29. September 2017

Abacus: Small Enough to Jail

I wish the story could end the same way as ‘It’s a Wonderful Life’.

Der „kleine Mann“ ist eine wirkungsvolle Sozialfigur, die zur Identifikation einlädt. Die Zeche, so eine oft neuinterpretierte Redewendung, zahlt zum Beispiel immer der kleine Mann. Auch passend wäre der englische Ausspruch von “shit rolls downhill” – Verantwortung wird nach unten durchgereicht. So verwundert es nicht, dass im Zuge der weltweiten Finanzkrise von 2007 und 2008 auf dem Hypothekendarlehenmarkt weder Goldman Sachs noch Bear Stearns, JP Morgan oder Deutsche Bank und Co. wirkliche Konsequenzen für ihr Handeln fürchten mussten. “Too big to fail”, lautet die systemrelevante Begründung hierfür. Nicht so jedoch die kleine New Yorker Bank Abacus Federal Savings, die im Mai 2012 für ihre Verwicklungen vor Gericht landete.

“Small enough to jail”, kommentiert es der Journalist Matt Taibbi – und leiht Regisseur Steve James damit den Untertitel für dessen dokumentarische Aufarbeitung des Falls. Abacus: Small Enough to Jail widmet sich dabei nicht sonderlich intensiv der Finanzkrise als solcher und der Rolle von Abacus innerhalb dieser. Vielmehr beleuchtet James die Bank selbst und ihre Ursprünge. Thomas Sung gründete sie einst Mitte der 1980er Jahre im New Yorker Stadtteil Chinatown speziell für die Bewohner des Viertels, wo die Immigranten aus der fernöstlichen Republik ihr Geld anlegen konnten. Mit der Zeit wuchs die Bank um ein paar Filialen, später stießen auch Sungs zwei älteste Töchter Jill und Vera zu dem Finanzunternehmen dazu.

Im Vorfeld der Finanzkrise geschah nun bei Abacus, was auch bei anderen Banken geschah: Es wurden Hypotheken an Fanny Mae in Millionenhöhe verkauft. Der Unterschied war, dass Abacus von dem Betrug seitens ihres Mitarbeiters Ken Yu erfuhr und ihn den Behörden meldete. “To make sure this didn’t happen again”, wie Journalist David Lindorf sagt. Als Dank erwartete die Bank der Sungs eine Anklage der Staatsanwaltschaft New Yorks. Wo die anderen Banken als zu systemrelevant (“too big to fail”) angesehen wurden, als dass man sie strafrechtlich verfolgen konnte und sie daher mit Bußgeldern belegte, negierte der Staat dies Abacus. So entsteht der Eindruck, als solle an der kleinen Bank ein Exempel statuiert werden.

“This is an attack on a community”, findet dagegen der Chinatown-Aktivist Don Lee. “We’re easy prey.” Dabei wird jedoch nicht wirklich klar, inwieweit der ethnische Hintergrund von Abacus tatsächlich eine Rolle – und wenn ja, inwiefern – gespielt hat. Stattdessen erscheint es so, dass der kleinen Bank schlicht die Systemrelevanz fehlte, damit ihr die Fehler vergeben werden, die auch all die anderen gemacht haben. Was natürlich nicht fair ist, Steve James’ Doku über die prinzipiell sehr sympathisch gezeichnete Familie Sung jedoch einen gewissen David-gegen-Goliath-Faktor verleiht. Der Regisseur ist dabei wie gewohnt sehr nah dran an seinen Protagonisten und konstruiert seinen Blick auf die Finanzkrise via einer persönlichen Geschichte.

Als solche stehen die Sungs eher im Vordergrund wie das Schicksal ihrer Bank oder dessen Kunden. Zum Beispiel wenn wir mit Chantarelle die Jüngste kennenlernen, die ursprünglich in der Staatsanwaltschaft New Yorks tätig war, bis diese Anklage gegen ihre Schwester und Vater erhob. Vielleicht wäre es nie zu einer Anklage gekommen, wenn Abacus den Betrug seines Angestellten nicht selbst gemeldet hätte. Was das juristische Verfahren nur noch unfairer macht. Zugleich wird das sehr altruistische gezeichnete Bild der Sungs in Mitleidenschaft gezogen, durch ein Verhalten, mit dem diese augenscheinlich nichts zu tun haben. Aber natürlich als Bankleitung dennoch die Verantwortlichkeit tragen. Am Ende die als Sündenbock für die Krise.

Derart tief in die Materie wie ein Inside Job dringt Abacus: Small Enough to Jail nicht ein. Schafft aber aufgrund seines Fokus’ auf die Menschen hinter der Krise respektive in diesem Fall einer für die Krise verantwortlich gemachten Bank eine Sicht auf die Dinge, die anderen Dokumentationen zum Thema abgeht. Dass mit Abacus Federal Savings zugleich eine ganze Gemeinschaft – hier: Chinatown – mitbetroffen werden könnte, treibt die Ironie der Folgen der Finanzkrise letztlich in gewisser Weise auf die Spitze. Der kleine Mann zahlt somit irgendwie tatsächlich doch am Ende die Zeche. Wenn auch nicht immer, wie der Schluss von Abacus: Small Enough to Jail zeigt. Auch wenn es nicht ganz das Ende von It’s a Wonderful Life wurde.

6.5/10

Info: Abacus: Small Enough to Jail ist gratis bei PBS: Frontline streambar (OV).

22. September 2017

Die Top 5: Bates Motel

You really can’t make this shit up.

Es liegt sicher eine gewisse Faszination im Bestreben, dem einen Sinn zu geben, das man zwar nicht versteht, aber auf eine bestimmte Art und Weise bewundert. So deutete dies David Lynch zum Teil in seinem Revival zu Twin Peaks an – ohne sich jedoch gänzlich damit aufzuhalten. Auch Serien wie Lost glaubten, schlussendlich eine Antwort liefern zu müssen, für ihr originäres Mysterium. Und Vertreter wie Breaking Bad beschränkten sich gleich ganz auf die Genese als das eigentliche faszinierende Element. Auch Alfred Hitchcocks Meisterwerk Psycho bemüht sich in seinem Schluss, dem Horror einen Sinn zu geben, als ein Psychiater den anderen Figuren (und dem Publikum) in einem Monolog die Dichotomie der Hauptfigur erklärt.

Die Szene habe seinen Film gerettet, soll Hitchcock später gesagt haben. Dabei ist sie für manche Kritiker wie Roger Ebert der einzige Makel in einem ansonsten makellosem Film gewesen. Es wird erläutert, wieso Norman Bates (Anthony Perkins) zum identitätsgestörten Mörder wurde, die Mutter der Figur sei “a clingy, demanding woman” gewesen. Die durch den Sohn am Ende ihren Tod fand, der ihre Identität usurpierte, um sich letztlich in ihr zu verlieren. Carlton Cuse und Kerry Ehrin nahmen im Jahr 2012 nun natürlich Psycho zum einen, aber auch diesen Monolog zum anderen als Aufhänger für ihre Serie Bates Motel, die über fünf Staffeln jene Geschichte von Norman Bates und seiner Mutter erzählte, bevor sie ihr bekanntes Ende nahm.

Nach dem Tod seines Vaters siedelt Norman Bates (Freddie Highmore) mit seiner Mutter Norma (Vera Farmiga) in das Küstenstädtchen White Pine Bay um. Dort erstehen sie ein altes Motel, päppeln es auf, streben nach einem Neuanfang. Doch schon bald landen die ersten Leichen Reservierungen in der Unterkunft, während Norma und Norman über die Staffeln hinweg ihre Beziehung und Abhängigkeit voneinander auf die Probe stellen. Da ist Norma durchaus oft (genug) jene “clingy, demanding woman”, fühlt sich bisweilen aber auch erstickt und überfordert von den (Besitz-)Ansprüchen ihres Sohnes. Kern des Ganzes bildet dabei das stetige Bestreben Normas, eine harmonische, liebevolle Familie zu sein. Aller vorhandenen Tragik zum Trotz.

Gesunde Familien präsentiert Bates Motel dabei keine einzige. Norma selbst stammt aus einem zerrütteten Elternhaus und erhält eine inzestuöse Beziehung zu ihrem älteren Bruder Caleb (Kenny Johnson), welche die Figur letztlich brandmarkte. Ein vorbelastetes Verhältnis zu dem ersten Sohn Dylan (Max Thieriot) wird somit ersetzt durch das innige Verhältnis zu Norman. Beide Figuren haben nur einander – und die anderen Charaktere nicht viel mehr. So ist Dylan auch über die Staffeln oft auf sich allein gestellt, mit eigenen Nebenhandlungen ausgestattet, nur an der Peripherie der Beziehung von Mutter und Bruder partizipierend. Auch die mit den Bates’ befreundete Emma (Olivia Cooke) trauert einer Mutter nach, die einst die Familie verließ.

Mehrere Figuren, von Dylan über Emma bis hin zum lokalen Sheriff Romero (Nestor Carbonell) versuchen über fünf Staffeln, Teil der Bates-Familie zu werden, die aus nur zwei Mitgliedern besteht. Wirklich gelingen will es nicht. Norma will dabei natürlich den jüngsten Sohn primär beschützen, Letzterer die Affektion seiner Mutter nicht unbedingt mit anderen teilen. “Certain things can never change”, sagt Norman in der vierten Staffel einmal. Bates Motel liefert aber nicht nur Einblicke in das Familienleben von ihm und seiner Mutter, sondern versucht sich auch in Vorausdeutungen der Ereignisse, die Hitchocks Psycho ausmachen. So erlebte Norman trotz des Behütens durch Norma sein eigenes Trauma in der Kindheit – und dieses hat Konsequenzen.

Jede Staffel verfügt über eigene Mordfälle, die verdeckt werden müssen. Gerade die ersten drei Jahre verlieren sich in Bates Motel da oft in den teilweise kruden Subplots, die um das Drama zwischen Norma und Norman gestrickt werden und dieses sicher auch mitbefeuern. Sei es die Existenz eines illegalen Rings um chinesische Sexsklavinnen (Staffel 1), ein völlig ausgearteter Krieg zwischen zwei rivalisierenden Drogenbanden innerhalb der Stadt (Staffel 2) oder eine Vereinigung reicher Machthaber, zu denen belastendes Material in die Hände der Bates’ fällt (Staffel 3). Nichts davon ist wirklich spannend und wirkt eher wie Füllmaterial, das bei Gelegenheit Futter für die eigentliche Handlung der Serie um das Bates’sche Verhältnis liefert.

Honorable Mention: Check-Out (Season 2, Episode 4/John David Coles)
Erst mit Ende der dritten und Beginn der vierten Staffel widmet sich Bates Motel zuvorderst des Prequel-Elements zu Psycho, wenn die eingebildete Identität der Mutter in Norman immer mehr Kontrolle gewinnt. Bereits zuvor zeigte die Serie Charakterelemente wie seine Taxidermie (Staffel 1) oder seinen Voyeurismus (Staffel 3), genauso wie Auftreten und Übernahme von Norman durch „Mutter“. Getreu dem exploitativen Anstrich, den Hitchcock Psycho verleihen wollte, inszenierten Cuse und Ehrin auch die Serie extrem überpointiert und theatralisch. Gar nicht aufzählen kann man die etlichen Schrei-Duelle, die sich Highmore und Farmiga über die Jahre geliefert haben. Die jedoch stets aufgrund des exaltierten Spiels ein Highlight waren.

Generell war die Show nie vollends für voll zu nehmen – und wollte es auch gar nicht. Amüsant waren da stets die etlichen Frauenfiguren, die sich zu dem eher verschrobenen Norman hingezogen fühlten. “I don’t know why, but unhinged women seem drawn to you”, konstatierte da auch Norma, als in Escort Annika (Tracy Spiridakos) eingangs zur dritten Staffel mal wieder eine solche ein Zimmer im Bates Motel buchte. Grundsätzlich funktionierte die Serie immer am besten, wenn sie den Fokus auf die Beziehung ihrer beiden interessantesten Figuren legte. Eine Beziehung, die direkt von Beginn an durch Mord begleitet wurde, was im Verlauf zum konstanten Element werden würde. Wenn auch später eher durch „Mutter“ denn Norma begünstigt.

“How many times have we done this, Mother?”, fragt Norman da gegen Ende der fünften Staffel in Inseparable, als er und Mutter mal wieder eine Leiche entsorgen. Den Punkt von “a boy’s best friend is his mother”, wie Norman Bates in Psycho sagte, haben wir da längst überschritten. Jeder werde manchmal etwas verrückt, hatte Norman im Film gegenüber Marion Crane (Janet Leigh) gemeint. “Sometimes just one time can be enough”, erwiderte die. Ein Dialog, der sich Mitte der fünften Staffel, wenn Bates Motel seine eigene Version von Psycho um Marion Crane (Rihanna) erzählt, nicht wiederholt. Aber dennoch die Geschehnisse reflektiert, wenn Norman zu Marion an einer Stelle sagt: “We need people, but that need can destroy us.”

Der Prequel-Serie des A&E Network gelang es dabei, sich nach einer mäßigen ersten Staffel schließlich merklich zu steigern. Ungeachtet der eher belanglosen Nebenplots waren die zweite und dritte Staffel eine erfreuliche Verbesserung in allen Bereichen, die vierte und fünfte Staffel untermauerten dies mit nahezu durchgängiger Konstanz. Und selbst wenn Bates Motel (zu) selten eine wirklich gute Serie war, so war sie doch aufgrund ihres stets überzeugenden Ensembles und ihrer mitunter gelungenen Herangehensweise an das Sujet immerzu sehenswert. Allzu schwer war es dennoch nicht, aus den insgesamt 50 Episoden der fünf Staffeln die aus meiner Sicht fünf gelungensten Folgen (Spoiler sind zu erwarten) herauszusuchen:


5. Unconscious (Season 3, Episode 10/Tucker Gates): “Mother would like to talk to you” ist einer dieser Sätze, die man – genauer: Frau – lieber nicht aus dem Mund von Norman Bates hören sollte. Während Romero aus Liebe zu Norma die Nebenhandlung mit Bob Paris zu einem Ende führt, ist Normans „Flucht“ mit Bradley (Nicola Peltz) vor einem Leben mit seiner Mutter von kurzer Dauer. Und die junge Frau verkommt zum ersten klassischen Opfer (inklusive Leichenentsorgung) des identitätsgestörten Serienmörders.

4. Unfaithful (Season 4, Episode 8/Stephen Surjik): Mit ihrem Entschluss, die Ehe mit Romero aufrecht zu erhalten und nicht zum alten Status Quo zurückzukehren, besiegelt Norma in dieser Folge unwissentlich ihr Schicksal. “All fixed now!”, freut sich Norman zuvor noch nach seiner Entlassung aus der psychiatrischen Klinik, dass alles wieder beim Alten ist – hat dabei jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Lange waren beide nicht bereit, einander mit anderen zu teilen. Ein Schwur, dessen Bruch Folgen hat.

3. The Body (Season 5, Episode 8/Freddie Highmore): Als Norman sich für seine mörderische Tat gegenüber Sheriff Greene (Brooke Smith) verantworten will, übernimmt Mutter kurzerhand wieder das Kommando. So leicht lässt sich die Persönlichkeit nicht unterkriegen – geschweige denn in die Anstalt stecken. Unterdessen schafft es Romero in sein altes Zuhause zurück, wo Chick (Ryan Hurst) wiederum bemüht ist, sich angesichts der Ermittlungsumstände für seinen kommenden True-Crime-Roman atmosphärisch inspirieren zu lassen.

2. The Immutable Truth (Season 2, Episode 10/Tucker Gates): Romero und Dylan beenden den – in jeglicher Hinsicht – aus dem Ruder gelaufenen Drogenkrieg von White Pine Bay auf ihre (blutige) Art. Norman will für seine vermeintliche Tat an Blair Watson die Konsequenzen tragen, ehe ihn Norma vom angestrebten Suizid abhält, der künftige Leichen erspart hätte. Zugleich ist es am Ende das Auftauchen von Mutter, die ihren Sohn vor der Justiz schützt, indem sie Norman alternative Fakten für seine Mord-Nacht liefert.

1. Norman (Season 4, Episode 10/Tucker Gates): Mit dieser Folge war der Prequel-Charakter der Serie im Prinzip abgeschlossen. Norman exhumiert und präpariert den Leichnam Normas und will ihr ursprüngliches Leben wieder aufnehmen – nur spielt die traurige Realität da nicht ganz mit. Durch Chick mit dieser konfrontiert will Norman seinem Leben (mal wieder) ein Ende setzen, bevor Mutter aus Selbstschutz Gnade vor Recht walten lässt. Gemeinsam begehen die beiden dann ein Weihnachten der besonderen Art.

15. September 2017

Bitch Planet | Clean Room | Paper Girls

Aus zwei mach drei – beziehungsweise umgekehrt. Die bisherige Paarung im Rahmen der Comic-Vorstellungen wird etwas aufgesprengt. Während Bitch Planet mit seiner Ausgabe #10 seinen zweiten Lauf abschließt – in der Regel werden stets fünf Ausgaben für einen Sammelband zusammengefasst – und Paper Girls mit seinem Volume 3 seine Protagonisten in das nächste Abenteuer schickt, verabschiedet sich mit Clean Room Volume 3 bereits ein Comic, kaum dass es für sich Werbung machen konnte. Immerhin drehen sie sich alle um starke Frauenfiguren, wie es der Zufall so will. Und auch wenn sie sich darin ähnlich sind, unterscheiden sie sich in ihrer jüngsten Rezeption doch – einerseits in Frustration, Stagnation sowie in einem Fall in Akzeptanz.

Bitch Planet #10

I never liked making decisions anyway.

In der Regel konsumiere ich Comic-Serien stets Bände-weise. Sprich: Statt Einzelausgaben, die monatlich erscheinen, warte ich drei bis vier Quartale auf einen Sammelband. Das macht das Lesen flüssiger und steigert den Effekt der Handlung. Bitch Planet von Kelly Sue DeConnick und Valentine De Landro ist da eine Ausnahme. Die einzelnen Ausgaben zieren meine Sammlung, aber auf diese warte ich inzwischen auch fast genauso lange wie auf die Sammelbände von Serien wie beispielweise Saga. Fünf Monate sind seit Bitch Planet #9 vergangen – genauso lange wie zuvor zwischen Ausgabe #8 und #9. Das Warten „frustriert“ auch deshalb, weil gefühlsmäßig relativ wenig passiert, in den Momentaufnahmen der Bitch Planet-Ausgaben.

Zuletzt wirkte es so, als würden DeConnick und De Landro eine narrative Kurskorrektur vornehmen. Derartige Mutmaßungen sollte ich wohl inzwischen ad acta legen. Bitch Planet #10 begleitet weiterhin den durch Makoto Maki ausgelösten Aufstand des Auxiliary Compliance Outposts, wo Eleanor Doane nun nicht mehr nur aus ihrer Zelle befreit wurde, sondern auch das Kommando über die Einrichtung gewonnen zu haben scheint. Währenddessen findet ein zweiter Aufstand außerhalb des A.C.O. statt – beinahe zeitgleich von Eleanor Doanes Anhängerinnen ausgeübt. Thematisch finden sich Analogien nicht nur zur Gewalt gegen Schwarze in den USA, sondern auch ein Kommentar zu Hillary Clintons verlorener US-Wahl 2016.

Noch wissen wir nicht viel über Eleanor Doane, doch wie Maki verrät, war sie einst “the leader of the free world”. Die Idee einer schwarzen, weiblichen US-Präsidenten ist angesichts der Trump-Wahl natürlich durchaus sehr Science-Fiction-esk. Und eine Präsidentin Doane sicher der Albtraum des weißen amerikanischen Patriarchats. Immerhin hatte mehr als jeder zweite weiße Amerikaner eine unvorteilhafte Meinung zu Clinton – wohin sich drei Viertel der schwarzen Männer durchaus mit einer Frau als Staatsoberhaupt hätten anfreunden können. “You are the reason we got here”, ätzt einer der Wärter, der gegenüber Doane in der Ausgabe handgreiflich wird. “You fucked it all up.” Selten spricht das Comic die Angst des weißen Mannes so deutlich an.

Auch das Rassen-Element taucht im Konflikt zwischen Doane und dem Wärter auf, der ihr nach dem Leben trachtet. “You can’t kill us all, boy”, lässt diese ihn wissen. Der weiße Mann fürchtet somit nicht nur die Verdrängung seiner ethnischen Gruppe, sondern auch die Verdrängung aus dem Machtvakuum, welches er Jahrhunderte lang exklusiv hatte. Grundsätzlich funktionieren solche Analogien sehr gut in DeConnick und De Landros Serie. So gut sogar, dass man sich wünschen würde, Bitch Planet würde sie etwas verstärkter integrieren, statt oft in den ausufernden Essays am Buchende zu erörtern. Löblich ist die Entwicklung allemal und die Ereignisse spannend, wenn auch mit offenem Ausgang. Nun heißt es erstmal wieder: warten.

7/10


Clean Room – Volume 3

Because the cow goes Moo.

Viele offenen Fragen warf Gail Simone in den ersten zwei Bänden ihres Comics Clean Room auf – was als Exposition sicher vertretbar ist. Umso überrumpelter gerät da Volume 3, das nicht nur wenig bis keine Antworten liefert, sondern – so hat es den Anschein – die Comic-Serie auch sehr überraschend zu einem Abschluss bringt. In der Kürze liegt durchaus die Würze und generell ziehe ich bei Fernsehserien Vertreter mit 10 Episoden pro Staffel ihren längeren Kollegen vor. Aber die drei Bände von Clean Room haben im Nachhinein nicht gereicht, um ihre Welt ausreichend vorzustellen und die darin erzählte Geschichte zu einem kohärenten und zufrieden stellenden Ende zu bringen. Clean Room hinterlässt viel Unordnung.

Wie schon am Ende von Volume 1 muss hier erneut Astrid den Weg nach Florida antreten, um Chloe zurück in ihre Organisation zu locken. Die erhält sogar diesmal einen Namen: The Honest World Foundation. Nach dem vermeintlichen Verrat von Killian und Duncan wird diesen zwar vergeben, doch Chloe soll nun Astrids neue Nummer 2 in der H.W.F. sein. Während sich Astrid ihrer von Dämonen besessenen Nichte Derica widmet, müssen sich Chloe und Killian im Clean Room mit Artus Greenhand auseinandersetzen. Der selbsterklärte #1 Astrid Müller Fan hat jedoch mehr als ein Autogramm im Sinn, als er die beiden Frauen in eine vergangene Erinnerung von sich entführt und dort zurücklässt, die ihn als misogynen Serienkiller entlarvt.

Volume 3 führt nunmehr neue Figuren ein, wie Artus und auch Derica, die mit dem obligatorischen Vulgär-Mundwerk à la Exorcist ausgestattet ist. Ihre Funktion will sich jedoch nicht wirklich erklären. Dasselbe ließe sich über Marcus Tyrell Webber sagen, einen Anhänger der Dämonen, der zwar optisch durch Selbstverschandelung cool aussieht, aber keine rechte Luft zum Atment erhält. Eine ganze Ausgabe widmet sich mit Mary Carmody einem Mitglied von Astrids Sekte, sodass man denken würde, sie wird eine bedeutende Rolle einnehmen – tut sie dann aber nicht. Kurzum: Der finale Band ist ohne Struktur und Ordnung inszeniert, sodass es nicht überrascht, dass der Kampf Gut gegen Böse entsprechend überhastet ein Ende findet.

Zuvor hatte Astrid die Dämonen als gelangweilte Außenseiter eingeführt, von ihrer Rasse verstoßen. “The sadists, the killers, the torturers and rapists”, so Astrid. Was wiederum bedeutet, dass es irgendwo andere Dämonen gibt, auf die all dies nicht zutrifft. Engel vielleicht? Wobei die Serie die Dämonen ohnehin eher als Außerirdische behandelt. Was nun genau die Handlung war, will sich einem abschließend nicht vollends erschließen, während zuvor als gefährliche Widersacher eingeführte Charaktere wie der Chirurg hier von ein paar Rednecks mit Baseballschlägern zusammengeschlagen wird. Was genau wollte nun Astrids Sekte eigentlich erreichen? Denn der Ausgang von Volume 3 wäre jederzeit zu einem anderen Zeitpunkt möglich gewesen.

Mutmaßen ließe sich nun, dass Simone die Serie für andere Aufgaben aufgibt und daher zu einem Ende bringen wollte. Schließlich hat sich Zeichner Jon Davis-Hunt bereits verabschiedet – was einem bereits bei einem Blick in die Panels ins Auge springt. Walter Geovani und auch Sanya Anwar, die eine Ausgabe übernommen hat, weisen einen deutlich hässlicheren Zeichenstil auf, der nicht nur mit Davis-Hunt Stil bricht, sondern sich auch voneinander unterscheidet. Insofern sehen Figuren wie Astrid, Chloe und Killian mal so, dann wieder so aus, was verstört. Wozu dann Figuren wie Mary eingeführt werden, anstatt die Panels als Hintergrundoption für beispielsweise Capones Vergangenheit zu nutzen, bleibt wie der Plot ein Mysterium für sich.

Letzten Endes hat Clean Room aus einer grundsätzlich vielversprechenden Prämisse wenig bis nichts gemacht. Auch in Volume 3 sehen wir leise Echos des Potentials eines They Live!-Szenarios mit den Dämonen, die mitten unter uns leben. Nur wurde dies nie wirklich vertieft, so wie auch Chloe eine besondere Rolle zukam, deren Bedeutung keine Erläuterung erfand. Aufgrund der eher düsteren Elemente – auch hier wieder mit Artus als Serienmörder – hätte Clean Room durchaus eine Sonderstellung einnehmen können. Entweder fehlte jedoch die Resonanz unter den Lesern oder das Interesse bei den Produzenten. So bleibt nur ein reichlich unsauberes, frustrierendes Ende eines Comics, das unter seinen Möglichkeiten blieb.

6/10


Paper Girls - Volume 3

I think tradition is fucking garbage.

Nostalgie zu evozieren, kann eine schöne Sache sein. Viele Filme aus der Kindheit schätzt man wohl hauptsächlich, weil man mit diesen aufgewachsen ist. Das Erlebnis steht somit über der eigentlichen Qualität. Wer zu sehr auf einen Nostalgie-Bonus setzt, kann das Pendel aber auch schnell in die andere Richtung umschlagen lassen. So biederte sich Stranger Things auf nahezu ekelhafte Art und Weise an die 1980er Jahre Popkultur an, nur noch übertroffen vom ersten Teaser-Trailer zu Steven Spielbergs Ready Player One. Jemand, der sich ebenfalls einer solchen Popkultur-Anbiederei schuldig macht, ist Brian K. Vaughan in seiner Comic-Serie Paper Girls. Hier folgt eine Referenz auf die nächste – und das meist ohne wirklichen Hintersinn.

Nach den Ereignissen der ersten beiden Bände landen Erin, Mac, KJ und Tiffany nun in einer prähistorische anmutenden Welt voller riesiger aggressiver Monster, wo sie bei einer Begegnung mit einem solchen bereits kurz darauf wieder voneinander getrennt werden. Während KJ und Mac versuchen, erneut zu den anderen zwei aufzuschließen, lernen die derweil in Wari eine gleichaltrige Einheimische kennen. Wari ist eine junge Mutter, die ihren Sohn Jahpo vor drei Männern beschützen will, die den Säugling als Vater jeder für sich reklamieren. Zur selben Zeit reist Dr. Qanta Braunstein vom Team Apple X aus der Zukunft in die Vergangenheit, um dort unerwartet in das Abenteuer unserer vier Protagonistinnen verwickelt zu werden.

Aufgrund der Welt und seiner Lebewesen hält sich Vaughan nicht lange damit auf, mit Land of the Lost die erste Referenz auf die Leser loszulassen. Passend dazu dürfen The Flintstones später nicht fehlen, auch Planet of the Apes bietet sich an. Aber unsere Mädchengruppe findet auch noch Gelegenheit, mal wieder Star Trek zu referieren, nebst A Hitchhiker’s Guide Through the Galaxy und MacGyver. Wieso ein Quartett jugendlicher Mädchen durchweg miteinander via TV- und Kino-Referenzen kommuniziert, bleibt offen. Genauso wieso Vaughan meint, den Leser mit seinen Vergleichen penetrieren zu müssen, anstatt den die Assoziation gegebenenfalls einfach selbst ziehen zu lassen. Es muss nicht alles ausbuchstabiert werden.

Abseits davon tut sich in der Welt von Paper Girls immer noch relativ wenig. Mit Qanta Braunstein begegnen wir einer neuen Figur, über die wir jedoch nahezu nichts erfahren. Scheinbar ist sie die erste Zeitreisende ihrer Geschichtszeichnung, was genau hinter Apple X steckt, wird jedoch nicht erläutert. Dafür setzt dies die zahlreichen Apple-Hinweise fort (so führt Braunstein ein Gerät namens iBeam mit sich). Auf einer späteren Splash-Seite sehen wir auch den Anführer der Erwachsenen aus der Zukunft wieder, ohne dass ein Zusammenhang zwischen den Mädchen, Braunstein und ihm wirklich deutlich wird. Was angesichts der Tatsache, dass wir uns inzwischen am Ende von Volume 3 befinden, etwas planlos anmutet.

Im Vergleich dazu hatte Vaughan in Saga vom Fleck weg deutlich gemacht, um was es in der Geschichte genau geht. Auch wenn dort in Regelmäßigkeit Widrigkeiten auftauchen, die das Prozedere in die Länge ziehen. Wohin sich Paper Girls entwickelt, ist jedoch nicht ausformuliert, außer dass die namentlichen Zeitungsmädchen von einer Zeitepoche in die nächste springen, um sich dort behaupten zu müssen, während eine von ihnen mit Wahrheiten über sich selbst konfrontiert wird. So hadert Mac weiterhin mit ihrer drohenden Leukämie und KJ erlebt ihren ersten Menstruationszyklus. Gerade diese Szenen und Momente funktionieren besser als die Sci-Fi-Apple-Geschehnisse, da sie greifbarer sind und einen narrativ abholen.

Was Paper Girs in seiner Phase der Stagnation bräuchte, wäre eine Hilfsfigur, die den Charakteren – und damit den Lesern – erklärt, wo sie sich befinden. Sowohl zeitlich als auch was die Prämisse der Erzählung anbelangt. Am ehesten scheint dies in der Zukunft möglich, wohin die Mädchen am Ende immerhin wieder auf dem Weg sind. Grundsätzlich wirkt es jedoch so, als wüssten Vaughan und Chiang nicht so recht, wohin sie mit ihrer Serie hin wollen. Und wenn sie es wissen, sollten sie langsam einen Zahn zulegen. Denn so schön die Welt und die Figuren auch sind, irgendwann ist der nächste Schritt notwendig. Immerhin sind die Mädchen jetzt zurück – zurück in der Zukunft. Eine Referenz, die wohl auch Vaughan in Volume 4 bringt.

6.5/10

8. September 2017

Twin Peaks: The Return

When you get there, you will already be there.

Der Duden beschreibt Nostalgie als Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit. Sie ist zur Zeit wieder in Mode, die Nostalgie – speziell die 1980er Jahre, die als Schablone für filmische Produkte wie Stranger Things, das It-Remake oder Steven Spielbergs kommenden Ready Player One dienen. Auch die Erinnerung an 80er-TV-Shows wie 21 Jump Street und Baywatch wurde zuletzt im Kino gepflegt und die sind dabei keinesfalls die Ausnahme von der Regel. Revival ist das magische Wort der Fernsehlandschaft im Moment, so gab es nach acht Jahren die Rückkehr von Prison Break, 14 Jahre hatten The X Files geruht und auf Netflix herrscht nach 21 Jahren plötzlich wieder Leben in der Bude des Fuller House.

Ebenfalls ein Revival, wenn auch eines der etwas ungewollt stringenteren Form, ist Twin Peaks: The Return. Anfang der 1990er Jahre veränderte die Serie von David Lynch und Mark Frost mit der Aufklärung des mysteriösen Todesfalls um Teenager Laura Palmer das Fernsehen. Vor den Insel-Rätseln von Lost und den ungelösten X-Akten des FBI war es Twin Peaks, das auf sehr ungewöhnlich-gewöhnliche Art mit verschiedenen Genre-Konventionen spielte und seine Grenzen auslotete. Kulminierend in einem wahnwitzigen Serienfinale und dem atmosphärisch ähnlichen Prequel-Film Twin Peaks: Fire Walk With Me. Zu dem Zeitpunkt als Twin Peaks endete, war zwar aufgelöst, wer Laura Palmer getötet hatte. Doch viele andere Fragen blieben zugleich.

“I’ll see you again in 25 years”, hatte sich Laura (Sheryl Lee) damals in Episode Twenty-Nine von FBI-Agent Dale Cooper (Kyle MacLachlan) im Red Room der Black Lodge verabschiedet. Und nun, quasi exakt jene 25 Jahre später, knüpfen David Lynch und Mark Frost in Part 1 von Twin Peaks: The Return an jenen Abschied an. Konzipiert als beinahe 18-stündiger Film, der in 18 Teilen erzählt wird, hat das Revival allenfalls oberflächlich und in Facetten etwas mit Twin Peaks gemein. Zwar nimmt es direkt Bezug auf das Serienfinale und Fire Walk With Me, zuvorderst ordnet sich The Return aber eher in Lynchs jüngere Filmografie ein: Quasi als experimentelles serielles Erzählen im Stile seiner Werke wie Mulholland Drive oder Lost Highway.

Twin Peaks: The Return ist eine Verquickung dieser beiden Lynch-Welten. Es gibt ein Wiedersehen mit vielen der Figuren aus der Serie und dem Film – nicht alle von ihnen verlaufen glücklich. Genauso wie nicht jede Figur zwingend einen Platz im Revival hat, egal ob sie neu zum Ensemble dazu stößt oder von Anfang an dabei war. So leitet Norma (Peggy Lipton) weiter ihr Double-R-Diner, wo Shelly (Mädchen Amick) ebenfalls weiter den Kaffee ausschenkt und Kuchen serviert. Während Erstere sporadisch ihre Romanze mit Big Ed (Everett McGill) weiterspinnen darf, verliert sich Letztere primär in einem weitestgehend unbedeutenden Nebenplot um ihre Tochter Becky (Amanda Seyfried), die dieselben Fehler macht, wie ihre Mutter einst.

Viele der früheren Twin Peaks-Figuren tauchen hierbei in derartigen Handlungssträngen auf, so auch James (James Marshall) als schmachtend Verliebter oder Dr. Jacoby (Russ Tamblyn), der sich in einer amüsanten Alex-Jones-Persiflage im Internet als “Dr. Amp” über die Regierung und den Ist-Zustand generell aufregt. “We all live in the mud”, erklärt Jacoby in einem Werbeclip, der dazu dient, von ihm mit Goldfarbe besprühte Schaufeln zu verkaufen. “Shovel your way out of the shit!”, ermuntert er seine Zuschauer. Und spricht unwissentlich durchaus in gewisser Weise über die Thematik, die Twin Peaks: The Return über weite Strecken innewohnt. Zumindest für Agent Cooper gilt diese Aufforderung, sich aus einem Ärgernis befreien zu müssen.

Dale Cooper steckt weiter in der Black Lodge fest – zumindest bis MIKE (Al Strobel) ihm einen Weg aufzeigt, den Red Room zu verlassen. “Is it future? Or is it past?”, wird Cooper von dem Einarmigen in Part 2 gefragt. Die Zeit steht still in der Black Lodge, auch wenn dies nicht ohne Folgen bleibt. Zwar gelingt Cooper bereits in Part 2 die Flucht aus dem verfluchten Ort, doch seine Rückkehr – nicht nur nach Twin Peaks, sondern zu seiner eigenen, alten Identität – wird beinahe die gesamte Laufzeit des Revivals in Anspruch nehmen. Eine Odyssee der absurd-redundanten Irrelevanz gewissermaßen, als Agent Cooper schließlich den Platz und das Leben eines weiteren von BOB fabrizierten Doppelgängers von sich in Las Vegas beansprucht.

Die Passagen rund um Dougie Jones (Kyle MacLachlan) entsprechen dem ins Extreme verschobenen komödiantischen Stilmittel der Repetition wie sie sich in Family Guy oder auch den Komödien von Will Ferrell oft findet. Als Versicherungsvertreter befindet sich Cooper fortan den Großteil der Serie im Dauerzustand einer katatonischen Apathie. In dieser ist er weder zu motorischen Bewegungen noch verbalem Austausch fähig – seine Liebe zum Kaffee behält er jedoch. Der Humor liegt dabei einerseits in MacLachlans perfekter Darbietung, unter anderem als Spielautomaten-Rain Man Mr. Jackpots (“Hello-oooooo”), aber auch in der unglaublichen Akzeptanz seiner sozialen Umwelt wie Gattin Janey-E (Naomi Watts) ob seines Zustands.

Immer wieder beobachten wir Ereignisse oder treffen Figuren, von denen zuerst unklar ist, ob sie von irgendeiner Relevanz sind – oder es noch sein werden. Sei es Ashley Judd als neue Assistentin Beverly von Ben Horne (Richard Beymer) in dessen Great Northern Hotel und ihr pflegebedürftiger Ehemann, Balthazar Getty als Drogendealer Red mit Hang zu Zaubertricks oder Charlyne Yi als junge Frau, die eines Abends im Roadhouse plötzlich von Panik befallen wird. Wiederholt wird von einer Figur namens Billy gesprochen, ohne dass wir diese jemals sehen oder erklärt bekommen, welche Bedeutung ihr zukommt. “I feel like I’m somewhere else”, entfährt es da Audrey Horne (Sherilyn Fenn) in Part 13. Und so geht es wohl vielen.

In vereinzelten, verstörten Äußerungen teilten Zuschauer online mit, dies sei nicht ihr Twin Peaks aus den 1990er Jahren. Die Rückwendung in die verklärte Zeit misslingt – natürlich weil Lynch und Frost sie auch nicht bemühen. Stellenweise versuchen sie sich am Entmystifizieren des Mythos’ der Serie, verfolgen dies aber in der Regel nicht weiter. So widmet sich nahezu der ganze Part 8 in einer kongenialen Inszenierung der Entstehung von BOB (Frank Silva) und der Rolle von Laura. Eingestreut in Atomwaffen-Tests im New Mexico von 1945, überwechselnd ins Jahr 1956, wenn am selben Ort Froschkäfer aus Wüsteneiern schlüpfen und ölige Holzfäller aus der anderen Dimension mordend eine lokale Radiostation aufsuchen.

Ähnlich skurril war zuvor schon Coopers Flucht in die Wirklichkeit in Part 3 inszeniert worden. In Schwarzweiß gehaltener Optik, oft visuell und auditiv verzerrt, lebt Lynch hier seinen Avantgardismus aus. Evoziert Frühwerke wie Eraserhead und schert sich sichtlich keinen Deut darum, Antworten zu liefern oder selbst da, wo er sie beginnt, auch abzuschließen. “This is the water, and this is the well”, verkündet der Holzfäller in der Radiostation in Part 8 kryptisch. “Drink full, and descend.” – Trinkt dich voll und steig hinab in die Untiefen des Twin Peaks-Universums, könnte er genauso gut zum Zuschauer sprechen. So wie Sarah Palmer (Grace Zabriskie) später in Part 14, als sie einen aufdringlichen Bar-Gast fragt: “Do you really wanna fuck with this?”

Eine Frage, die sich auch viele Figuren in Twin Peaks stellen könnten, sei es Audreys soziopathischer Sohn Richard Horne (Eamon Farren), der wie sein Großvater im lokalen Drogengeschäft involviert ist, oder auch das FBI-Duo um Gordon Cole (David Lynch) und Albert (Miguel Ferrer). Aufgerüttelt durch mysteriöse Mordfälle in New York und dem scheinbaren Auftauchen der kopflosen Leiche von Major Briggs sowie von Coopers bösem Doppelgänger (Kyle MacLachlan) in South Dakota beginnen sie mit der jungen Agentin Tammy (Chrysta Bell) die Ermittlungen in einem neuen “Blue Rose”-Fall. Zu diesem stößt wenig später auch Diane dazu, die nach zahlreichen Cooper-Referenzen dank Lynch-Muse Laura Dern nach 25 Jahren ein Gesicht erhält.

Ihre eigenen Ermittlungen verfolgen die Beamten in Twin Peaks um Hawk (Michael Horse), Andy (Harry Goaz) und Lucy (Kimmy Robertson). Mit Sheriff Frank Truman (Robert Forster), Bruder des an Krebs erkrankten Harry, rollen sie den Fall um Laura Palmer und Dale Cooper wieder auf. Unterstützt von Bobby Briggs (Dana Ashbrook), der, wie es der Zufall so will, inzwischen selbst für das Sheriff’s Department arbeitet. Twin Peaks: The Return jongliert weitestgehend überaus geschickt all diese Handlungsstränge, die nur peripher im Zusammenhang zueinander stehen. Sei es, wenn Tim Roth und Jennifer Jason Leigh ein Tarantino-eskes Auftragskiller-Duo mimen oder Robert Knepper und Jim Belushi gutmütige Casino-Gangster-Brüder.

Über allem schwebt natürlich dennoch die Frage nach dem Warum und Wieso dieser Welt. “Our world is a magical smoke screen”, hatte die Log Lady (Catherine E. Coulson) in Episode Twenty-Seven gesagt. Aufgrund des Ablebens der Darstellerin in 2015 – nicht der einzige Verlust im Ensemble, so verstarb Miguel Ferrer Anfang des Jahres – kommuniziert diese im Revival ausschließlich mit Hawk per Telefon. Ist aber kryptisch wie eh und je. “Now the circle is almost complete”, teilt sie Hawk in Part 10 mit. Die zeitliche Einordnung der Ereignisse ist von Bedeutung, nun, 25 Jahre später. Weshalb auch immer. “If we’re not at the right place at exactly the right time, we won’t find our way in”, wusste schon Cooper in Episode Twenty-Eight.

Twin Peaks: The Return gebiert sich hier stellenweise als vorherbestimmtes Schicksal in Lost-Manier. Wo Ereignisse der Gegenwart lange in der Vergangenheit bereits vorausgedeutet und Figuren wie Wachmann Freddie (Jake Wardle) in Position gebracht wurden. Wenn wir dann erleben, wie Phillip Jeffries über Judy spricht, erscheint es so, als würden Lynch und Frost uns Antworten geben, stattdessen werfen sie aber eher neue Fragen auf. Im Kern geht es in den beiden finalen Part 17 und Part 18 dann erneut darum, dass Agent Cooper irgendwie – und: irgendwann – doch noch Laura Palmer retten kann. Denn wie die Log Lady in Part 15 in einer Selbstreferenz gegenüber Hawk deutlich macht: der Tod sei “just a change, not an end”.

Was die Zuschauer mit dem Revival tatsächlich sehen, bleibt offen. Lynch macht hier wie schon in Fire Walk With Me Andeutungen, es könnte sich nur um einen (Fieber-)Traum handeln. “We live inside a dream!”, hatte Phillip Jeffries (David Bowie) im Prequel-Film behauptet. Eine Vermutung, die Gordon Cole in einem Traum von Monica Bellucci bestätigt zu werden scheint. “We are like the dreamer who dreams and then lives inside the dream”, teilt die italienische Schauspielerin dem FBI-Direktor darin mit. Und stellt die entscheidende Frage: “But who is the dreamer?” Ob Traum oder Realität, die Welt von Twin Peaks meint es so oder so mit vielen ihrer Figuren nicht allzu gut. Wenn auch stets mit einer gewissen Prise schwarzem Humor.

“Things can happen!”, erregt sich da Sarah Palmer in Part 12 im Supermarkt. “Something happened to me!” Damit steht sie natürlich nicht allein, auch mit Dale Cooper und Audrey Horne geschah etwas, das sie veränderte. Genauso wie mit Diane. Echtes Glück blieb nur wenigen Charakteren vorbehalten, allen voran Andy und Lucy mit ihrem Sohn Wally “Brando” (Michael Cera) oder – wenn auch spät – Norma und Big Ed. Für viele andere wartet dagegen nur der Tod oder der Weg hin zu diesem, deutlich am Krebstod vieler der Darsteller wie Catherine E. Coulson und Miguel Ferrer vor der Ausstrahlung. Es bleibt nur die Hoffnung, dass diese Traurigkeit nicht von zu langer Dauer ist. “One day the sadness will end”, sagte die Log Lady in Episode Three.

Wie bereits in den ersten beiden Staffeln haben David Lynch und Mark Frost mit diesem ungewöhnlichen Revival erneut die Grenzen des Fernsehens ausgelotet. Voller abstrakt-genialer Momente wie in Part 3 oder Part 8, kulminierend in einem starken kryptisch-mystischen Finale rund um Part 15, Part 16 sowie dem brillanten Ausklang in Part 18. Wer sich von Twin Peaks: The Return eine nostalgische Rückbesinnung zu den Anfängen der Serie erhoffte, muss jedoch genauso enttäuscht werden wie diejenigen, die nach ultimativen Antworten auf offene Fragen lechzten.“Is there an answer? Of course there is”, verriet allerdings schon in Episode Thirteen die Log Lady. “As a wise person said with a smile: ‘The answer is within the question.’”

9/10

1. September 2017

Toivon tuolla puolen [Die andere Seite der Hoffnung]

I don’t understand humor.

Das Flüchtlingsproblem ist ein bewegendes Thema – nicht nur im Alltag, sondern auch im Kino. Speziell bei der Jury der Berlinale scheinen Filme zur Flüchtlingskrise auf offene Ohren zu stoßen. So erhielt Gianfranco Rosi im vergangenen Jahr für seinen Dokumentarfilm Fuocoammare über angeschwemmte Flüchtlinge auf der Mittelmeerinsel Lampedusa den Goldenen Bären. Dieses Jahr prämierte die Jury derweil mit Toivon tuolla puolen (in Deutschland als „Die andere Seite der Hoffnung“ vertrieben) eine lakonische Dramödie über die Asyl-Situation in Helsinki. Der finnische Auteur Aki Kaurismäki erhielt für seinen 18. – und nach eigenen Aussagen angeblich finalen – Spielfilm dafür den Silbernen Bären für die Beste Regie.

Kern der Geschichte bildet dabei das Schicksal des syrischen Flüchtlings Khaled (Sherwan Haji), der in Helsinki Asyl beantragt. Der Bürgerkrieg in seiner Heimat beraubte ihn seiner Verlobten sowie seiner Familie. Nur Schwester Miriam überlebte, auf der gemeinsamen Flucht nach Europa wurden die Geschwister jedoch an der Grenze getrennt. Khaled sucht nun zum einen nach Asyl in Finnland, will zum anderen aber auch seine Schwester wiederfinden. Nach einen Neuanfang sehnt sich unterdessen auch Wikström (Sakari Kuosmanen), der zu Beginn seine Tätigkeit als Handelsvertreter für Hemden aufgibt und seine Frau verlässt, um seinen Traum als Gastronom eines eigenen Restaurants in die Tat umzusetzen.

Über weite Strecken lässt Kaurismäki die Geschichten von Khaled und Wikström dabei parallel zueinander laufen, ehe sie der 60-jährige Regisseur für den finalen Schlussakt zusammenführt. Wikströms Ambitionen, im heruntergekommenen Lokal „Zum goldenen Krug“ sein Glück als Restaurateur zu finden, wohnt dabei am ehesten der für Kaurismäki typische Humor inne. Nicht zuletzt dank dessen wenig motivierten Personal rund um Maître d’hôtel Calamnius (Ilkka Koivula) und Praktikanten-Kellnerin Mirja (Nuppu Koivu). Eine „erstklassige Lage“ hatte Wikström da der Immobilienmakler versprochen, in der „viele reiche Studenten“ leben würden. Von denen sieht man in der Folge jedoch wenig im „Goldenen Krug“.

„Beruflich verändern“ wolle er sich, erklärt Wikström noch eingangs. Und versucht daher, einer seiner Kundinnen seinen gesamten Lagerbestand zu verkaufen. Die Ladenbesitzerin hat aber kaum Interesse an den Hemden des Maklers, plant vielmehr selbst ihre Auswanderung nach Mexiko-Stadt. „Die Zeiten sind schlecht“, erklärt sie. Lobt aber Wikströms Restaurant-Idee. Die verspreche „ein einträgliches Geschäft“, denn in schlechten Zeiten würden die Leute viel trinken – in guten sogar noch mehr. Zur finanziellen Win-Win-Situation will das Restaurant aber nicht so recht werden, trotz etwaiger – liebevoll dilettanitsch umgesetzter – kulinarischer Kurskorrekturen seitens Wikström und seines Teams. Doch die Hoffnung, sie stirbt zuletzt.

Noch weniger Spaß hat Khaled. Pflichtbewusst beantragt er nach seiner Ankunft Asyl bei der nächsten Polizeistation. Kein Problem sei dies, sagt ihm der Beamte: „Sie sind nicht der Erste.“ In der Tat trifft der junge Syrer in der Unterbringungszelle auf zwei andere Flüchtlinge, darunter auch Mazdak (Simon Hussein Al-Bazoon). Fünf Aufnahmestellen hat der Iraker bereits hinter sich, seit einem Jahr hält er sich in Finnland auf. Und klagt ein auch hierzulande bekanntes Lied für Flüchtlinge: Es gehe für ihn weder vor noch zurück. „Ich brauche Arbeit“, sehnt er sich nach Beschäftigung, ohne einen Job in Aussicht zu haben. Dennoch gibt er Khaled Tipps, wann er lächeln sollte und wann besser nicht. Nicht jeder ist so hilfsbereit, wie Khaled hörte.

Weitestgehend liefert Toivon tuolla puolen eine leicht romantisch verklärte Sicht auf die Flüchtlingskrise, inszeniert sich bisweilen wohl auch seines Humors Willen als Sozialmärchen. Selbst wenn der Film nicht alles beschönigt, so wie die Sicht des finnischen Außenministeriums zur politischen Situation in Aleppo. Genauso auch wenn Khaled wiederholt auf eine Truppe Rechtsradikaler trifft, die sich unter dem Namen „Liberation Army Finland“ firmieren, was wohl als filmisches Pendant zur realen ähnlichen Gruppierung der Soldiers of Odin in Skandinavien gedeutet werden kann. Dennoch klingt Kaurismäkis Sozialkommentar stets eher minimal und subtil an, anstatt die gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten.

Natürlich kann auch dies als Kommentar verstanden werden, wenn Khaled sachlich-nüchtern von all den Toten erzählt, die ihm der syrische Bürgerkrieg beschert hat. Quasi wenn der Schock zum Alltag wird. Wie er es geschafft habe, alle Grenzen in Europa teils mehrmals zu überqueren, wird er da von einer staatlichen Behördenmitarbeiterin gefragt. „Alle haben weggesehen“, erklärt Khaled. „Wir verursachen Probleme.“ Mit dem Grenzübergang werden diese Probleme weitergereicht an die Behörden des Nachbarstaates. Ein etwas intimerer Blick in das Innenleben von Khaled und Mazdak wäre aber vielleicht nicht verkehrt gewesen. So sehen wir – typisch für einen Kaurismäki-Film – die Flüchtlinge zumeist gelangweilt beim Rauchen.

Toivon tuolla puolen ist somit in gewisser Weise durchaus repräsentativ. So entfiel von den 1.135 Asylanträgen, die allein zwischen Januar und März 2017 in Finnland eingereicht wurden, jeder Dritte auf einen Flüchtling aus Irak oder Syrien. Diese harren in den Aufnahmestellen der Dinge, können nicht arbeiten, sind teilweise von ihren Familienmitgliedern getrennt und müssen sich mit Animosität mancher Einheimischer auseinandersetzen. Erfahren aber auch viel Zuspruch und Unterstützung. So wie Khaled im Film, sei es bei etwaigen Fluchtversuchen oder später, wenn sich Wikström seiner annimmt. Da verwundert es nicht, dass Kaurismäki seine Geschichte trotz dramatischer Ereignisse zum Schluss versöhnlich enden lässt.

Der finale Film im Œuvre des finnischen Kultregisseurs – insofern es denn bei seiner Ankündigung bleibt – scheint dabei ein würdiger Vertreter seines Schaffens zu sein. Ich selbst bin mit Kaurismäkis Filmografie nur vereinzelt vertraut, störte mich gar nicht so sehr am reduzierten Spiel des Ensembles und amüsierte mich zugleich über den visuellen Look des Films, der wirkt, als verorte sich die Handlung ans Ende der 1980er oder Anfang der 1990er. Narrativ hätte ich mir dennoch einen stärken Pendelausstoß in eine der beiden Genre-Richtungen gewünscht. So ist Toivon tuolla puolen als Drama etwas zu unernst und als Komödie wiederum zu seriös. Vielleicht war es aber auch gerade das, was die Berlinale-Jury im Frühjahr angesprochen hatte.

6/10