Freund und Raptor-Trainer Owen (Chris Pratt) aber erst das Tracking-System des Parks rebooten.

Während Ian Malcolm in einem Cameo vor dem US-Senat eine Intervention der natürlichen Ereignisse ablehnt, veranstaltet der Film ein großes Bohei um eine letzten Endes reduzierte Rettungsaktion. Selbst wenn ein Dutzend Exemplare gerettet werden, bleibt der Großteil doch zur Auslöschung verdammt. Sprich: Um die vorhandenen Tiere geht es weniger als um den Gedanken eines zweiten Aussterbens. Die Szenen auf Isla Nublar ähneln dabei denen aus The Lost World, wenn sich die Dino-Aktivisten einer Schar Söldner um ihren Anführer Wheatley (Ted Levine) gegenübersehen, die sich nicht um das Wohl der Echsen scheren, sondern ihren Gehaltscheck. Der Kommerz steht über allem – sogar über dem Überleben unserer Helden.

Ein Thema, das Colin Trevorrow und Derek Connolly – die beide erneut das Drehbuch schrieben – schon in Jurassic World faszinierte. Obwohl der Dino-Park finanziell ertragreich war, verkam die Genese des Indominus Rex da primär zum Wirtschaftsfaktor. Weshalb es irritieren muss, dass Jurassic World trotz allem auf Isla Nublar gebaut wurde, obwohl dort ein aktiver Vulkan brodelt. Wäre der Park nicht am Ende des letzten Films geschlossen worden, wäre er nun sowieso dahin – und müsste woanders komplett neu gebaut werden. So hätte man vielleicht rückwirkend die Erschaffung des Indominus Rex erklärt – als finanzielle Rechtfertigung für kommende rote Zahlen. Sei es drum, der liebe Schotter bestimmt die zweite Filmhälfte.

Trevorrow, Connolly und Bayona verlagern das Geschehen von draußen nach drinnen, wenn die geretteten Dinosaurier in einer illegalen Auktion an die meistbietenden Oligarchen, Waffenhändler und Co. verscherbelt werden sollen. Reine Geldmacherei, ätzt in einer Szene Claire – kriegt aber von dem Antagonisten des Films postwendend den Spiegel vorgehalten. Jurassic World: Fallen Kingdom folgt hier dem Denkansatz der Privatisierung, die Vincent D’Onofrio im Vorgänger angestoßen hat. Bleibt jedoch vage. Fraglich, was jemand mit einem Stegosaurus mit achtstelligem Preisschild anfangen will. Genauso wie die angedeutete Dino-Kriegsführung nur Sinn ergibt, wenn die Käufer per Gen-Splicing danach selbst zu Dr. Frankenstein mutieren.

Allzu viel hinterfragen sollten Zuschauer ohnehin nicht in Fallen Kingdom. Warum vor Lava fliehende Dinosaurier plötzlich Menschen angreifen, statt ihrem Überlebensinstinkt zu folgen? Wenn es nur um das Retten einiger Dinos geht, anstatt aller Tiere, könnte man es doch bei den Exemplaren auf Isla Sorna belassen? Wieso soll Raptor Blue auf einmal eine Empathie-Prinzessin sein, nachdem sie im letzten Teil genauso rücksichtslos wie ihre Artgenossen mordete? Hinzu kommen verschiedene als Twist verkaufte Offenbarungen in der zweiten Hälfte, die keinerlei wirkliche Relevanz für die Story des Films besitzen. Eher weitere Fragen nach sich ziehen, am Ende aber wie das Gros des Rests ohnehin in der Belanglosigkeit versinken.

Die Handlung des Films ist im Grunde nicht mehr als eine Entschuldigung, ein CGI-Action-Set-Piece an das nächste zu reihen. Teils in einer derartigen Frequenz, dass es nah am Overkill ist, wenn Bayona zwischen zwei dramatische Momente kurzerhand noch einen dritten quetscht. Zur selben Zeit ist der Regisseur immerzu bemüht, visuelle Referenzen zum 1993er Original einzubauen. War dies in Jurassic World bisweilen noch nostalgisch, wirkt es hier mehr und mehr ermüdend. Angefangen vom röhrenden T-Rex in Snapchat-Gedächtnispose – ein Motiv, so ikonisch, dass es Fallen Kingdom gleich vier Mal abspult. Dass Bayona zudem ein enormer Fan der Raptoren-Küche-Szene aus dem Original ist, zeigt er in gleich mehreren Einstellungen.

Trotz alledem gelingt es dem Film, einige überzeugende Momente zu kreieren – selbst inmitten seines Hommage-Wusts. Wenn der T-Rex während eines Angriffs zwischen der Dunkelheit und Scheinwerferlicht wandelt, verstärkt dies nochmals die Bedrohlichkeit der Echsenkönigin. Und auch das Geisterhaus-Stalking des neu erschaffenen Indorapters im Schlussakt inszeniert Bayona bisweilen geschickt im Mondlicht. Beinahe gelingt es dem Film gar, den Zuschauer zu berühren, wenn ein Dino langsam zur Silhouette in einer Lavawolke verkommt. Rar gesäte Einstellungen in einem zwar unterhaltsamen, aber nicht wirklich erinnerungswürdigen Film. Dafür hapert es zu sehr an einer durchdachten Handlung oder sympathischen Figuren.

Diese bleiben größtenteils eindimensionale Karikaturen – einschließlich der Charaktere, die wir bereits aus dem letzten Teil kennen. So zehrt Chris Pratt von seinem natürlichen Charisma, das die klischeebehaftete Macho-Figur aber nicht ausreichend füllt. Völlig frei von Chemie sind dabei all jene Szenen, in denen der Film die romantische Flamme zwischen Owen und Claire wieder entfachen will. Rafe Spall macht wenig aus seinem gelackten Assistenten, Ted Levine ist seinerseits ein lebloser Arschloch-Hybrid aus Vincent D’Onofrios und Pete Postlethwaites Vorgänger-Figuren. Justice Smith mimt den verängstigten Comic-Relief-Nerd und Daniella Pineda gibt eine vorlaute Paläo-Veterinärin, die ursprünglich wohl homosexuell sein durfte.

Wenn einem die Handlung und Figuren schon nichts bieten, dann muss es eben der aus dem Rechner stammende CGI-Bombast tun. So ähnlich mag man sich das bei Universal gedacht haben. Dass dabei für Nahaufnahmen tatsächlich Animatronics eingesetzt wurden, geht im VFX-Wust fast unter. Die Action ist nur leidlich spannend, ihr Ausgang vorhersehbar. Sterben dürfen im Blockbuster-Kino der Gegenwart eh nur noch die Bösen, wieso da Zeit aufgewandt wird, um einen von Lava umströmten, gelähmten Chris Pratt zu zeigen, bleibt offen. Zumal inzwischen Gang und Gäbe ist, Sequels vorab bereits anzukündigen (Trevorrow kommt nach seiner Star Wars-Entlassung wieder selbst zum Zug), und Filme in Gänze in Trailern zu spoilern.

Selbst nach 25 Jahren können sich die meisten Effekte aus Jurassic Park behaupten – auch, weil die Dinos spärlich auftauchten. Wenn in Jurassic World: Fallen Kingdom eine digitale Herde von ihnen vor digitaler Lava flieht, bleibt das Illusion. Selbst wenn Bayona im Finale versteht, dass nicht gleich eine ganze Insel in die Luft fliegen muss, zieht sich die Klimax doch zu sehr. Der Film verkommt zwar nie zum Ärgernis – ungeachtet der Logikfehler und uninteressanten Figuren. Gute Unterhaltung sieht aber anders aus. Am Ende bleibt so Durchschnitt, dessen lebloses Skelett wohl wie hier im Falle des Indominus Rex in der Auftaktszene herhalten wird für ein neues (Film-)Exemplar. Das Franchise scheint noch nicht vom Aussterben bedroht.

5/10

15. Juni 2018

Filmjahresrückblick 1983: Die Top Ten

I live in cinema. I feel I’ve lived here forever.
(Agnès Varda)

1983 – das Jahr in dem ich Kontakt aufnahm. Dieses Wochenende ist praktisch die Hälfte meines Lebens – zumindest dem der voraussichtlich besten Gesundheit – vorbei, da mein 35. Geburtstag ansteht. Grund genug, einmal zurückzublicken auf eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war: die Achtziger. Genauer gesagt eben 1983, mein Geburtsjahr. War früher (wirklich) alles besser? Allen voran natürlich die Filme? Oder verklärt die Nostalgie doch einiges? Wir werden es erfahren, hier und jetzt in meinem Filmjahresrückblick zu 1983. Wer hier öfters (sprich: die letzten elf Jahre) vorbeischaut, kennt meinen traditionellen Jahresrückblick. Dieser wird in diesem Fall etwas anders, zumindest reduzierter, ausfallen als üblich.

Logischerweise standen vor 35 Jahren noch keine Kinobesuche oder Filmsichtungen an. Zumindest keine bewusst wahrgenommenen (vielleicht lief ja mal beim Stillen ein Film nebenher). Die 1980er Jahre waren zudem noch eine Zeit, in der die wöchentlichen Filmstarts überschaubar blieben. Keine acht bis zehn konkurrierenden Filme unterschiedlicher Qualität – oder anders gesagt: Weniger Filme in der Summe, die sich eine Sichtung verdient hätten. Entsprechend knapp fällt auch die Liste jener Werke aus, die mir aus dem Jahr 1983 bekannt sind. „Lediglich“ 47 Filme habe ich gesehen – für 1983 nicht so wenige und doch so viele wie ich teils bereits allein im Dezember schaue, auf der Suche nach letzten Filmperlen des Jahres.

Alle diese 47 Sichtungen entfallen somit auf das Heimkino, seiner Zeit noch primär VHS oder Fernsehausstrahlungen. Wobei ich die vergangenen Monate hinweg 20 Filme – und damit fast die Hälfte – eigens nachgeholt habe. Dennoch setzt sich die Top Ten nahezu ausschließlich aus Werken zusammen, die ich bereits kannte – verpasst habe ich somit all die Jahre über nicht viel. Meinungen haben sich verfestigt, nicht zuletzt durch etwaige Mehrfachsichtungen. Den Test der Zeit überstanden hat da auch der Star-Wars-Trilogieabschluss The Return of the Jedi, wohl der Film schlechthin für das Jahr 1983. Bei den Nutzern der Internet Movie Database (IMDb) stellt er mit einer Wertung von 8.3/10 den beliebtesten Film aus 1983 dar.

Ebenso hoch bewerteten die User mit 8.3/10 – aber weniger Abstimmungen – Oliver Stones Remake Scarface, das in Deutschland aber erst im März 1984 anlief. International ist der Dritte im Bund, liegt Ingmar Bergmans Fanny och Alexander in Relation zu den Stimmzahlen mit einer Wertung von 8.1/10 auf Rang 3. Finanziell konnten aber weder das schwedische Drama noch Stones Kultfilm mit den Jedi-Rittern mithalten, avancierte The Return of the Jedi in 1983 zum weltweit erfolgreichsten Film des Jahres. Gar nicht einmal so weit dahinter – und als einziger anderer Film mit einem Einspiel über 200 Millionen Dollar – markierte wiederum Adrian Lynes Flashdance trotz schlechter Kritiken den zweiterfolgreichsten Film des Jahres weltweit.

Weniger ungewöhnlich: Das damalige James-Bond-Abenteuer Octopussy verdiente sich Bronze – und setzte sich damit zugleich gegen den zweiten James-Bond-Film aus 1983, Never Say Never Again mit Ur-007 Sean Connery, durch. Jener „inoffzielle“ Bond startete erst im Januar 1984 in deutschen Kinos, vermochte dort aber ebenfalls nicht die Besucherzahlen des Roger-Moore-Vertreters vom Vorjahr zu erreichen. Zwischen die beiden Bond-Filme schob sich noch Sydney Pollacks Travestie-Komödie Tootsie, während Filme wie An Officer and a Gentleman, Gandhi, Staying Alive, First Blood [Rambo] und Terms of Endearment die zehn erfolgreichsten Filme weltweit abschlossen (hier fallen einige Filme aus ´82 und ´83 zusammen).

Startet heutzutage zumindest jeder größere Film international weitestgehend zeitgleich, war dies früher anders. So liefen Tootsie oder First Blood in Amerika bereits Ende 1982 und in Deutschland kamen Terms of Endearment oder Sudden Impact [Dirty Harry IV] erst in 1984 raus. Gleichermaßen stark in Westdeutschland und den USA war jedenfalls die Macht, lockte The Return of the Jedi doch in beiden Ländern die meisten Menschen in die Kinos. Während einige Vertreter der US-Top-Ten wie Mr. Mom oder Risky Business ebenso wie Sudden Impact erst im Verlauf von 1984 bei uns starteten, war dafür das deutsche Interesse an dem TV-Film The Day After (Platz 5) oder auch Carlos Sauras Musical Carmen (Platz 10) überraschend groß.

Mit rund 106 Millionen Zuschauern stellte M*A*S*H’s Serienfinale einen TV-Rekord auf.
Erfolgreich unterwegs waren auch Thomas Gottschalk und Mike Krüger mit Die Supernasen, der etwa 2,7 Millionen Besucher anlockte. Ein Gewinner von 1983 war ebenso Eddie Murphy, der mit Filmen wie 48 Hrs. [Nur 48 Stunden] und Trading Places [Die Glücksritter] den Durchbruch zum Star schaffte. Ebenfalls nicht beklagen dürfte sich Paramount Pictures, die mit Flashdance, Terms of Endearment, Trading Places sowie Staying Alive und An Officer and a Gentleman ordentlich Kasse machten. Von jenem Glanz ist man inzwischen doch etwas entfernt, lebt das Studio quasi primär von Sequels der Transformers- und Mission: Impossible-Franchises. Ein Quoten-Gewinner war damals aber auch die CBS-Fernsehserie M*A*S*H.

Nach elf Jahren fand die TV-Adaption des Robert-Altman-Films ihr Ende, das Serienfinale schauten dabei derart viele Amerikaner an, dass es nur die Super-Bowl-Ausstrahlungen seit 2010 an Hawkeye und Co. vorbeigeschafft haben. Es war nicht die einzige Serie, die sich 1983 vom Bildschirm verabschiedete, auch James L. Brooks’ Taxi sagte nach fünf Jahren „Goodybe“, genauso wie Little House on the Prairie, das neun Jahre auf dem Buckel hatte. Neu startete derweil The A-Team um Hannibal, Face, Murdock und B.A. Baracus – auch mit enormen Quoten-Erfolg. Der verblasste jedoch nach drei Jahren bereits wieder. Länger hielten sich da schon die Mario Bros. von Nintendo, die im Jahr 1983 ihr erstes Arcade-Game eroberten.

Erfahrung hat seither auch Meryl Streep was Oscarnominierungen angeht. 21 Mal ist die gute Frau für ihre Darstellungen bedacht worden – und holte bei ihrer 4. Nominierung 1983 direkt den 2. Oscar. Seltenheitswert hat da auch, dass sich meine Anerkennung der beiden besten Schauspiel-Leistungen des Filmjahres mit denen der Academy deckt. So missglückt Alan J. Pakulas Mix aus Liebes- und Holocaust-Drama in Sophie’s Choice auch ausfiel, so stark war die Darbietung von Meryl Streep darin. Auch Ben Kingsley, der für Gandhi den Oscar erhielt, vereinnahmt ganz seine Rolle und macht sie sich zu Eigen. Ein auffälliger Newcomer (bzw. eine Newcomerin) war Ally Sheedy, die mit WarGames und Bad Boys direkt zwei Filmeinträge erhielt.

Nicht nur sie war 1983 gleich doppelt tätig, lieferte Pakula neben Sophie’s Choice noch den ebenso müden Rollover ab. Auch Sidney Lumet hatte mit The Verdict und Prince of the City kein Glück, finanziell erfolgreicher war da schon John Badham mit WarGames und Blue Thunder [Das Fliegende Auge]. Und obschon ich jedes Jahr lamentiere, die Qualität der Filme nimmt ab, zeigt 1983, dass damals ebenfalls nicht jedes Werk ein Knaller war. Eher gab sich der Durchschnitt die Klinke in die Hand. Sodass vielleicht weniger die Filmqualität abnimmt als dass ich im Alter zu anspruchsvoll werde. Natürlich gibt es dennoch wie jeher im Jahresrückblick mit meiner persönlichen Top Ten eine Vorstellung der zehn besten Filme – diesmal rückblickend aus 1983:


10. Koyaanisqatsi (Godfrey Reggio, USA 1982): Eindringlicher als die – meist in Zeitraffer gefilmten – Bilder gerät Philip Glass’ hypnotischer Soundtrack, der Godfrey Reggios Koyaanisqatsi begleitet. Die intendierte Botschaft des unruhigen Lebens – so die Hopi-Übersetzung des Titels – und der Auswirkungen der menschlichen Zivilisation auf die Natur vermag ich selbst in den wahllos zusammengeschnittenen Bildern eher weniger zu erkennen, audiovisuell einnehmend ist dieser Experimentalfilm aber dennoch allemal.

9. Sasame-yuki (Ichikawa Kon, J 1983): Von einem Generationenkonflikt und unterschiedlichen Lebensentwürfen handelt Ichikawa Kons Adaption Sasame-yuki über vier verwaiste Schwestern und Erbinnen eines Kimono-Imperiums. Speziell die jüngeren Beiden sehen sich gefangen in konservativen Erwartungen, denen das eigene Lebensglück zu Lasten fällt. Angetrieben von der Suche nach einem Gatten für die Drittälteste Yukiko inszeniert Ichikawa-san seinen Film dabei mit viel Gespür für Humor und Mise en Scène.

8. The Return of the Jedi (Richard Marquand, USA 1983): Die Rettung Han Solos im ersten Akt gerät derart unterhaltsam, dass die narrativen Löcher kaum als Störfaktor auffallen. Es folgt ein dem Merchandise geschuldeter langer Ausflug in die Welt der Ewoks, ehe Richard Marquand in The Return of the Jedi das Finale von Star Wars nochmals nacherzählt. Die Verlagerung auf drei Handlungsebenen gelingt da nur bedingt, der atmosphärische Konflikt zwischen den Skywalkers und dem Emperor tröstet aber über viel hinweg.

7. Pauline à la plage (Éric Rohmer, F 1983): Kaum eine Nation befasst sich vermutlich so geschickt mit den Leiden der Liebe(enden) wie Frankreich. Éric Rohmer berichtet in Pauline à la plage von den unglücklichen Romanzen zweier Cousinen während eines Sommerurlaubs in der Normandie. Getragen wird die fast episodenhafte Geschichte von der bezaubernden Newcomerin Amanda Langlet, deren eigenes Leben plötzlich zum emotionalen Spielball in der Dreiecksbeziehung ihrer Cousine zu zwei Männern verkommt.

6. An Officer and a Gentleman (Taylor Hackford, USA 1982): Oberflächlich betrachtet erzählt Taylor Hackford von der turbulenten Romanze und Ausbildung eines eigenbrötlerischen Marine-Offiziers. An Officer and a Gentleman ist dabei weniger Liebesschnulze als ein Film über Verlassenheit, Sinnsuche und Zugehörigkeit einer Gruppe Mittzwanziger, die Angst haben, so zu enden wie ihre Eltern. Es geht um die Emanzipation des Rollenbilds der Vorgänger-Generation, um Selbstverwirklichung – und um Romantik, okay.

5. Trading Places (John Landis, USA 1983): Kleider machen Leute und Geld auch nicht glücklich wie Dan Aykroyd und Eddie Murphy in vertauschten Rollen inmitten eines sozialen Experiments erleben. Die Auswirkungen dieses Tauschs sind in Trading Places sicher etwas überspitzt, so wie Jamie Lee Curtis und der wunderbare Denholm Elliott unterbeschäftigt. Unterhaltsam ist das Ergebnis aber allemal, auch wenn der Schlussakt mit dem großen Börsencoup und seinem Vorgeplänkel im Zug eher uninteressant ausfällt.

4. First Blood (Ted Kotcheff, USA 1982): Seinen Platz in der Welt sucht auch John J. Rambo in Ted Kotcheffs First Blood. Der Film behandelt im Kern den Kampf eines Soldaten gegen seine Kriegsdämonen sowie den der zivilen Gesellschaft gegen den Dämon Krieg. Geschickt führt Kotcheff die Survival-Action-Elemente mit subtiler Kritik an der Post-Vietnam-Kultur der USA zusammen. Der ach so starke Held wird demaskiert als ein Geplagter und Verstoßener. Als verlorener Sohn, den man nicht heimkehren lassen will.

3. 48 Hrs. (Walter Hill, USA 1982): Grundsolide ist kein überschwängliches Lob per se, im Fall von Walter Hills Buddy-Cop-Film 48 Hrs. dann aber doch. Dieser speist sich somit zuvorderst aus der Beziehung zwischen seinen beiden charismatischen Hauptdarstellern, die er geschickt in einer eher simplen Handlung agieren lässt. Diese ordnet sich ohne viel Tamtam dabei den Figuren unter, was Eddie Murphy seiner Zeit zum Hollywood-Durchbruch verhalf. Heimlicher Star ist aber fast eher James Horners jazziger Score.

2. Gandhi (Richard Attenborough, UK/IND/USA 1982): Richard Attenboroughs Passions-Projekt erzählt wenig über den Menschen Gandhi und widmet sich primär der politischen Person. Das Ergebnis ist anstelle eines Biopics mehr ein „Best of“ von Gandhis Bemühen um Indiens Selbstverwaltung. Naturgemäß etwas zu hagiografisch bietet Gandhi aber einen guten Einblick in das Schaffen und die Philosophie seiner Figur. Hierbei funktioniert der Film vor allem dank Ben Kingsley, der mit seiner legendärsten Rolle verschmilzt.

1. The Meaning of Life (Terry Jones, UK 1983): Nach ihren beiden – thematisch stringenteren – Filmen kehrten die Pythons für The Meaning of Life wieder zu ihrem Sketch-Format des Flying Circus zurück. Die einzelnen Segmente hängen nicht wirklich miteinander zusammen, dennoch gelingt es der Truppe, nuanciert und pointiert das Leben und seine vielen Facetten zu persiflieren (z.B. in den Kapiteln “Birth” oder “Live Organ Transplants”). Ein herrlicher Spaß, humorvoll und reflektiert – like Christmas in Heaven.

8. Juni 2018

The Rider

We don’t talk about that.

Oscar Wilde vertrat die Ansicht, dass das Leben öfter die Kunst imitiere als umgekehrt. Und stand damit konträr zu Aristoteles’ Prinzip der Mimesis, in welcher die Kunst im Zuge einer kathartischen Aufarbeitung das Leben nachahmt. Dabei jedoch eine gewisse Distanz wahrt. So gesehen stellt Chloé Zhaos The Rider eine Art Mittelding aus Mimesis und Anti-Mimesis dar, ist der jüngste Film der Regisseurin doch einerseits vom wahren Leben inspiriert, entfernt sich jedoch nicht allzu sehr von den darin vertretenen Darstellern. Die wiederum mögen in dem Werk, das in seiner Form beinahe schon ein Doku-Drama ist, dennoch durchaus eine Katharsis für sich entdecken, indem sie vergangene persönliche Traumata durch den Film verarbeiten.

In The Rider spielt der junge Rodeo-Cowboy Brady Jandreau quasi eine fiktionalisierte Version seiner selbst. Als Brady Blackburn erleidet die Figur vorab im Off bei einem Rodeoabwurf eine schwere Kopfverletzung. Die folgende Genesung wird überschattet von Zweifeln an der möglichen Zukunft im Rodeo-Sport. Brady weist motorische Störungen auf, ist damit aber dennoch besser gestellt als sein Kumpel Lane (Lane Scott). Der ist inzwischen mit schweren Hirnschäden Patient in einer Vorsorge-Rehaklinik, die Brady wiederholt besucht. Zhao suggeriert dabei in ihrem Film, dass der hierfür verantwortliche Unfall ebenfalls dem Rodeo entstammt, während der echte Lane Scott seine Verletzungen bei einem Autocrash erlitten hat.

Für Brady soll Lane als warnendes und potentiell abschreckendes Beispiel fungieren. So schlimm wie dem Freund erging es ihm selbst nicht, und doch droht auch Bradys Kopftrauma, seiner Rodeo-Karriere ein jähes Ende zu bereiten. Über die potentielle Gefahr ihres Hobbys fachsimpeln eingangs der Geschichte auch Bradys Kumpels, als sie ihn eines Abends aus seinem Zuhause ins Freie locken. Von zehn erlittenen Gehirnerschütterungen berichtet da Bradys Kollege Cat (Cat Clifford). “By NFL standards I should be dead”, referiert er die im US-Football seither für viele Fälle von chronisch-traumatischer Enzephalopathie (kurz: CTE) verantwortlich gemachte Kopfverletzung. Dem Risiko zum Trotz üben sie alle weiter den Sport aus.

“You can’t be rodeoing forever, right?”, fragt da später ein Pfandleiher rhetorisch Brady, als dieser im Begriff ist, seinen Sattel zu verpfänden. Hierin findet sich für die Figur – und wohl auch den Darsteller selbst – die Krux des Problems. Was bleibt ihm schon, außer das Rodeo? Brady besitzt weder einen Schulabschluss, noch hat er eine Ausbildung zu Ende gebracht. Zwar verdingt er sich über weite Strecken als zähmender Pferdeflüsterer, doch ist dies nicht die berufliche Zukunft, die er sich erträumt hat. “I’m not gonna end up like you”, wirft er da seinem Vater Wayne (Tim Jandreau) an den Kopf, der mehr schlecht als recht eine Pferdefarm betreibt. “Sometimes dreams aren’t meant to be”, versucht der den Sohn derweil aufzuklären.

Die schwierige Akzeptanz seiner neuen Situation, die im Widerspruch zu seinem vormaligen Status sowie den eigenen Wünschen und Ansprüchen steht, markiert den Kern von Zhaos Geschichte. Diese wirkt oftmals wie eine gekonnte Mischung aus The Horse Whisperer und The Wrestler, wenn die Regisseurin zwischen den ruhigen, empathischen Momenten der Zähmung hinüber zu einem ungelenk im Leben stehenden Brady wechselt. Wie Mickey Rourkes Herzschwacher Wrestler Randy “The Ram” landet Brady letzten Endes als Aushilfe im lokalen Supermarkt. Das einzige, was von seiner vielversprechenden Karriere bleibt, sind hier und da Gedächtnis-Fotos mit jungen Fans und die Erinnerung an vergangene, bessere, schönere Zeiten.

Randy und Brady leb(t)en beide für ihren Sport. Und als ihre Gesundheit droht, ihnen diesen Sport zu nehmen, kann sie im Grunde auch gleich ihr ganzes Leben ergreifen. Beide Figuren widersetzen sich dabei dem ärztlichen Rat und gehen ihrem Hobby wieder nach. Im Fall von Darren Aronofskys Film am Ende vermutlich mit finalen, tödlichen Folgen. In The Rider muss der Rodeo-Cowboy für sich selbst entscheiden, ob sein Leben ohne seinen Sport nichts wert ist oder er ihm auch abseits davon eine Bedeutung zuteilwerden lassen kann. Dabei ist es bemerkenswert, mit welcher Ruhe die Figur ansonsten durch das Leben geht und ihrer Umwelt begegnet. Die sie jedoch angesichts ihrer eigenen neuen Umstände in sich selbst nicht findet.

So behutsam wie Brady mit dem aufreibenden Temperament der Pferde umgeht, so einfühlsam agiert er auch, wenn er sich mit Lane alte (reale) YouTube-Videos aus besseren Zeiten ansieht. Genauso im Umgang mit Lilly (Lilly Jandreau), seiner jüngeren autistischen Schwester. Auch wenn man hier mitunter in den direkten Szenen zwischen den drei Jandreau-Mitgliedern doch recht deutlich dem Film seine Laiendarsteller anmerkt, gelingt es Brady Jandreau ansonsten recht gut, die Zweifel und Ängste sowie Liebe der Figur zu ihrem Sport einzufangen. Insbesondere in den Momenten, wenn Brady und Lane im Krankenhaus aufeinander treffen und sich physisch wie psychologisch dabei im Verlauf mehr und mehr auf Augenhöhe begegnen.

Die sozialen Hintergründe der Badlands und seiner Bewohner, jener Welt in South Dakota, in der The Rider spielt, dröselt Chloé Zhao vielleicht etwas unzureichend auf. Wieso bleibt den jungen Männern hier nur das Rodeo als einziger Ausweg? Derart so, dass sie buchstäblich ihr Leben aufs Spiel setzen? Vielleicht hätte hier ein Einblick oder mehr Präsenz von Cat Clifford den Film noch etwas runder gemacht. Aber auch so stellt The Rider eine gelungene und schön fotografierte Nachahmung des Lebens seiner Darsteller dar. In einer Tragödie, so Aristoteles, gehe es weniger um die Nachahmung von Menschen, als um die einer Handlung und Lebenswirklichkeit. Insofern hat Chloé Zhao die aristotelische Mimesis dann wohl doch sehr gut getroffen.

7/10

1. Juni 2018

Visages Villages [Augenblicke: Gesichter eine Reise]

Art is meant to surprise us, right?

Kunst bewegt – im Fall von Visages Villages nicht nur ihre Betrachter, sondern auch ihre Erschaffer. Die französische Filmemacherin Agnès Varda und der französische Streetart-Wandmaler JR machen sich in ihrer Dokumentation, die in Deutschland unter dem – zwar treffenden, aber wenig poetischen – Namen Augenblicke: Gesichter einer Reise erscheint, auf eine Reise durch das ländliche Frankreich. An verschiedenen Stationen platziert JR immer wieder seine auf Fotografien basierenden riesigen Wandtapeten, während Varda die Geschichte hinter den Motiven dokumentiert. Genauso wie ihre sich entwickelnde Freundschaft zu JR. Die inzwischen 90-Jährige und der Mann, der ihr Enkel sein könnte, verbindet mehr als nur die Kunst.

JR hat ein Faible für ältere Menschen, schätzt Varda später, ehe sich beide aufmachen, die 100 Jahre alte Großmutter des Künstlers zu besuchen. Mit seiner Sonnenbrille, die stets seine Augen verdeckt, erinnere er sie an ihren Freund und Kollegen Jean-Luc Godard, merkt Varda mehrmals an. Und ärgert sich verstärkt, warum JR ihre diesen finalen Einblick in seine Seele verwehrt, wo doch ihre Bindung aneinander immer stärker wird. Im Austausch miteinander merkt man dabei Visages Villages seine Inszenierung an, gerade in den Momenten, wenn sich die alte Frau mitunter vergisst, ob der Erregung hinsichtlich des Verhaltens des Jüngeren. In diesen Momenten verlässt der Film die Pfade der beobachten Dokumentation und wirkt gestellt.

Weitaus faszinierender als die Begegnung zwischen Agnès Varda und JR ist ohnehin die der beiden Künstler auf ihrer Reise mit der normalen Bevölkerung und deren Alltag. Wenn die Tochter eines alten Minenarbeiters berichtet, wie sich ihr Vater früher eine Stulle mit unter Tage genommen hat, oder sich ein Postbote erinnert, wie ihm früher auf seiner Tour die Leute von ihrer Farm Gemüse und Obst zugesteckt haben, liefert Visages Villages interessante und vor allem menschliche Einblicke in die ländlichen Regionen Frankreichs. Varda und JR erzählen von Schichtarbeitern, die ihre Kollegen nur zum Arbeitswechsel sehen, und von Ziegen, denen die Hörner abgebrannt werden, damit sie sich bei ihrer Rauferei nicht verletzen können.

In diesen zwischenmenschlichen Momenten liegt die Stärke des Films, mit der Varda auf ihre eigene Weise die Schönheit des Augenblicks einfängt, während JR den Beteiligten eher mit seinen Bildplakaten ans Herz greift. So avanciert die Fotografie einer Kellnerin in einem kleinen Ort praktisch derart selbst zur Attraktion, dass die zweifache Mutter immerzu Selfies mit Touristen über sich ergehen lassen muss. Eher persönlich bewegend gerät derweil, wenn Varda an einem Küstenort aus ihrer Vergangenheit einem ehemaligen Weggefährten Tribut zollt. Generell sind die Einblicke der 90-Jährigen in ihre Biografie dabei intensiver als die des 35-Jährigen, der ähnlich einem Kollegen wie Banksy ein gewisses Mysterium um sich aufbaut.

Auf gewisse Art erinnert Visages Villages an Lucy Walkers Film Waste Land. Auch dort diente die künstlerische Abbildung von Menschen, denen man im Alltag wenig Beachtung schenkt, dazu, deren Persönlichkeiten Raum zur Entfaltung zu bieten. Der fiel bei Walker etwas größer aus als hier bei Varda der Fall, da diese sich selbst als Künstlerin gemeinsam mit JR zum einen mehr in den Vordergrund stellt und zum anderen von Ort zu Ort und damit von Person zu Person springt. Was all diese Segmente eint, ist ein Gefühl der Verlassenheit – sei es der zerstörte Bunker an einem Strand der Normandie, eine unvollendete Dorfsiedlung oder die Tochter des Minenarbeiters, die sich als einzige in ihrem Viertel weigert, für einen Neubau umzuziehen.

Das Ergebnis hätte man sich auch gut als Mini-Serie vorstellen können, wie sie heute inflationär auf den Streaming-Plattformen landen. Zum Beispiel als 10-teilige Serie à 25 Minuten, die auch die Vorbereitung von JRs Team, die Schwierigkeiten der Umsetzung und den Prozess selbst beleuchten würde. Hier hätten die Objekte im Fokus gestanden, der immerhin kurzweilige Film dagegen nutzt lieber die etwas gekünstelt wirkende Beziehung der beiden Personen als roten Faden. Nur widmet er sich dieser auch nie ausführlich, sondern eher sporadisch. Kulminierend in einem aufgesetzt wirkenden Finale, das eher die Augen rollen lässt, als so ergreifend zu geraten, wie von den Machern erhofft. Ein netter Ausflug ist Visages Villages aber allemal.

6.5/10