14. November 2008

Novemberkind

Sie hätte glücklich Hundert werden können. Dafür ist es zu spät.

„Schon wieder ein Ost-Film? Muss das sein?“, paraphrasiert Regisseur Christian Schwochow das, was viele Kinogänger beim ersten Blick auf seinen Film Novemberkind wohl denken. Gemeinsam mit seiner Hauptdarstellerin Anna Maria Mühe hatte sich Filmschulabsolvent Schwochow auf den Weg nach Bremen gemacht, um an einer Vorpremiere seines Abschlussfilmes der Ludwigsburger Filmakademie teilzunehmen. Das Engagement der Bremer Kinobesitzer, sich die Anwesenheit der Regisseure zu sichern (s. Mein Freund aus Faro) ist bemerkenswert. Neben Regisseur Schwochow reichten auch Produzent Matthias Adler und Kameramann Frank Lamm den 90-minütigen Beitrag als Diplomfilm ein. Ähnlich wie Mein Freund aus Faro war Novemberkind - während der Produktionsphase: „Novemberlicht“ - beim diesjährigen Filmfestival Max Ophüls Preis vertreten und wurde mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.

Letztlich lässt sich sagen, dass dies durchaus gerechtfertigt ist. Zudem gelang es Adler mit Schauspielern wie Anna Maria Mühe (Was nützt die Liebe in Gedanken), Juliane Köhler (Nirgendwo in Afrika) und Ulrich Matthes (gab den Goebbels in Der Untergang) etablierte deutsche Schauspieler zu gewinnen und somit seinem Film zusätzlich Professionalität zu verleihen. Das Drehbuch, welches Schwochow gemeinsam mit seiner Mutter Heide verfasst hat, basiert dabei teilweise auf eigenen Erfahrungen. Entgegen der Befürchtung einiger Zuschauer, gehört Novemberkind aber nicht zu jenen monopolartigen deutschen Filmen, die sich ausschließlich mit Nationalsozialismus oder DDR auseinander setzen können. Vielmehr ist es erfrischender Coming-of-Age-Film über eine junge Frau ohne Identität.

Die Bibliothekarin Inga (Anna Maria Mühe) lebt in einem kleinen mecklenburgischen Dorf. Ihrem Vater ist sie nie begegnet und vermutet: „Wahrscheinlich war er Mutter zu peinlich“. Mutter Anne sei den Großeltern zufolge wiederum bei einem Badeurlaub ums Leben gekommen. Doch eine Waise ist Inga dem eigenen Verständnis nach nicht. „Ich habe Eltern. Die heißen Oma und Opa“, erklärt sie bestimmt. Ihre Idylle beginnt zu bröckeln, als ihre beste Freundin Steffi (Christina Drechsler) wegzieht und Inga fortan auf sich alleine gestellt in ihrem Alltag gefangen scheint. Da ihr Großvater (Hermann Beyer) bettlägerig wird und sich seine Frau (Christine Schorn) nicht mehr allein um ihn kümmern kann, ist Ingas Rückzug ins „elterliche“ Haus mehr als wahrscheinlich. Aus den Fugen gerät ihr Leben endgültig, als sie der ihr fremde Robert (Ulrich Matthes) aufsucht. Doch die scheinbar zufällige Bekanntschaft hat tiefer greifende Ursachen.

Robert erzählt Inga, er sei Literaturprofessor in Konstanz. Vor zwanzig Jahren wäre eine aus Ostdeutschland stammende Studentin namens Anne bei ihm gewesen, die es sich nie verziehen hat, ihr Kind im Osten gelassen zu haben. Allmählich erschließt sich Inga ihre Kindheit und die betrübende Wahrheit um ihre Mutter. Aus Liebe zu einem sowjetischen Deserteur war sie einst über die Grenze geflohen. Roberts Offenbarung bringt Inga nachvollziehbar durcheinander. Von einer Waise unglücklicher Umstände wird sie auf einmal zum sozialen Pflegefall. Zum verstoßenen Kind. „Sie hätte glücklich Hundert werden können“, urteilt Robert im Laufe des Filmes. Und während Inga sich gemeinsam mit Robert auf die Spurensuche nach ihrer Mutter begibt, verfolgt der Literaturprofessor eigene Ziele.

Schwochows Entscheidung, sowohl Mutter Anne als auch Tochter Inga von Darstellerin Anna Maria Mühe spielen zu lassen (selbst wenn sich beide Figuren im selben Alter befinden), wirkt durch die Untermauerung des Regisseurs, sein Publikum nicht verwirren zu wollen, wenig glaubwürdig. Mühe tut sich auch sichtlich schwer, in die Rolle der Anne zu schlüpfen, was mitunter daran liegen kann, dass jene Figur wenig Dreidimensionalität und Aufmerksamkeit erfährt. Dennoch erfüllt die Doppelbesetzung zumindest innerhalb der Geschichte ihren Zweck, wenn Annes Weggefährten Inga begegnen und ihre Mutter in ihr wieder erkennen. Ohnehin sind es die Rückblenden, die den Film als Independent-Projekt „bloßstellen“, wenn Lamm mittels Farbfiltern versucht, das Flair der 1980er wiederzubeleben.

Dass dies gelingt, verdankt sich letztlich eher der musikalischen Untermalung von Daniel Sus. Stets zum richtigen Zeitpunkt setzt seine Komposition ein und verleiht dem Film dabei über weite Strecken gar eine eigene narrative Kraft. Da sich neben Mühe auch Ilja Pletner in der Rolle des jungen Deserteurs schwer tut, sind die DDR-Rückblenden fraglos der Schwachpunkt von Schwochows Diplomfilm. Es ist jedoch jener Anfängerstatus, der den Zuschauer gegenüber dieser Makel etwas gnädig stimmen lässt. Bedenkt man seine Mittel und die Erfahrung seiner jungen Macher, ist Novemberkind durchaus ein sehr gelungener Film, der sich gegenüber Eichinger-Produktionen nicht zu verstecken braucht.

Gerade durch die schwächeren Rückblenden zeigt sich die Stärke der Gegenwartspassage. Mühe beeindruckt in der Rolle der Inga, der plötzlich ihre Identität geraubt wird. Die junge Schauspielerin zeigt hier durchgängig, weshalb sich Schwochow noch vor Beenden der finalen Drehbuchfassung auf sie als Inga festgelegt hat. Aus der Masse an durchschnittlichen deutschen Filmen hebt sich Novemberkind nun gerade deswegen empor, da seine Geschichte einen sympathischen, anti-deutschen Charakter besitzt. Schwochow erschafft eine Selbstfindungsgeschichte von internationaler Stärke, ganz ohne den Beigeschmack üblicher deutscher Filme. Dass die Handlung im Nachhinein weniger verschachtelt ist, wie sie hätte sein müssen, stört da kaum noch.

Bei seinem Debüt verzeiht man Schwochow, dass er einige Figuren einführt, die keinen Zweck erfüllen und andere dafür aus dem Blickfeld verliert, die noch etwas hätten beitragen können. Seine Bemühungen jene Geschichte auf eine durchaus authentische und ehrliche Art und Weise zu präsentieren, lassen viel erhoffen vom geborenen Ostdeutschen. Novemberkind stellt die „Frage nach dem richtigen Leben im Falschen. Und diese Frage ist nicht an die DDR und ihr Danach gebunden“, erläuterte Schwochow in Bremen. „Deshalb ist Novemberkind kein Ostfilm geworden“. Denn selbst wenn die DDR ein Teil des Filmes ist, behandelt der Film nicht die DDR. Novemberkind ist damit einer der besten deutschen Filme 2008 und von Schwochow werden wir sicher noch hören.

8/10

5 Kommentare:

  1. 8/10? Deutscher Film? Dann wird der wohl bei mir nen 10/10er ;-)

    Danke für das Review, den Film werde ich definitiv mal auschecken.

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  2. Bei deutschen Filmen liegen wir wohl noch weniger auf einer Linie als ohnehin schon.

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  3. Uns bleibt ja immer noch Burton...ach nee, du sagst ja ich missverstehe ihn total. Dann haben wir eben Dawson's Creek...obwohl, da sind wir ja auch nicht wirklich d'accord. Ach, wir sind halt wie Feuer und Wasser, wir zwei.

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  4. In der Tat, überraschend hohe Bewertung. Mal sehen ob ich es ins Kino schaffe, deine Review hat auf jeden Fall neugierig gemacht.

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  5. [...]von dem geborenen Ostdeutschen[...]



    Die Formulierung lässt tief blicken... xD

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