In seinen Filmen berichtet der britische Regisseur Danny Boyle stets von Isolation, von der Ausgrenzung einer kleinen Gruppe vom Rest der Gesellschaft. Sei es eine exklusive und exzentrische Wohngemeinschaft in Shallow Grave, Junkies in Trainspotting, ein Liebespaar auf der Flucht in A Life Less Ordinary, eine Backpacker-Kommune in The Beach, Überlebende einer Zombie-Pandemie in 28 Days Later, zwei Kinder mit spontanem Reichtum in Millions, Astronauten auf Weltrettungsmission in Sunshine oder indische Straßenkinder auf der Suche nach Liebe in Slumdog Millionaire. Doch nie inszenierte Boyle dieses Thema der Isolation so konsequent und offensichtlich, wie in seinem jüngsten Abenteuerdrama 127 Hours.
Nach seinem Regie-Oscar vor zwei Jahren hätte Boyle in die A-Liga Hollywoods aufsteigen können, wo die Budgets im neunstelligen Bereich laufen. So war der Brite unter anderem für die Inszenierung des neuen Bond-Films im Gespräch, doch schlechte Erfahrungen mit The Beach dürften Boyle weiterhin vom Blockbuster-Kino zurückschrecken lassen. Stattdessen nutzte er den Karriere-Push des Oscars, um eine Geschichte durchzuboxen, die er bereits seit Jahren erzählen wollte: Die Geschichte von Aron Ralston. Als der gelernte Maschinenbauer und begeisterte Bergsteiger im Mai 2003 auf eine Wochenendwanderung in den Blue John Canyon in Utah aufbrach, war er beinahe nicht mehr zurückgekehrt.
Die Geschichte eines Mannes, der über fünf Tage lang (genauer: 127 Stunden) durch einen Felsbrocken eingeklemmt war und zu verdursten drohte, ist nun mangels Interaktion und Action nicht gerade von großem Interesse. Und dennoch gelingt es Boyle mit 127 Hours ein packendes und intensives Drama abzuliefern, was umso bemerkenswerter ist, da der Ausgang des Szenarios bekannt ist. Hier verkommt ein vorbei fliegender Rabe und 15 Minuten morgendlicher Sonnenschein nicht nur für Aron Ralston (James Franco) zum Happening. Dass der sich durch den Canyon preschende Lichtstrahl Ralston auch angesichts seiner Situation noch ein bewunderndes Lächeln beschert, charakterisiert die Figur ganz gut.
Früh beginnt er, sich seinen Wasservorrat einzuteilen und verflucht, seine zusätzliche Flasche Gatorade im Wagen und sein Schweizer Armeemesser zu Hause gelassen zu haben. Ralston ist ein Abenteurer, der seine Wochenenden lieber alleine in der Natur verbringt, als mit seiner Freundin Rana (Clémence Poésy). Die Rückblenden, die Boyle seinem Protagonisten schenkt, zeigen ein ambivalentes Bild von ihm. So scheint er seinem Vater (Treat Williams) die Liebe zu den Canyons zu verdanken, seine Mutter (Kate Burton) ruft er jedoch nie zurück und mit Rana macht er schweigend während eines Basketballspiels Schluss. Es wirkt, als pralle dies alles am extrovertierten Ralston ab, der einzig für seine Naturausflüge lebt.
Als er zu Beginn die verirrten Freundinnen Kristi (Kate Mara) und Megan (Amber Tamblyn) trifft, verbringt er zwar einige Stunden mit ihnen, aber wenn Kristi bei der Verabschiedung resümiert, dass sie ihn wohl eher aufgehalten haben, liegt das nahe an der Wahrheit. Den Preis für seine Egomanie zahlt Ralston spätestens dann, als ein losgelöster Felsbrocken seinen rechten Unterarm einklemmt. Die Rückblenden, sowie Aufzeichnungen auf seiner Digitalkamera, unterbrechen gelungen die dramatische Situation. Wirklich nahe bringen sie einem die Hauptfigur jedoch nicht, die zwar nicht unsympathisch wirkt, deren Befreiung man ihr jedoch eher wünscht, weil man niemanden so enden sehen will.
Zugleich spielt James Franco (obschon nur zweite Wahl des Regisseurs) den lebensfrohen Ralston mit einer ebenso lebendigen Leistung. Es ist logisch und konsequent, dass von seiner Darstellung der Erfolg des Filmes abhängt, gibt es doch keine Szene, in der er nicht zu sehen ist. Audiovisuell ist 127 Hours dabei wie die meisten Filme Boyles ein Genuss, selbst wenn das Splitscreen-Verfahren zu Beginn ob seiner Länge und plakativen Verdeutlichung des Filmthemas (Gesellschaft der Massen vs. Isolation von Ralston) gerne kürzer hätte geraten dürfen. Ähnlich verhält es sich mit Ralstons durch Dehydrierung ausgelösten Halluzinationen, von denen besonders seine Schwester (Lizzy Caplan) keinen Mehrwert bringt.
Wo Boyles Mumbai-Märchen zum Feel Good Movie des Jahrzehnts verschrien wurde, käme dieser Titel zumindest in seinem Œuvre eher 127 Hours zu. “He went in there broken, and came out whole“, sieht der Regisseur selbst die Katharsis seiner Figur, die erst in einer Bergschlucht merkte, was in ihrem Leben falsch lief. Ist der Film gerade in seiner Klimax quälend-hoffnungsvoll, sprießen die satten rot-braun Töne der Bilder ansonsten vor lebensbejahender Freude. Mit 127 Hours ist Danny Boyle ein bisweilen amüsantes, sowie weitestgehend intensives Drama von abenteuerlicher Romantik gelungen, ansprechend audiovisuell verpackt und garniert mit einer bewegenden Leistung des Hauptdarstellers.
7.5/10