30. März 2018

Mom and Dad

There are children dying, and you’re talking about pigs.

Kinder sind der Anfang vom Ende. Wer ein Kind hat, sagt gleichzeitig seinem alten Leben und seiner Freiheit „adieu“. Fortan dreht sich das eigene Dasein nur noch um Wohl und Wunsch des Sprösslings. Mal spontan wegfahren am Wochenende, abends ins Kino oder auf eine Party zu Freunden – ohne Babysitter können Eltern das vergessen. “They’re noisy, they’re messy, they’re expensive… they smell”, wusste bereits Dr. Alan Grant (Sam Neill) in Jurassic Park – seines Zeichens Wissenschaftler. Kurzum: Kinder kosten viel Geld und Zeit und liefern wenig Ertrag. Kein Wunder also, dass man den kleinen Satansbraten mitunter an die Gurgel will, was gleichzeitig die Prämisse von Brian Taylors netter Horror-Komödie Mom and Dad ist.

Aus heiterem Himmel fangen Eltern darin an, ihrem eigenen Nachwuchs nach dem Leben zu trachten. So auch Brent (Nicolas Cage) und Kendall (Selma Blair), die eigentlich ein semi-beschauliches Idyll mit ihren Kindern Carly (Anne Winters) und Josh (Zackary Arthur) führen. “We do forgiveness. We do family. We do love”, prangert da in Motivations-Blabla an der Wohnzimmer-Wand. Doch der Schein trügt, zumindest bei Carly, der Ältesten. Pubertierend im Teenager-Alter ist sie eine Göre par excellence, Wutanfälle folgen auf Taschendiebstähle, Großeltern-Besuche müssen Dates weichen. “I don’t know about your little angels, mine steals from me every chance she gets”, ätzt Kendall wohlwissend gegenüber einer anderen Mutter.

“We used to be best friends, remember?”, erinnert Kendall ihre Tochter während der morgendlichen Autofahrt zur Schule. Aus dem anhänglichen Kind von gestern, dessen Leben sich um seine Eltern drehte, ist die nervige Schulhof-Zicke von heute geworden. Mit den Eltern will man am liebsten nur noch verkehren, wenn diese einem etwas Materielles/Finanzielles übergeben. Ansonsten sollen sie einen bloß in Ruhe lassen. Und dafür haben die Eltern ihre eigene soziale Freiheit aufgegeben. “I was gonna grab the world by the balls and squeeze it”, erinnert sich Brent an eine Zeit zurück, als er noch Träume hatte. Ehe diese von seinen Kindern zerstört wurden. Zu seinem letzten Ausweg avanciert die Idee eines Billardtisches im Hobbykeller.

Dabei zeichnet Mom and Dad durchaus ein ambivalentes Bild der Eltern-Kind-Beziehung, wenn wir Brent zuvor im Wohnzimmer mit seinem Sohn tollen sehen. Wo am Vater die Abhängigkeit seiner Kinder zehrt, ist es gerade deren steigende Emanzipation, die Kendall zu schaffen macht. “They need you less and less”, realisiert sie, dass jene Menschen, für die sie ihr eigenes Leben aufgegeben hat, nun sie selbst in deren Kosmos immer weniger sehen wollen. “Maybe there needs to be a fucking grown-up zone”, reklamiert Brent deshalb eine Emanzipation vom eigenen Nachwuchs. Weniger „füreinander“ leben als „miteinander“. Sie lieben sie ja schon, vertrauen die Eltern in einer Szene ihren Kindern an. Aber manchmal…

Brian Taylor gelingt es dabei in wenigen Szenen relativ viel über die Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung zu sagen (das Szenario ließe sich im Grunde auch auf das Verhältnis Gott-Mensch deuten). Geschickt streut er solche authentischen Momente ein, in seinen sonst natürlich extrem überdrehten “family slasher”, der den Kindesmord ins Absurde überspitzt. Ein Konzept, wie gemalt für Nicolas Cage, einen der letzten darstellerischen Irrwische des Kinos. Wie ein von der Leine gelassener tollwütiger Hund dreht der Schauspieler das Nic-Cage-Level auf 11 – lässt aber mitunter dadurch eher leise Sehnsüchte nach einem Kollegen wie John Cusack wach werden. Genauso wie auch Maura Tierney vielleicht eher Selma Blair ersetzt hätte.

Mom and Dad ist eine schräge Metapher über Eltern und ihre Kinder, die nicht erläutert, woher die plötzliche Mordlust der Erwachsenen stammt, da dies nicht relevant ist. Das Ergebnis ist kurzweilig und aufgrund der Prämisse unterhaltsam, obschon natürlich mit etwas mehr Nuancen hier noch stärker Gesellschaftskritik hätte verwoben werden können. Brian Taylors Film bestärkt vermutlich speziell kinderlose Alleinstehende in ihrer Haltung oder wie es eine alte Flamme von Kendall formuliert: “You either die single or you live long enough to see yourself become a cliché.” Insofern ist Mom and Dad vielleicht nicht der ideale Film für einen gemütlichen Familienabend, aber womöglich der ultimative Film darüber, was es bedeutet, Eltern zu sein.

5.5/10

23. März 2018

The Death of Stalin

I should’ve intercepted his fist with my face.

Der Schein kann trügen, gerade im politischen Kosmos. Freund und Feind liegen hier nah beieinander und ein unbedachtes Wort kann weitreichende Konsequenzen haben. Insbesondere dann, wenn an der Spitze des Regierungsapparates ein diktatorischer Tyrann sitzt, mit der Hoheitsgewalt eines mittelalterlichen Königs. Zugleich bietet sich hier Nährboden für reichlich schwarzen, bissigen Humor, weshalb sich Fabian Nury und Thierry Robin vergangenes Jahr in ihrem Comic The Death of Stalin der Endphase des Stalinismus um des Todes von Josef Stalin widmeten. Eine Geschichte, wie gemacht für Armando Iannucci, den schottischen Satiriker und Schöpfer solcher politischer Farcen wie The Thick of It, In the Loop und Veep.

Immer wieder greift Iannucci in The Death of Stalin jenes Klima der Angst auf, das in Zeiten Stalins – hier gespielt von Adrian McLoughlin – in Moskau vorherrschte. So erfährt der Leiter von Radio Moskau (Paddy Considine) gegen Ende eines klassischen Konzertes via einem Anruf, dass Stalin eine Aufnahme des Events wünscht. Nur wurde dieses nicht aufgezeichnet, sodass kurzerhand alle Beteiligten das Konzert von vorne spielen müssen. “Don’t worry, nobody’s going to get killed”, versucht er zwar Orchester und Publikum zu beruhigen, fürchtet jedoch selbst, bei einem möglichen Versagen ins Gulag geschickt oder direkt eliminiert zu werden. Im Russland Anfang der 1950er Jahre kann dies schließlich nahezu jeden treffen.

Darunter zum Beispiel auch Polina, die jüdische Ehefrau des Außenministers Molotow (Michael Palin), der seiner Gattin nach einem jüngsten Treffen mit Stalin bald folgen dürfte. Selbst Georgi Malenkow (Jeffrey Tambor) handelt sich von seinem Staatsoberhaupt einen Rüffel ein, als er sich nach jemand erkundigt, der in Wirklichkeit längst einer von Stalins Säuberungen zum Opfer fiel. “I can’t remember who’s alive and who isn’t”, jammert Malenkow da im engsten Kreis des Zentralkomitees der KPdSU. Und wer mag es ihm verdenken, so fleißig wie sein Chef seine Todeslisten schreibt, als wären es Einkaufszettel oder Hochzeitseinladungen. Kritisch wird es dann für den engen Zirkel des Komitees, als Stalin in der Nacht einen Hirnschlag erleidet.

Was ist zu tun – und von wem? Falsche Entscheidungen können ein ungünstiges Licht auf die betreffende Person lenken. Weshalb Lawrenti Beria (Simon Russell Beale), Leiter des Geheimdienstes NKWD, erstmal keinen Arzt rufen lässt. Nicht zuletzt deshalb, da alle guten Mediziner wenige Monate zuvor Ende 1952 im Zuge einer vermeintlichen Ärzteverschwörung in Straflager geschickt wurden. Für Nikita Chruschtschow (Steve Buscemi), Parteichef der KPdSU, ein geringfügiges Problem. Rettet ein schlechter Arzt das Leben Stalins, war er kein schlechter Arzt. Verstirbt der Patient, kriegt er davon ohnehin nichts mit. Und als letzterer Fall eintritt, beginnt auch schon das machtpolitische Ränkespiel zwischen allen Beteiligten im Kreml.

Auch hier setzt sich der Aspekt des trügenden Scheins fort, wenn speziell Chruschtschow und Beria sich in Position bringen, während Malenkow, nominell als Stalins Stellvertreter dessen Nachfolger, eher unbeholfen wirkt. Es gilt, das politische Gesicht zu wahren, insbesondere auch gegenüber Stalins Kindern Swetlana (Andrea Riseborough) und Wassili (Rupert Friend). Selbst im Nachgang zu Stalins Tod lebt die von ihm ausgelöste Unsicherheit fort, zum einen durch seinen Personenkult und zum anderen durch das Machtvakuum, welches er hinterlässt. Da verkommt auf die Frage nach dem eigenen Alter die Antwort „alt“ noch zur sichersten Option. Wie alt ist zu alt und wie jung ist zu jung, um sich für eine Kugel im Kopf zu qualifizieren?

Mit reichlich schwarzem Humor inszeniert Armando Iannucci die Ausmaße dieser Stalinschen Säuberungen, die oft im Hintergrund stattfinden, während sich im Vordergrund Figuren wie Beria alltäglichen Fragen widmen. Die politischen Personen sind dabei überspitzt dargestellt, von der tölpelhaften Zeichnung solcher Beteiligten wie Beria und Molotow hin zum Super-Macho-Gehabe eines Georgi Schukow (Jason Isaacs), dem militärischen Oberbefehlshaber. The Death of Stalin ist somit keine Geschichtsstunde, obschon natürlich viele wahre Elemente wie Stalins Säuberungen, die Ärzteverschwörung oder das Schicksal der Molotows auf Historie beruhen. Die macht sich Iannucci gekonnt für seine nahezu perfekte Satire zu Nutze.

Immer wieder finden sich herrlich absurde Momente, die auf der Einschüchterung vor dem politischen Apparat, der eigenen Rolle in diesem und den Konsequenzen eines möglichen Scheiterns basieren. Sei es wenn Chruschtschow sich in der Eile den Anzug über den Pyjama anzieht, um ja nicht als Letzter zur nicht einberufenen Sitzung des Komitees zu erscheinen oder wenn Wassili bestrebt ist, einen tragischen Unfall zu kaschieren, für den er letztlich nichts kann, aber nominell doch die Verantwortung trägt. Da halten Charaktere selbst dann an ihren scheinbaren Überzeugungen fest, als dies nicht mehr nötig ist – nur um auf der sicheren Seite zu sein. Mit Ausnahme von Olga Kurylenkos Pianistin, die das Herz auf der Zunge trägt.

Im weitesten Sinne ist The Death of Stalin dabei durchaus ein klassischer Iannucci, wirkt dann aber zumindest von seinen Dialogen her doch etwas weniger vulgär, sondern spitzfindiger als die Dinge, die sich die Figuren in The Thick of It oder Veep an den Kopf werfen. Neben dem bitterbösen Humor lebt der Film wie alle Werke Iannuccis von seinem stets herrlich aufspielenden Ensemble. Sei es ein losgelöster Steve Buscemi, die schrillen Andrea Riseborough und Rupert Friend oder in ihren kurzen Nebenrollen die gegensätzlichen Darstellungen von Paddy Considine und Jason Isaacs. Einzig Olga Kurylenko fällt etwas aus dem Rahmen, da ihre sehr seriöse Figur eher nüchtern daherkommt, statt wie alle ebenfalls dem Wahnsinn zu verfallen.

Wo In the Loop etwas daran scheiterte, eine Art Kino-Adaption des gelungeneren The Thick of It zu sein, reüssiert Armando Iannucci in seiner zweiten Regiearbeit besser. Wüsste man es nicht, man würde nicht einmal ein französisches Comic als Vorlage vermuten, sondern dem Schotten das ganze Lob zuschreiben. Zugleich zeigt The Death of Stalin, wie gut sich auch mit historischen Bezügen der offensichtlichen Art – bereits The Thick of It lehnte sich an realen Ereignissen an – für Iannuccis Schaffen arbeiten lässt. Da lechzt der Zuschauer am Ende des Films fast schon nach einer ähnlichen Adaption für die finalen Tage eines Adolf Hitlers. Das wäre dann der nächste Geniestreich von Iannucci – quasi die nächste historische «farce excellence».

8.5/10

16. März 2018

Thelma

A little knowledge doesn’t make us better than others.

Manche Menschen lernen erst während ihrer Studienzeit, wer sie wirklich sind und wie ihre Persönlichkeit geartet ist. Erstmals weg aus dem behüteten Zuhause können die jungen Erwachsenen sie selbst sein und neue Dinge kennenlernen, die ihnen zuvor verschlossen waren. Während ihres Biologie-Studiums in Oslo lernt die christlich aufgezogene Thelma (Eili Harboe) da vom Alter der Erde und des Universums. Und zeigt sich daraufhin amüsiert über den eher dogmatischen Glauben von christlichen Bekannten daheim. “A little knowledge doesn’t make us better than others”, schilt sie ihr Vater, seines Zeichens Arzt, bei einem Besuch. Vielmehr wird in Joachim Triers Thelma deutlich, dass es besser wäre, die Figur weiß weniger als der Fall ist.

Im Kern handelt es sich bei dem vierten Film des skandinavischen Regisseurs um einen Coming-of-Age-Film, der jedoch auch gewisse Horror-Elemente besitzt. Erstmals auf sich allein gestellt, fällt es Thelma an ihrem neuen Wohnort und im Uni-Leben schwer, Zugang zu anderen Menschen zu finden. Erst als sie in der Bibliothek plötzlich einen vermeintlich epileptischen Anfall erleidet, macht sie die Bekanntschaft ihrer Kommilitonin Anja (Kaya Wilkins). Die beiden jungen Frauen freunden sich kurz darauf an, während gleichzeitig der Kontakt nach Hause zu Thelmas Vater Trond (Henrik Rafaelsen) und Mutter Henni (Ellen Dorrit Petersen) immer loser wird. Was bei den Helikopter-Eltern die Sorge um die Tochter jedoch nur noch bestärkt.

Gerade in seinem ersten Akt erzählt Trier seine Geschichte dabei angenehm bedächtig. In welche Richtung sich Thelma entwickelt, wird erst zur Mitte des Films hin allmählich deutlich. Zuerst wirkt es so, als lerne sich die vom Land stammende, christlich erzogene Thelma an die Großstadtverhältnisse anzupassen. Zögerlich wird da zum ersten Mal Alkohol konsumiert, später machen sich ihre neuen Freunde auf einer Hausparty über die Hauptfigur lustig, als diese sich von einem Joint berauscht fühlt. Zugleich spielt die christliche Erziehung von Thelma keine übergeordnete Rolle für den Handlungsverlauf, wirkt es auch nicht so, als beobachte man einen jungen, von Amischen erzogenen Menschen bei seiner „Rumspringe“-Findungsphase.

Eine der wiederkehrenden Fragen, die sich in Thelma ausmachen lässt, ist die des Verständnisses. So fragt einer von Anjas Freunden Thelma, wie sie ihren Glauben an (einen) Gott erklären kann. Die stellt daraufhin die Gegenfrage, ob er ihr denn erklären könne, wie sein Handy funktioniert. Verstehen, woraus etwas resultiert und wie es sich äußert ist auch ein Anliegen für die junge Frau, wenn es um ihre Krampfanfälle geht, deren Frequenz im Laufe des Films immer stärker ansteigt. Und in welchem Zusammenhang diese mit anderen Gefühlen stehen, die mehr und mehr Raum in Thelmas Bewusstsein einnehmen. Antworten auf diese Fragen gibt der Film dann in seiner zweiten Hälfte, wenn auch eher sporadisch.

Thelma gerät hierbei etwas plakativer und mit intensiverer Bildsprache als Joachim Triers sehr viel ruhigere Vorgänger-Dramen Louder Than Bombs oder Oslo, 31. august. Greift aber durchaus mit den (Selbst-)Zweifeln der jungen Hauptfigur auch Motive aus diesen auf. Gerade wenn der Film in etwas übernatürlichere Bahnen abgleitet und ein gewisses Horror-Mystery-Element einführt, gelingt es ihm, einprägsame Bilder zu erschaffen. Diese stehen dabei nicht nur für sich, sondern repräsentieren zusätzlich noch die aktuelle Gefühlswelt von Thelma. Zum Beispiel wenn sie während einer Aufführung im Osloer Opernhaus sexuell in Wallung gerät und über ihr schwebend der acht Tonnen schwere Kronleuchter zu schwingen beginnt.

Was hinter Thelmas Anfällen steckt und in welchem Zusammenhang diese mit ihrer christlichen Erziehung stehen, dröselt der Film in seiner zweiten Hälfte etwas genauer auf. Ganz lässt sich Trier dabei aber dennoch nicht in seine Karten schauen, offeriert dem Zuschauer Interpretationsspielraum für eigene Deutungen. Thelma hat dabei wenig mit jenen X-Men-Vergleichen gemein, von denen man mitunter liest – außer die übernatürlichen Momente werden als reale Auswüchse gedeutet statt sinnbildlich. Zuvorderst inszeniert Joachim Trier aber seinen neuesten Film eher als eine visuelle Allegorie auf das Erwachsenwerden, in welcher die junge Hauptfigur erfährt, dass etwas Wissen über sich selbst sie wohl doch besser macht als andere Menschen.

6.5/10

9. März 2018

The Florida Project

Hallelujah! Thank you, Lord Jesus!

Man geht durch den Ort und sieht die Ärmsten der Armen, die sich von ihrer Situation nicht das Lächeln vom Gesicht zaubern lassen. So beschrieb Donald Trump Jr. im Februar 2018 auf kontroverse Weise den seines Erachtens sehr löblichen Geist des indischen Volkes. Dabei lassen sich auch die amerikanischen Figuren in Sean Bakers The Florida Project trotz ihres Lebens am Existenzminimum nicht die gute Laune verderben. Nur unweit des Walt Disney World Resorts, Orlando hausen sie in heruntergekommenen Motels als seien es Sozialwohnanlagen. Darunter auch Halley (Bria Vinaite) und ihre 6-jährige Tochter Moonee (Brooklynn Prince), die über die Runden kommen, indem sie Touristen in benachbarten Hotels reduziertes Parfüm andrehen.

The Florida Project widmet sich diesen Menschen am Rande der Gesellschaft. Jenen, die lediglich über begrenzte Möglichkeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten verfügen. Denen es an einer Zukunft mangelt, weshalb es fast zynisch ist, wenn sie ihr Dasein in Motels mit Namen wie “Futureland Inn” fristen. Oder wie Halley und Moonee im purpurnen Magic Castle, das von Manager Bobby (Willem Dafoe) verwaltet wird. Dorthin verschlägt es eines Abends auch ein junges Paar brasilianischer Frischvermählter, die eigentlich in Disney World eine Reservierung im Magic Kingdom geplant hatten, ehe sie ein Missverständnis außerhalb des Resorts verschlug. “I feel bad for her”, zeigt Moonnee mit der jungen Braut, die den Tränen nahe ist, Mitleid.

Es ist eine der wenigen empathischen Szenen für das junge Mädchen, das sonst die meiste Zeit über eher den Schalk im Nacken hat. “You are shit!”, brüllt sie eine Bewohnerin des Motels nebenan zum Beispiel an, nachdem sie mit ihren Freunden zuvor deren Auto bespuckt hat. Oder sie vertreibt sich die Zeit, indem sie tote Fische in der eigenen Pool-Anlage entsorgt. “These are good kids. Most of the time”, bricht Bobby dennoch Moonee und ihren Freunden Scooty (Christopher Rivera) sowie Jancey (Valeria Cotto) eine Lanze. Dass unweit ihres Motels mit dem Disney World ein Kinder-Paradies existiert, scheinen die Kleinen dabei gar nicht mitzukriegen. Und lassen die Peripherie ihrer Motel-Anlage(n) vielmehr zum eigenen Resort geraten.

Auch aufgrund der vorherrschenden Sommerferien-Zeit dürfen Moonee und Co. meist Schalten und Walten wie es ihnen gefällt. “Let her do whatever she wants” ist zugleich Halleys (generelles) Motto, womit sie alles andere als eine Helikopter-Mutter darstellt. Wird die Tochter dann doch mal nach einem Vorfall wie der Auto-Bespuckerei zur Rechenschaft gezogen, geht Moonee auch ihre Bestrafung mit viel Elan und Spaß an. Sie ist somit eine relativ liebenswerte Göre, der man nicht wirklich böse sein kann, weshalb Bobby einen gelungenen Vertreter für den Zuschauer darstellt. Sean Baker erzählt mit The Florida Project keine Geschichte im eigentlichen Sinne, sondern lässt das Publikum in Auszügen an dem Leben seiner Protagonisten teilhaben.

Die Armut der Figuren ist dabei immer präsent, aber zugleich selten im Fokus. Zum Beispiel wenn Halley täglich Moonee mit Scooty zu dessen Mutter Ashley (Mela Murder) schickt, die als Kellnerin in einem Diner ein paar Waffeln bei Seite schafft. Das alles ist aber nie wirklich Sozialkritik, sondern eher soziales Kolorit und erinnert dadurch ein wenig an “slice of life”-Filme wie Andrea Arnolds American Honey oder die Werke eines Harmony Korine. Es gelingt Baker überaus geschickt, die beiden parallel nebeneinander existierenden Welten im Kontrast zueinander zu zeigen. Exemplarisch veranschaulicht durch das wiederkehrende Motiv jener Hubschrauber, die unweit im Hintergrund stets zu Ausflügen über Disney World ansetzen.

Über 20 Millionen Menschen besuchen jährlich das Magic Kingdom, ein Großteil von ihnen Kinder von außerhalb. Unterdessen lebt in Florida jedes 5. Kind unterhalb der Armutsgrenze, so auch Moonee und Scooty im Magic Castle. Sie lassen sich jedoch von ihrer Situation nicht unterkriegen – wohl auch, weil sie diese (noch) nicht einschätzen können. Wenn Halley ihre Sozialhilfe gekürzt wird und Moonee sich mit Backwaren von der Heilsarmee eindeckt, ist dies für das Mädchen ein Stück weit ebenso verspieltes Abenteuer wie ihre tägliche Bettelei vor der hiesigen Eisdiele oder ein ergaunertes Frühstück von Halley in einer benachbarten Hotelanlage. “This is the life, man”, entfährt es der Tochter da aufrichtig an einer Stelle.

Schade ist es da allenfalls, dass wir abseits der Kinder und ihrer nahe stehenden Erwachsenen wenig von der Welt des Magic Castle und Futureland Inn mitkriegen. So zählen Moonee und Scooty bei ihrer ersten Begegnung mit Jancey erst einmal auf, welch illustre Gesellschaft aus Drogensüchtigen und Kriminellen bei ihnen Tür an der Tür wohnt. In der freizügigen Gloria (Sandy Kane) lernen wir dann in ein paar Szenen doch ausnahmsweise mal eine dieser Figuren kennen, die dabei unmittelbar in einer amüsanten Szene mit Bobby zeigen darf, dass es sich zweifellos gelohnt hätte, wenn The Florida Project seinen Fokus ein wenig erweitert hätte, um seine Protagonisten noch mehr im direkten Austausch mit anderen zu zeigen.

Passend zur Materie arbeitete Sean Baker für seinen jüngsten Film wieder größtenteils mit Laiendarstellern, von den überzeugenden Brooklyn Prince und Valeria Cotto hin zur kleinen Naturgewalt an Authentizität: Bria Vinaite. Beinahe unscheinbar fügt sich Willem Dafoe mit einer zurückgenommenen und doch sehr warmen Darbietung in dieses Ensemble von Amateuren ein. The Florida Project ist deshalb aber keine Dokumentation und will auch keine solche sein, eher schon eine Art Sozialmärchen mit und über jene Menschen, denen die meisten von uns im täglichen Leben abseits der Kinoleinwand vermutlich nicht allzu viel Beachtung schenken würden. Geschweige denn die Touristen eines Multi-Millionen-Dollar Ferienresorts wie Disney World.

Sean Baker untermauert wie in seinen Vorgängerwerken, dass er ein Gespür für jene Sorte Figuren hat, die bei anderen Filmemachern zu Karikaturen und Randfiguren verkämen. Wie die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einer Porno-Schauspielerin und einer Rentnerin in Starlet oder in Tangerine ein Duo transsexueller Prostituierter in Los Angeles. Ähnlich wie dort bildet die Geschichte auch in The Florida Project nur den Rahmen für eine Gruppe interessanter Figuren und ihre Interaktion. “You’re having to much fun”, wird Moonee da vorgehalten, als sie ihre Bestrafung kurzerhand zur Spaßveranstaltung umfunktioniert. Das Mädchen besitzt eben einen löblichen Geist, der sich nicht unterkriegen lässt. Nicht einmal von ihrer Armut.

10/10

2. März 2018

Mute

Did you spit in this?

Fast 30 Jahre hat es gedauert, ehe Martin Scorsese sein Passions-Projekt Silence über Glauben und Zweifel umsetzen konnte. Wirklich gedankt hat es ihm niemand, vielmehr avancierte der Film zu Scorseses größtem Flop in diesem Jahrhundert. Shutter Island blieb bei wichtigen Award-Shows wie den Oscars zwar ebenso außen vor, spielte aber in den USA locker das 18-Fache von Silence ein. Herzblut tut selten gut – das mag sich inzwischen auch Duncan Jones denken. Zwar keine knapp drei Jahrzehnte, aber doch seit fast zehn Jahren, arbeitete der Brite an der Adaption seines Wunschfilms Mute. Lange vergeblich, ehe es zuletzt dann schließlich doch klappte, wenn auch nur für den Streaming-Dienst Netflix. Auch ihm dankt(e) es niemand.

Die Schuld liegt in diesem Fall anders als bei Martin Scorsese wohl zuvorderst am Regisseur selbst. Plan- und leblos wirkt die Geschichte von Mute – genauso wie die Welt, in der sie sich bewegt. Im Berlin der Zukunft spielt sie, nur spielt das wiederum keine wirkliche Rolle. Hier geht dem stummen Barmann Leo (Alexander Skarsgård) seine Freundin und Arbeitskollegin Naadirah (Seyneb Saleh) eines Tages flöten. Als Amish American aufgezogen begibt sich Leo mehr schlecht als recht mittels technologischer Hilfsmittel auf die Suche nach ihr, während der im Berliner Exil lebende US-Militärchirurg Cactus Bill (Paul Rudd) bestrebt ist, sich und seine Tochter mit falschen Dokumenten zurück in die USA zu schleusen.

„Berlin, du kannst so hässlich sein, so dreckig und grau. Du kannst so schön schrecklich sein, deine Nächte fressen mich auf“, sang Peter Fox in seinem Song „Schwarz zu blau“, der im Grunde auch von Mute handeln könnte. Nur dass der Film, abgesehen von etwaig auftretender deutscher Sprache, keinerlei Bezug zu unsere Hauptstadt hat. Ob das jetzt Berlin ist oder vielleicht doch Straßburg bzw. Prag lässt sich nicht sagen. Eben auch, weil Duncan Jones sein Blade Runner-Template über das Setting legt und dieses in die Zukunft verfrachtet. Im Jahr 2525 könnte vermutlich auch Wanne-Eickel so steril im Neonlicht vor sich hin siechen (oder tut es womöglich – ohne der Stadt zu nahe treten zu wollen – sogar schon heute).

Ursprünglich war Mute auch als britischer Gangster-Film angedacht, ehe Jones das Ganze dann nach Japan verlagerte. Damals sollte Ken Watanabe den stummen Mann mit dem Shaker in der Hand mimen. Bevor der überraschende Erfolg für Jones’ Debütwerk Moon bei diesem ein Umdenken initiierte. Woraufhin der Regisseur veranlasste, die Story in die Zukunft zu verlegen, sodass sie im selben filmischen Universum wie Moon spielen kann. Dessen Ende erweist Jones auch in einer Szene hier Referenz, die jedoch kaum mehr als ein Easter Egg darstellt, da sich beide Handlungen nie wirklich auf irgendeine Weise auf Augenhöhe begegnen. Genauso gut könnten auch Blade Runner und Alien im selben Universum spielen.

Hier liegt im Prinzip der Hund begraben, der auf den Namen Mute hört. Selbst wo die Suche von Leo nach Naadirah und Cactus Bills Bestreben, zurück in die Heimat zu gelangen, im Ansatz interessant wären, steht sich die Handlung meist selbst im Weg. Sie beginnt mit einer nutzlosen Rückblende zu Leos Kindheit im The Bourne Identity-Stil und jenem Unfall, der ihm die Stimme raubte. Dass die Figur aber stumm ist oder einen Amish-Hintergrund hat – geschweige denn ein stummer Amish ist – besitzt keinerlei Relevanz für die Geschehnisse. Leo könnte auch jüdischen Glaubens oder Moslem sein, taub statt stumm, seine Biografie definiert ihn nicht, sondern ist bestenfalls Beiwerk. Und markiert nicht die einzige offene Frage.

Was verschlug Cactus Bill einst nach Berlin? Wieso kann er nicht in die USA zurück? Sein Problem erinnert an das von Leonardo DiCaprios Dilemma in Inception, nur erhielt man dort zumindest eine Erklärung für das Exil und den Wunsch der Heimkehr. Generell wirkt Mute oft in seinem Versuch, Hommage zu liefern eher wie ein schlechter Abklatsch. Von dem unausgegorenen Blade Runner-Muster, das eher an eine Folge der Sci-Fi-Serie The Expanse erinnert, über Paul Rudds Aufmachung getreu Elliott Gould als Trapper McIntyre in MASH hin zu Naadirahs blauem Haar, das sich an Kate Winslet aus Eternal Sunshine of the Spotless Mind orientiert. Mute ist weniger Original Song, sondern unausgegorenes Mash-up größerer Hits.

Das könnte man ihm noch verzeihen, wenn die Spezialeffekte nicht so billig daherkämen wie aus einer Folge Dr. Who. Bisweilen wirkt es, als hätten Filmstudenten aus eigener Tasche versucht einen Fan-Film zu Blade Runner – dem von Jones selbsterklärten Vorbild für Mute – gedreht. Der generell billige VOD-Look ist dabei keine Hilfe – und kein Einzelfall für jene Filme, die Netflix als angebliche “Originals” vermarktet (obschon der Dienst sie meist einkauft statt selbst produziert). Ob The Cloverfield Paradox, The Ritual oder nun Mute – keiner dieser Filme des Streaming-Services wirkt visuell sonderlich berauschend und von der Farbpalette her allzu cineastisch. Kein Wunder also wurde ihnen allen am Ende eine Kinoauswertung versagt.

Trostlos gerät auch das Spiel der Darsteller. Alexander Skarsgård wirkt überfordert mit seiner Rolle, die primär über Mimik und Gestik funktioniert. Mit großen Augen stolziert sein Leo da durch die Welt, ohne dass diese sonderlich Empathie erwecken. Paul Rudd wiederum ist schlichtweg fehlbesetzt, auch wenn er sich bemüht, das Bestmögliche aus seiner Figur herauszuholen. Ebenfalls eine Hommage an MASH, wenn auch optisch eher an John Lennon erinnernd, generiert Justin Theroux als pädophiler Kollege von Cactus Bill absurderweise fast noch am ehesten Sympathien. Dominic Monaghan ist auch mit von der Partie, ohne dass sein skurriler Kurzauftritt wirklich viel zur Handlung beizutragen hätte (falls dies jemand überrascht).

Man mag sich gut vorstellen, dass Mute als Neo-Noir-Film ohne all den planlosen Charakter-Schnickschnack funktioniert. Mit entsättigten Bildern oder gleich Schwarzweiß. Dazu andere Schauspieler, während wiederum Robert Sheehan in einer tollen Nebenrolle als Transgender-Kellner an Bord bleiben darf. Der atmosphärische Soundtrack von Clint Mansell ist letztlich noch das Gelungenste an Duncan Jones’ jüngstem Werk, das es ihm nach dem finanziell schwachen – aber dennoch sehr gefälligen – Warcraft schwer machen dürfte, Unterstützung für das nächste Passions-Projekt zu erhalten. Vielleicht lauscht er derweil doch lieber den Song-Zeilen von Peter Fox: „Es wird für mich wohl das Beste sein, ich geh nach Haus’ und schlaf mich aus.“

3/10