23. August 2013

Jagten

Da werden die Männer zu Mäusen und die Mäuse zu Männern.

Schon Martin Luther sagte, eine Lüge sei wie ein Schneeball. „Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.“ Eine ähnliche Erfahrung muss auch Mads Mikkelsens Kindergärtner Lucas in Thomas Vinterbergs Jagten machen als ihn eines der Kinder des sexuellen Übergriffs bezichtigt. Er habe dem Kind seinen erigierten „Pippimann“ gezeigt – kurz darauf ist Lucas erst arbeitslos, dann seine Nase gebrochen, sein Sohn verprügelt und sein Hund ermordet. Bei Kindern hört der Spaß eben auf, das scheint auch Lucas zu ahnen als er erstmals von der Bezichtigung erfährt. Besondere Dramatik erhält das Szenario dann dadurch, dass es sich bei dem betroffenen Kind um die Tochter von Lucas’ besten Freund handelt.

Im vergangenen Jahr kam es in Deutschland laut dem Bundeskriminalamt zu 14.865 sexuellen Missbrauchsfällen mit Kindern, fast jeder Dritte davon (32,2 Prozent) durch Bekannte der Familie. Ähnlich wie Jodaeiye Nader az Simin entschließt sich Jagten, dem Publikum zu zeigen, dass der Protagonist unschuldig ist und beschränkt sich auf die Darstellung wie der Schneeball fortan gewälzt wird. Verschiedene Dinge bleiben daher außen vor, allen voran das vermeintliche Opfer in Person von Klara (Annika Wedderkop). Der Film spricht es zwar nicht an, aber es ist offensichtlich, dass das Mädchen an einer Zwangsneurose leidet – genauso wie unter ihrem zerrütteten Zuhause mit ihren beiden verstrittenen Elternteilen.

Diese verlieren Klara mehrfach aus den Augen, sodass sie auf sich allein gestellt durch das heimische Dorf wandert. In Lucas findet das Kind dann jene Fürsorge, die ihm daheim nicht vergönnt ist. Ein Liebesbeweis wird von dem Kindergärtner jedoch abgewiesen, was zur Lüge aus dem Mund des Mädchens führt. Die Leiterin der Tagesstätte alarmiert daraufhin die Polizei und setzt sich mit den Eltern zusammen, um sie zu informieren, dass ihre Kinder vermutlich alle missbraucht wurden, da eines der Symptome Albträume seien. Schnell ist Lucas vorverurteilt, was umso beeindruckender ist, da es sich dabei um Freunde aus seiner eigenen Jugend handelt. Angefangen mit Klaras Vater Theo (Thomas Bo Larsen).

Für Vinterberg ist Jagten ein Film über Liebe, Freundschaft und den Verlust von Unschuld. Ein wirkliches Gespür für diese Freundschaft bietet sein Film allerdings nicht. Zu schnell und bereitwillig wendet sich bis auf einen Freund – dieser allerdings nicht öffentlich – und seinen Sohn jeder von Lucas ab. Der Film lässt viele Fragen offen, beispielsweise wenn eine sich verlaufene Klara nicht jenen Supermarkt wiedererkennt, in dem ihre Familie scheinbar regelmäßig einkauft, dann aber problemlos alleine zu Lucas’ Haus findet. Offenbar geht ihr Vater öfters mit ihr zu Lucas als Einkaufen. Währenddessen wird Mikkelsens Figur immer mehr von der Identifikationsfigur zum Ärgernis – ein Opfer bleibt sie dabei durchweg.

„Du lässt dir zu viel gefallen, das hab ich immer gesagt“, muss sich Lucas da an einer Stelle auch von einem Freund sagen lassen. Dies soll von Vinterberg womöglich christlich konnotiert werden, gemäß Matthäus 5,39: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“. Entsprechend ließe sich dann auch das absurde Finale lesen. Nur wirkt Lucas in seiner Passivität und seinem fehlenden Aufbegehren nicht gerade wie jemand, der tatsächlich unschuldig ist. Und wüsste es der Zuschauer nicht, würde man es ihm vermutlich auch nicht glauben. Eine entsprechende Ambiguität wie sie vergleichsweise der thematisch nicht unähnliche Doubt an den Tag legte, spart sich Vinterberg allerdings.

Vielleicht nicht die klügste Entscheidung wie Jagten sich zudem insgesamt zu oft selbst im Weg steht. So überzeugt Vinterbergs Geschichte letztlich weder wirklich als Film über sexuellen Kindesmissbrauch, noch als einer über Liebe, Freundschaft und Unschuldsverlust. Das Ende setzt dem Ganzen schließlich die Krone auf. Der polnische Schriftsteller Stanisław Jerzy Lec sagte mal, es gäbe keine ewigen Wahrheiten, ewige Lügen dagegen schon. In eine ähnliche Richtung zielte wohl Vinterberg, allerdings nicht im Dienste seines Protagonisten. Dieser wird von Mads Mikkelsen zwar eindringlich mit Bravour gespielt, nur verkommt sein Lucas eben auch zum Schluss weniger zum Mann und bleibt stattdessen eine Maus.

5/10

Blu-ray
Die Detailschärfe und Tiefe des HD-Transfers sind nahezu makellos ausgefallen, der Film wird dem Bild somit nicht gerecht. Auch die Tonspur überzeugt durch ihre Räumlichkeit und gute Verständlichkeit bei den Dialogen. In der Synchronfassung wird Mikkelsen nach fast einem Jahrzehnt wieder von Matthias Klie statt Lutz Schnell oder Axel Malzacher gesprochen (was wohl an Klies sanfterer Stimme lag). Vorzuziehen ist aber natürlich das dänische Original mit deutschen Untertiteln. Zu den Extras zählen ein paar geschnittene Szenen, die den Film noch tiefer geritten hätten als er bereits ist, und zwei kurze Interviews mit dem Regisseur sowie dem Hauptdarsteller.

17. August 2013

Mud

You gotta know what’s worth keeping and what’s worth letting go.

Schon Neil Young sang vor über 40 Jahren “only love can break your heart” und damit von einer Erfahrung, die wohl die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens machen müssen. Und wohl kaum so oft wie in den jungen Jahren des Erwachsenwerdens. Entsprechend liefert die Liebe in all ihren Facetten seit jeher den Stoff für romantisch-dramatische Geschichten, zu denen sich nunmehr auch Jeff Nichols’ dritter und jüngster Spielfilm Mud gesellen darf. Mit diesem schließt der Regisseur nahtlos an die Qualität seiner Vorgänger Shotgun Stories und Take Shelter an und untermauert mit seiner universellen Inszenierung seine aktuelle Stellung als eines der vielversprechendsten Regie-Talente in den USA.

Angesiedelt in seiner eigenen Heimat im Arkansas Delta erzählt Nichols eine Coming of Age-Geschichte mit leichten Märchenelementen, wenn die jugendlichen Freunde Ellis (Tye Sheridan) und Neckbone (Jacob Lofland) auf einer kleinen Insel im Mississippi ein von einer Flut in die Baumkronen gespültes Boot entdecken. In diesem haust wiederum mit Mud (Matthew McConaughey) ein wegen Mordes gesuchter Flüchtiger. Er will sich in Kürze mit seiner großen Liebe Juniper (Reese Witherspoone) vereinen, braucht dafür jedoch die Hilfe der beiden Jungs, um das Boot auf Vordermann zu bringen. Der frischverliebte Ellis, dessen Eltern gerade beschlossen, sich scheiden zu lassen, sagt Mud daraufhin seine Unterstützung zu.

Die Handlung und Inszenierung von Mud lässt sich dabei so beschreiben als hätte Mark Twain Great Expectations geschrieben. Ellis und Neckbone begeben sich auf ein Mississippi-Abenteuer und erinnern an Tom Sawyer und Huckleberry Finn, während die Begegnung von Ellis mit Mud und dessen Fluchtplan per Boot Parallelen zu Pips Beziehung mit Magwitch aus Charles Dickens Werk wecken. Dessen Thematik des gebrochenen Herzens ist es, die in Mud allgegenwärtig scheint. Ähnlich wie Estella ist es hier Juniper, die des Helden Herz wiederholt gebrochen hat. Und als sich Ellis im Verlauf des Films mit May Pearl einem Schwarm aus der Schule annähert, läuft er dabei selbst Gefahr, emotional verletzt zu werden.

Derweil ist die Ehe seiner Eltern (Ray McKinnon, Sarah Paulson) bereits am Ende, als seine Mutter die Scheidung will und der Auszug aus dem Familien-Hausboot droht. Nichols zeichnet in seinem Film kein dankbares Frauenbild, unter deren Verhalten hier alle Männer leiden. Eine Wassermokassinotter verstärkt noch zusätzlich den Kontext zum dritten Genesis-Kapitel. Ellis und Neckbone sollen Frauen wie Prinzessinnen behandeln, gibt ihnen zu Beginn eine Bekanntschaft von Neckbones Onkel Galen (Michael Shannon) mit auf den Weg. Der subtile misogynistische Ton von Mud ist es, der dem Film etwas in die Parade fährt, handelt es sich doch ansonsten in der Tat um ein sehr schönes Coming of Age-Drama.

Dieses rückt auch Vater-Sohn-Beziehungen in den Vordergrund. Mit Joe Don Bakers Figur des King Carver schickt der Vater von Muds Opfer seinen zweiten Sohn Carver (Paul Sparks) aus, um mit einer Bande von Kopfgeldjägern den Flüchtigen zu töten. Mud selbst pflegt eine Art väterliches Verhältnis mit Sam Shepards verschlossenen Scharfschützen und auch die Beziehung von Ellis zu seinem alten Herrn spielt eine Rolle. Es ist eine von Männern beherrschte Welt in Mud und Ellis scheint bisweilen hin und hergerissen zwischen allen Möglichkeiten, die sich ihm eröffnen. In Mud begegnet er in gewisser Weise dann einem älteren, nicht minder romantischen Pendant von sich selbst. Und sieht die Konsequenzen.

Ähnlich wie schon in seinen vorherigen Werken schuf Jeff Nichols gezielt einen Film, der von einer sehr bestimmten Stimmung und Atmosphäre beherrscht wird. Zwar sieht das Publikum nicht viel vom Arkansas Delta, dennoch wirkt die Handlung perfekt in dieses eingebettet. Es scheint, Nichols besitzt eine amerikanische Stimme, die er in seinen Filmen überzeugend zu transferieren weiß. Wie bereits zuletzt in Take Shelter wäre auch Mud jedoch gelungener, hätte man den Schluss ambivalenter gehalten. Davon und von dem misslungenen Frauenbild abgesehen, gehört Nichols dritter Film jedoch fraglos zu den gelungensten Werken des Jahres und sein Regisseur zu den größten Hoffnungsträgern im Business.

7.5/10

11. August 2013

Filmjahresrückblick 2006: Die Top Ten

Film lovers are sick people.
(François Truffaut)

Ein Filmjahresrückblick zum Jahr 2006? Bin ich damit nicht ein bisschen spät dran? Sicher, mehr als sechseinhalb Jahre. Aber öfters mal was Neues ist ja auch ganz nett und die Ausrede „vieles davon hab ich nicht gesehen“ könnte sich angesichts des halben Jahrzehnts seit dem Kinostart dieses Mal erübrigen. Dementsprechend habe auch ich nicht jeden Film dieses „Prequels“ meiner bisherigen Filmjahresrückblicke damals bereits gesehen, was dieser Retrospektive sicherlich eine gewisse Sonderstellung verschafft. Dennoch sind die gesichteten Filme nicht vielfältiger ausgefallen als vergleichsweise in späteren Jahren. Aber dazu gleich mehr. Wer sich jedoch nicht auf diese Zeitreise ins Filmjahr 2006 mit mir begeben will, kennt das Spiel ja: Die Bestenliste findet sich am Ende des Beitrages.

Durch die Rückschau kam ich also in den Genuss von 147 Filmen aus dem Jahr 2006, was folglich weitaus mehr sind als in 2007 (105), 2008 (120), 2009 (134) und 2010 (116). Lediglich 2011 (150) sowie im vergangenen Jahr (161) fiel der Konsum höher aus. Logisch also, dass die – allerdings relativ knappe – Mehrheit der Sichtungen auf das Heimkino entfallen muss, wo ich im Gegensatz zu den 69 Kinobesuchen die übrigen 78 Filme gesehen habe. Rund 42 Prozent der Kinobesuche waren dabei der 2006 noch sehr oft frequentierten Sneak Preview geschuldet, bei der ich 29 Mal im Publikum saß. Zwei Mal ein Ticket löste ich lediglich für DreamWorks’ Over the Hedge, während ich damals noch keine Pressevorführungen besucht habe und somit alle Kinobesuche regulär stattfanden.

Solcher war es sicher auch geschuldet, dass Filme wie The Departed und Das Leben der Anderen als große Meisterwerke abgefeiert wurden. Ohnehin avancierte Martin Scorses US-Remake des Hongkong-Klassikers Mou gaan dou mit vier Oscar®-Trophäen zum großen Gewinner des Jahres. Auch bei den Nutzern der IMDb kam The Departed mit einer Wertung von 8.5/10 am besten weg, dicht gefolgt – und das ist durchaus überraschend – von Florian Henckel von Donnermarcks Debütfilm Das Leben der Anderen mit 8.4/10. Der einzige Film, der mit der Popularität dieser Beiden mithalten konnte, war die Comicverfilmung V for Vendetta von James McTeigue mit 8.1/10. Und dann kommt lange nichts, was ob der mäßigen Qualität dieser drei Filme so verwunderlich wie erschreckend ist.

Wenig verwunderlich sind dagegen die erfolgreichsten Filme des Jahres 2006 gewesen. Dabei schickte sich Pirates of the Caribbean: Dead Man’s Chest an, als damals erst dritter Film nach Titanic und The Return of the King die magische Einspiel-Marke von einer Milliarde Dollar zu überschreiten. Und das ganz ohne 3D wohlgemerkt, sondern allein auf dem Erfolg des Vorgängerfilms aufbauend. Ähnliches konnte auch der Zweit- und Drittplatzierte für sich in Anspruch nehmen. Nach dem Hype um Dan Browns Roman avancierte The Da Vinci Code auch zum weltweiten Kinophänomen und setzte sich damit sogar noch vor Ice Age: The Meltdown, der somit der erfolgreichste Animationsfilm des Jahres war (aber dennoch bei den Academy Awards 2007 außen vor gelassen wurde).

Während sich The Da Vinci Code als lachender Dritter – oder in diesem Fall: Zweiter – präsentierte und lediglich in Griechenland und ironischerweise Italien auf Platz 1 der Jahrescharts setzte, fochten Dead Man’s Chest und Ice Age 2 in einer Privatfehde um die Gunst des internationalen Publikums. So enterten Jack Sparrow und Co. unter anderem Japan, Australien, Bulgarien, Thailand, die Niederlande, Spanien, Schweden sowie mit den USA die Heimat des Blockbuster-Kinos. Scrat und seine Bande prähistorischer Säuger obsiegten dagegen in Argentinien, Norwegen, Polen, der Schweiz und hierzulande in Deutschland mit 8,7 Millionen Zuschauern. In den USA schmolz The Meltdown dagegen nur auf Platz 8 und damit noch hinter den späteren Oscar®-Gewinner Happy Feet.

Es gab allerdings auch Nationen, die sich stattdessen – ganz patriotisch – für einen einheimischen Film als Jahresfavoriten entschieden. Die Franzosen untermauerten dabei mit 10,3 Millionen Besuchern für Bronzés 3 - Amis pour la vie ihren Status als Kinofans, während die Russen ganz gespannt auf Dnevnoy dozor (Wächter des Tages), das Sequel zu Nochnoy dozor, waren. In Tschechien setzte sich derweil Obsluhoval jsem anglického krále (Ich habe den englischen König bedient) als Jahressieger durch und in der Türkei mit sehr großem Abstand der Kriegs- und Skandalfilm Kurtlar Vadisi – Irak (Tal der Wölfe – Irak). Im Vereinigten Königreich erfreute man sich wiederum an der Rückkehr von James Bond in Casino Royale, der überraschend auch Spitzenreiter in Finnland wurde.

Dementsprechend darf sich Daniel Craig durchaus zu den Gewinnern des Jahres zählen, überzeugte er entgegen zuvorigen Befürchtungen im Internet als blonder und blauäugiger 007 im Geheimdienst ihrer Majestät. Bereits angesprochen waren die bei den Academy Awards honorierten Martin Scorsese und Florian Henckel von Donnersmarck, aber auch Danny Huston darf mit dem Kinojahr 2006 zufrieden sein. In vier Filmen (Children of Men, The Proposition, The Constant Gardener, Marie Antoinette) war der Sohn von Regie-Legende John Huston zu sehen und schlug sich in allen von ihnen beachtlich – wenn auch nur in Nebenrollen. Ebenfalls auf sich aufmerksam machten die Globale Erwärmung in Al Gores Dokumentarfilm An Inconveniant Truth und Sacha Baron Cohens kultige Kunstfigur Borat.

Schauspielerisch setzte 2006 niemand allzu große Glanzlichter, dennoch wusste bei den Männern Heath Ledger sowohl im Drogen-Biopic Candy als auch im Liebesdrama Brokeback Mountain zu überzeugen. Bei den Damen wiederum hinterließen einerseits Sigourney Weaver als Autistin in Snow Cake einen nachhaltigen Eindruck, andererseits Felicity Huffman als Transsexueller in Transamerica. Den Titel des vielversprechendsten Newcomers verdient sich aufgrund der nunmehr ersichtlichen Karriere rückblickend wohl eher Ellen Page in Hard Candy als Q’Orianka Kilcher in The New World. Und während sich der beste Animationsfilm in den Top Ten findet, soll die erste Staffel von Dexter derweil zur besten Serie gekürt werden, die sich gegen die starke zweite Staffel von Lost durchsetzt.

Ansonsten bleibt in Erinnerung, dass sowohl Oliver Stone (World Trade Center) als auch Paul Greengrass (United 93) dem Terror vom 11. September nach fünf Jahren ein filmisches Gesicht verliehen. Während Greengrass’ Film Lob erhielt, begeisterte Stones Drama nur die Wenigsten. Dabei waren er und Scorsese nicht die einzigen prominenten Regisseure mit einem Film in 2006, unter anderem lieferten auch Steven Spielberg (Munich), Richard Donner (16 Blocks), Woody Allen (Scoop) sowie Spike Lee und Pedro Almodóvar neue Werke ab. Letztere mit Inside Man respektive Volver sogar die erfolgreichsten ihrer Karriere. Aber langer Rede kurzer Sinn präsentiere ich nun meine zehn besten Filmen des Jahres 2006 (die Flops und Runner-ups finden sich als erster Kommentar):



10. Wer früher stirbt, ist länger tot (Marcus H. Rosenmüller, D 2006): In dieser Mundart-Komödie zeigt Rosenmüller, dass Deutschland durchaus zu originellen wie humorvollen Filmen fähig ist, wenn ein bayrischer Lausbub versucht, unsterblich zu werden, um dadurch dem Jüngsten Gericht zu entgehen. Zu Beginn des dritten Akts überschlagen sich dann zwar etwas die Ereignisse und das Finale wirkt nicht sonderlich stimmig, es ist jedoch ein Verdienst des Films, dass es diesem nicht das Genick bricht.

9. Syriana (Stephen Gaghan, USA 2005): Selten lässt sich heute über einen Hollywood-Film sagen, dass er intelligent ist. Umso verdienstvoller gerät dieser Polit-Thriller angesichts seiner Thematik, übt Gaghans Episodenfilm doch ganz unsubtil Kritik an der US-Politik, die Strukturen im Mittleren Osten nach ihrem Gusto umzumodellieren. Gaghan gelingt es, uns ein Intrigenspiel zu servieren, konventionell genug, damit wir ihm folgen, und smart genug, damit wir von ihm womöglich sogar noch etwas lernen.

8. When the Levees Broke (Spike Lee, USA 2006): Ein simpler Sturm avancierte im August 2005 zum sechststärksten Atlantiksturm aller Zeiten und zur teuersten Naturkatastrophe in der US-Geschichte. Verantwortlich hierfür war jedoch weniger Katrina denn menschliches Versagen bei der Deichkonstruktion in New Orleans. In seiner vierteiligen Dokumentation arbeitete Lee auf, was genau geschah, welche Folgen es hatte und dass man es hätte verhindern können. Eine Geschichte des Scheiterns.

7. The New World (Terrence Malick, USA/UK 2005): Das Bild des aus dem Paradies verstoßenen Menschen durchzieht Malicks Œuvre, doch nirgends thematisiert er die gescheiterte Rückkehr wie hier. Sich des Philosophen Ralph Waldo Emerson bedienend schlägt sein unterschätzter Film eine Brücke zwischen The Thin Red Line und seinen jüngsten, persönlichsten Werken, wenn Malick anhand der Pocahontas-Legende seine tota allegoria der Unschuld der Welt erzählt. Weniger Geschichte denn Erfahrung.

6. Goya’s Ghosts (Miloš Forman, USA/E 2006): In Formans Historiendrama zur spanischen Inquisition verzichtet eine junge Kaufmannstochter in der Taverne auf Schweinefleisch – die Folge sind darauf Folter, jahrelange Inhaftierung, Vergewaltigung, Wahnsinn und Prostitution. Im Grunde lässt sich der Film, obschon er den Namen Francisco de Goyas im Titel trägt, je nach Fokus seiner drei Figuren einem anderen Genre zuordnen. Biografie, Tragödie und Historienfilm – dabei alles drei gleichermaßen überzeugend.

5. Grizzly Man (Werner Herzog, USA 2005): Ganze 13 Jahre lebte Timothy Treadwell in einem Nationalpark mit Bären, ehe er 2003 von einem getötet wurde. Herzog inszenierte dieses – größtenteils von Treadwell vor seinem Tod selbst gefilmte – Porträt als tiefgehenden Einblick in die Psyche eines Mannes mit sozialen Schwächen, der ein Gespür für das Cineastische und eine aufrichtige Wertschätzung für die Bären besaß. Durch und durch ein Werner Herzog Film und zugleich aber die Timothy Treadwell Show.

4. Tenkû no shiro Rapyuta (Miyazaki Hayao, J 1986): Mit seiner großen Vorstellungskraft ist Miyazaki der einzig wahre Erbe Disneys als Zeichentrickpapst. Kein Wunder, dass auch dieser erste offizielle Ghibli – der in Deutschland erst 2006 in den Kinos lief – ein kleines Meisterwerk ist. Die Geschichte zwei Kinder, deren Moral und Ethik ebenso rein ist wie ihre Loyalität zueinander, bietet hier bildgewaltige Szenerien, sympathische Charaktere und ein pompöses Amalgam aus Kinder- und Actionfilm.

3. The Last Kiss (Tony Goldwyn, USA 2006): In ihrem Remake von Gabriele Muccinos L’ultimo bacio zeichnen Goldwyn und Drehbuchautor Paul Haggis ein wahrlich deprimierend-depressives Bild von der Institution Ehe und Beziehungen im Allgemeinen, die für die Protagonisten ein emotionales Gefängnis darstellen. Als Gesamtkonstrukt gefällt der Film dabei weniger wegen seiner philosophischen Ansätze über Beziehungen denn seines Versuchs, eine Momentaufnahme einer zerfahrenen solchen sein zu wollen.

2. Brick (Rian Johnson, USA 2005): Inspiriert von der Noir-Welt eines Dashiell Hammetts konzipierte Johnson für sein Debüt seine eigene hardboiled detective story an einer High School. Dort wartet der Film mit einer durchaus seriösen Behandlung eines Kriminalfalls auf, ist somit weniger ein Mordkomplott im Gewand eines infantilen American Pie als vielmehr ein auf dem Schulhof spielender Chinatown. Ein mit einem Augenzwinkern servierter Neo Noir, der zurecht zum Kultfilm aufstieg.

1. Brokeback Mountain (Ang Lee, USA/CDN 2005): Zwar hebt sich Lees vorlagentreue Adaption einer untolerierten Liebe zweier Cowboys in seiner Tragik nicht großartig von anderen Melodramen ab, dennoch gelang dem Taiwanesen eine epische Romanze, die – wohl auch aufgrund der Prämisse – ihren Weg in die Filmgeschichte fand. Das exzellente Ensemble, die malerischen Aufnahmen von Rodrigo Prieto und die sanften Gitarrenklänge Gustavo Santaollalas bieten somit bestes emotionales Gefühlskino.

5. August 2013

Trance

Remember, do not be a hero.

Wie in Trance fühlt man sich, wenn man Dinge erledigt, ohne sich ihrer Ausübung wirklich bewusst zu sein. Ein Dämmerzustand also, der vorübergehend die Aufmerksamkeit ändert und eine Entspannung einleitet – ausgelöst durch Hypnose. Unterschwellig lassen sich auf diese Weise Verhaltensänderungen vornehmen. “Do you want to remember or do you want to forget?”, fragt Hypnotiseurin Elizabeth Lamb (Rosario Dawson) am Ende von Danny Boyles jüngstem Film Trance eine der Figuren. Sich an Vergessenes erinnern steht im Mittelpunkt von Boyles Psycho-Thriller, den dieser während seiner Vorbereitungen für die Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele in London im vergangenen Jahr drehte.

In dem Quasi-Remake eines britischen TV-Films von 2001 muss sich der Kunstauktionator Simon (James McAvoy) daran erinnern, wo er Francisco Goyas „Hexen in der Luft“ versteckt hat. Dieses wollte der Kriminelle Franck (Vincent Cassel) stehlen, nachdem ihm Simon, von Wettschulden geplagt, über dessen Wert und Auktionstermin informierte. Als der Überfall nicht wie geplant verläuft und Simon nach einem Kopfstoß und der anschließenden Operation vergessen hat, wo er den Goya unterbrachte, engagiert Franck kurzerhand Dr. Lamb, um dem Gedächtnis von Simon auf die Sprünge zu helfen. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen während der folgenden Sitzungen dann immer mehr.

“Everyone knows amnesia is bollocks”, ächzt Franck zwar zuerst noch ob Simons Kondition, macht dann allerdings doch gute Miene zum bösen Spiel. Fünf Prozent der Bevölkerung seien empfänglich für Hypnose habe er in einem Buch gelesen, konfrontiert Franck in einer Szene Lamb. Deren Beweggründe, sich mit ihm und seiner Gang einzulassen, überraschen derweil noch zu Beginn, um erst gegen Ende von Trance eine – allerdings wenig eindrucksvolle – Erklärung zu erhalten. Boyle versucht sich ziemlich deutlich an einem Film, in welchem nichts so sein soll, wie es zu sein scheint. Warum weint Lamb als sie über Simons Angriff im Auktionshaus liest und wird dieser von einer imaginären Frau bis in die Realität verfolgt?

Dass die rassige Hypnotiseurin dabei nicht nur Simon, sondern bald auch Franck den Kopf verdreht, verkompliziert die Sache nur noch. Gerade weil Simon, zuvor bereits durch Franck und seine Männer eingeschüchtert, nun zusätzlich eifersüchtig wird und sich mental noch mehr abschirmt. Sehr zur Ungeduld von Francks Handlanger Nate (Danny Sapani), der zu einem gewissen Zeitpunkt die Dinge selber in die Hand nimmt. Was folgt sind Blut, Mord und Totschlag, aufklärende Rückblenden, Twists und das ganz große Drama. Eben wie man das so kennt, aus Thrillern, in denen Figuren Wahrnehmungsstörungen haben. Problematisch ist nur, dass jenes Tabula rasa in Danny Boyles finalem Drittel allerdings wenig überzeugen will.

Das liegt zum einen daran, dass die Twistwendung relativ früh erahnbar ist und Trance, wie bereits Christopher Nolans Inception, kaum etwas aus seinen Gedankenspielereien zu machen versteht. Hypnose funktioniert bei Boyle als bloßes Drauflosquatschen, ihr anheim fällt dann, wer seinen Geist nicht bei Drei auf die Bäume bringt. Dass der Brite zudem versucht, mit visuellen Kameraspielereien einige Szenen in der Realität möglichst doppeldeutig erscheinen zu lassen – gewünschte Zuschauerreaktion: Ist das jetzt Trance oder real? – macht das Ganze nicht wirklich besser und schon gar nicht cleverer. Stattdessen bürdet sich der Film in bester Manier eines Damon Lindelof mehr Antizipation auf als er letztlich einlösen kann.

Auch zuvor schon fehlt dem Film eine rechte atmosphärische Einordnung, inszeniert Boyle sein jüngstes Werk doch teils mit der Verve seiner Anfangsjahre, wenn McAvoy wie einst Ewan McGregor als Erzähler direkt in die Kamera spricht, während die visuelle farbintensive Kameraarbeit eines Anthony Dod Mantle jenen lässigen Charakter des Films unterstützt. Ein Feel-Good-Thriller irgendwie, der zwar in seinen ersten beiden Akten streckenweise durchaus Spaß macht, nach hinten raus jedoch immer mehr abbaut. So merkt man Trance an, dass das Ausgangsmaterial eher auf TV-Niveau zu verordnen ist und dass Olympia-Regisseur Danny Boyle mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen zu sein scheint. Wie in Trance.

6/10

1. August 2013

Filmtagebuch: Juli

BLADE
(USA 1998, Stephen Norrington)
6.5/10

CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND [DIRECTOR’S CUT]
[UNHEIMLICHE BEGEGNUNG DER DRITTEN ART]
(USA 1977, Steven Spielberg)

1.5/10

COMIC-CON EPISODE IV: A FAN’S HOPE
(USA 2011, Morgan Spurlock)
6/10

CRITTERS
(USA 1986, Stephen Herek)
7/10

CRITTERS 2: THE MAIN COURSE
(USA 1988, Mick Garris)
5.5/10

CRITTERS 3
(USA 1991, Kristine Peterson)
4/10

CRITTERS 4
(USA 1992, Rupert Harvey)
4/10

E.T. THE EXTRA-TERRESTRIAL [E.T. - DER AUSSERIRDISCHE]
(USA 1982, Steven Spielberg)

7/10

FLIGHT
(USA 2012, Robert Zemeckis)
5/10

GOJIRA [GODZILLA]
(J 1954, Honda Ishirô)

8/10

GODZILLA, KING OF THE MONSTERS!
(USA/J 1956, Honda Ishirô/Terry O. Morse)
3.5/10

GREMLINS
(USA 1984, Joe Dante)
7.5/10

GREMLINS 2: THE NEW BATCH
(USA 1990, Joe Dante)
7.5/10

INSIDIOUS
(USA/CDN 2010, James Wan)
4/10

INTOUCHABLES [ZIEMLICH BESTE FREUNDE]
(F 2011, Olivier Nakache/Eric Toledano)

2.5/10

JAWS [DER WEISSE HAI]
(USA 1975, Steven Spielberg)

10/10

THE MAKING OF STEVEN SPIELBERG’S ‘JAWS’
(USA 1995, Laurent Bouzereau)
6.5/10

ONLY GOD FORGIVES
(USA/T/F/S 2013, Nicolas Winding Refn)
4/10

PAWN STARS - SEASON 3
(USA 2010, Jairus Cobb/Guy Fiorita)
7.5/10

POLTERGEIST
(USA 1982, Tobe Hooper)
7.5/10

SCRUBS - SEASON 1
(USA 2001/02, Adam Bernstein u.a.)
8/10

SCRUBS - SEASON 2
(USA 2002/03, Michael Spiller u.a.)
7.5/10

SCRUBS - SEASON 3
(USA 2003/04, Michael Spiller/Chris Koch u.a.)
8/10

SCRUBS - SEASON 4
(USA 2004/05, Ken Whittingham u.a.)
8/10

THE SHARK IS STILL WORKING
(USA 2007, Erik Hollander)
5.5/10

SHARKNADO
(USA 2013, Anthony C. Ferrante)
1.5/10

THE RUINS [RUINEN]
(USA/AUS 2008, Carter Smith)

6.5/10

TRANCE
(UK 2013, Danny Boyle)
6/10

Werkschau: Guillermo del Toro


CRONOS
(MEX 1993, Guillermo del Toro)
6.5/10

MIMIC [DIRECTOR’S CUT]
(USA 1997, Guillermo del Toro)

6.5/10

EL ESPINAZO DEL DIABLO [DAS RÜCKRAT DES TEUFELS]
(S/MEX 2001, Guillermo del Toro)

7/10

BLADE II
(USA/D 2002, Guillermo del Toro)
5.5/10

HELLBOY [DIRECTOR’S CUT]
(USA 2004, Guillermo del Toro)

7.5/10

EL LABERINTO DEL FAUNO [PANS LABYRINTH]
(E/MEX/USA 2006, Guillermo del Toro)

8.5/10

HELLBOY II: THE GOLDEN ARMY
(USA/D 2008, Guillermo del Toro)
7.5/10

PACIFIC RIM
(USA 2013, Guillermo del Toro)
5/10