9. März 2025

Passengers

Your end-of-life transition is already underway.

Man könnte darüber streiten, welches unglückliche Szenario einen mehr fuchst: Wenn es un- oder selbstverschuldet herbeigeführt wurde. Im ersteren Fall kann man sich als Opfer widriger Umstände fühlen, sich über die Ungerechtigkeit aufregen. Den Ärger also streuen. Im anderen Fall ist er wiederum eher egozentrisch. In Jon Spaihts Drehbuch Passengers, das Morten Tyldum 2016 verfilmte, wird Chris Pratts Mechaniker Jim auf einem Viertel der 120-jährigen Strecke zu dem Kolonie-Planeten Homestead II in seinem Raumschiff verfrüht aus dem Tiefschlaf geweckt. In selbigem Raumschiff ist Jim nun gestrandet, da die übrigen 5.000 Passagiere und 258 Crew-Mitglieder erst in 90 Jahren kurz vor Ende der Reise erwachen.

Dabei ist Jim nicht erst ein Verstoßener, seit er aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Er war es im Grunde schon auf der Erde, weshalb er überhaupt die Reise zu Homestead II antritt. Sein Heimatplanet ist überbevölkert, der Lebensstandard überteuert und der Fortschritt zu weit vorangeschritten. “In the colonies, a handyman is somebody”, begründet Jim im Drehbuch seinen Entschluss, neues Grenzland auszukundschaften. Auf der Erde herrscht für jemand wie ihn kein Bedarf mehr, soll sein berufliches Leben – und damit seine Existenz – einen Sinn haben, muss er diesen Lichtjahr(zehnt)e entfernt suchen. In der Zukunft erwartet ihn entsprechend die Simplizität der Vergangenheit, vom Unternehmen HomeStead bewusst propagiert.

Als Alternative zur Erde wird ein besseres Leben versprochen – womit jenes auf der Erde de facto als Gegenteil erachtet wird. “Thriving job markets in mining, farming and manufacturing”, preist HomeStead in Spaihts Drehbuch an, verklärt den Bergbau und die Landwirtschaft zu Traumjobs. “If you long for the life less civilized, you can apply for a pioneer permit and seek your fortune in the wild.” Acht Billiarden Dollar verdiente HomeStead an seinem ersten Kolonie-Planeten, da die Kolonisten sich verpflichten, einen Teil ihrer künftigen Verdienste an das Unternehmen abzutreten – im Drehbuch zehn Prozent, im Film gar das Doppelte. Aus dem Tiefschlaf erwacht, sieht Jim in der Tat einem simpleren Leben entgegen, aber nicht dem erhofften.

“You’re not where you want to be. You feel like you’re supposed to be somewhere else”, analysiert ihn eingangs der Androiden-Barkeeper Arthur (Michael Sheen). Was Jim eher auf die aktuellen Umstände bezieht, Arthur aber durchaus mit Allgemeingültigkeit konstatiert. “You can't get so hung up on where you'd rather be that you forget to make the most of where you are”, lautet eine weitere seiner programmierten Binsenweisheiten: Mach das Beste aus der Situation, anstatt dich damit zu befassen, was sein könnte. Bei Jim obsiegt dennoch die Angst, durch die 90 Jahre gesicherte Einsamkeit letztlich alleine zu sterben, ironischerweise ist es gerade der Android, der ihn im Drehbuch daran erinnert: “It’s not dying that matters, it’s living.”

Spaiths skizziert seinen Weltraum-Trek dabei als Zwei-Klassen-Gesellschaft – wenn auch nur sehr lose und keineswegs mit sonderlicher Relevanz. Die Passagiere sind unterteilt in Gold- und Silber-Klassen, zu Letzterer zählt Jim, was bedeutet, dass er beispielsweise in der Kantine keinen Zugriff auf Mocha Cappuccinos hat, sondern nur regulären Kaffee. Und bei diesem Beispiel bleibt es letztlich auch, da die Figur ansonsten Zugriff auf alle Angebote des Raumschiffs erhält, darunter die Option zu Weltall-Spaziergängen. Der Alkohol an Arthurs Bar ist offenbar inklusive und auch sonst kann Jim etwaige Restaurants an Bord in Anspruch nehmen, ohne dass dies ein Problem für seine Klasse oder sein Bankkonto zu haben scheint.

Passengers verschenkt hier nicht nur Lebensmittel an seinen Protagonisten, sondern auch dramatische Optionen. Als Jim nach seinem Aufwachen einen Notruf an HomeStead absetzt, dessen Antwort ihn aufgrund der Distanz zur Erde erst kurz vor seinem Tod erreichen dürfte, kostet ihn dies $6,000 – im Drehbuch erwähnt Jim, dass er – weshalb auch immer – in Summe 16 solcher Anrufe getätigt hat, seine Telefonrechnung im hohen fünfstelligen Bereich liegt. Geld, dass er nicht haben dürfte, weshalb höchstens davon auszugehen ist, dass das System alle Ausgaben oder Angebotsnutzungen letztlich anschreibt, um sie von seinem künftigen Gehalt abzuziehen. Als kapitalistisches Konstrukt wirkt HomeStead wenig ausgereift.

So zählt zu den Passagieren eine Hebamme, dabei hat das Schiff eine medizinische Station, die von Diagnostik bis Reanimation derart komplex gerät, dass sie wohl auch geburtshelfende Maßnahmen ergreifen kann – wozu also besteht in dieser hochtechnisierten Welt die Notwendigkeit für Hebammen oder Mechaniker? Gegenüber der Erde kann Homestead II nur rückständig sein, auch, weil allein die Reise bis zur Ankunft mehr als ein Jahrhundert in Anspruch nimmt. Die Prämisse respektive die Basis für die Prämisse wirft interessante Fragen auf, denen der Film nicht nachkommt; wohl auch, weil es sich nur um die Basis für die eigentliche Geschichte handelt, die aber ebenfalls ihr Potenzial nicht gänzlich ausschöpft.

Auf sich allein gestellt steht Jim nach einem Jahr vor dem ethischen Dilemma, eine weitere Person, namentlich Aurora (Jennifer Lawrence) aus dem Tiefschlaf zu wecken – und somit zum selben Schicksal wie ihn selbst zu verdammen. Mehrere Monate hadert Jim mit dieser Entscheidung, rekapituliert Arthur ein weiteres Jahr später gegenüber Aurora. Was weder Tyldum noch Spaihts wirklich darzustellen vermögen, wie auch die Tragweite seiner Entscheidung in der Folge alsbald für die Etablierung klassischer Rom-Com-Tropen geopfert wird. Die Figuren verlieben sich, was als authentische Entwicklung verstanden werden soll, obgleich natürlich beide Figuren ohnehin keine menschlichen Alternativen zueinander haben.

Man mag es Passengers nicht vorwerfen, liegt der Entschluss gewissermaßen doch in der Natur der Sache als Hollywood-Blockbuster. Dennoch nutzt der Film das Drama des ethischen Dilemmas nicht zu seinen Gunsten – eine andere Option wäre gewesen, die Inszenierung derart zu lenken, dass auch Auroras Erwachen unverschuldet erscheint und das Publikum (oder zumindest ein Teil von diesem) gemeinsam mit der Figur erst Ende des zweiten Akts die Wahrheit als Twist erfährt. Womit zumindest erklärt wäre, wieso sich Tyldum nicht damit aufhält, die moralischen Auswirkungen auf Jim wiederzugeben. Wobei auch Aurora nicht wirklich reflektiert, wie diese Wahrheit sich mit ihren Gefühlen für Jim kontrastiert.

Losgelöst von der nie eintretenden Ankunft auf Homestead II durchleben beide Figuren aber im Verlauf ihrer 24 respektive 12 Monate durchaus jene Erfahrungen, die sie sich ursprünglich als Motivation für ihre Reise erhofft haben. Losgelöst von der romantischen Beziehung zu Aurora und dem relativen Luxus des Cruise-Raumschiffs ist Jims Expertise als Mechaniker an Bord gefragt – sei es, um sich in Suites über seinem Status einzunisten oder um im Finale zum großen Retter aller Kolonisten aufzusteigen. Aurora wiederum erhält die gewünschte Inspiration für ihren Roman, der nun eben weniger Einblicke ins moderne Kolonialleben bietet, sondern sich um Jim und ihr tragisches Schicksal sowie der daraus resultierenden Liebe dreht.

Im Falle von Jim übersteigert Tyldum diesen Heroismus im zugegeben etwas ausufernden Schlussakt nochmals gegenüber Spaihts Drehbuch. Dieses endet auf einer deutlich dramatischeren Note, wenn das Schiff den Reboot des Systems als Ankunft auf Homestead II fehlinterpretiert und sich aller Tiefschlaf-Pods der über 5.200 anderen Menschen entledigt. Im Drehbuch rettet Jim also Aurora durch sein herbeigeführtes manuelles Erwachen buchstäblich das Leben. Indem beide Figuren dann die für die Kolonisation mittransportierten Spermien aktivieren und ganze Generationen ihre Existenz vor der Ankunft auf Homestead II im Raumschiff erleben, wird die „Der Weg ist das Ziel“-Botschaft von Arthur erneut verstärkt.

Die Besetzung der Hauptfiguren trägt ihren Teil zum Gelingen bei, kaum jemand porträtiert den scheinbaren Versager, dem man nicht böse sein kann, so gut wie Chris Pratt. Und Jennifer Lawrence weiß ebenfalls charmante Biestigkeit authentisch wiederzugeben. Im Gegensatz zu manch anderer RomCom wirkt auch die Chemie zwischen beiden weitestgehend glaubwürdig. Passengers greift letztlich vielleicht nicht nach den narrativ-thematischen Sternen, die der Film passiert, aber als glattpolierte Sci-Fi-Romanze gerät er dennoch überzeugend genug, um bei zweistündiger Kurzweil zu unterhalten. Ob es für den Abspann allerdings dieses gräßliche Songs von Imagine Dragons bedurft hätte – darüber ließe sich wohl streiten.

8/10

6. Januar 2025

Filmjahresrückblick 2024: Die Top Ten

Cinemas can be places of kindness. 
(Kleber Mendonça Filho, Retratos Fantasmas)

Der frühe Vogel fängt den Wurm, weshalb ich dieses Jahr früher anfing, Beiträge für den Filmjahresrückblick im Blog nachzuholen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Denn zuletzt war der Dezember immer sehr dicht getaktet, um alles noch irgendwie unterzubringen – dieses Mal begann ich schon im Spätsommer, mich den Kernwerken von 2024 zu widmen. Was den Nebeneffekt hatte (ob positiv oder negativ sei dahingestellt), dass sich mein Konsum doch deutlich auswuchs gegenüber den vergangenen Jahren: Mit letztlich 176 gesehenen Filmen auf so viele wie seit sieben Jahren nicht mehr, als ich 2017 auf den (bis heute) Rekordwert von 217 Filmen kam.

Entgegen meiner Erwartung war ich dabei verhältnismäßig oft im Kino, zwölf Mal; der höchste Wert seit 2019, als ich auf 13 Besuche kam. Nur einer dieser Kinobesuche spiegelt sich derweil in meiner Top Ten auch wieder, der Großteil meines Konsums entfiel wie gehabt auf das Heimkino, nicht zuletzt dank solch interessanter Kataloge wie sie der Criterion Channel oder Mubi aufweisen. Mit meiner Zahl an Kinobesuchen scheine ich aber womöglich dennoch eine positive Ausnahme zu sein, denn die prognostizierten rund 90 Millionen Kinotickets in diesem Jahr markieren den niedrigsten Wert im deutschen Kino des 21. Jahrhunderts, die Corona-Jahre außen vor gelassen.

Fortsetzungen dominieren wieder einmal die Top Ten der erfolgreichsten Filme 2024.

Dies scheint jedoch kein deutsches Phänomen zu sein, wenn man sich die weltweiten Gesamteinnahmen getreu Box Office Mojo ansieht: Auch dort wird abseits der Pandemie für 2024 der geringste Ertrag der vergangenen 20 Jahre verzeichnet. Was nicht heißt, dass es nicht auch Filme gab, welche die Kasse zum Klingeln brachten. Zwei von ihnen gelang es, die Marke von einer Milliarde Dollar zu reißen, der erfolgreichste Film des Jahres war dabei Pixars Inside Out 2, der Disney rund 1,7 Milliarden Dollar bescherte. Auf dem zweiten Platz folgt ebenfalls ein Disney-Werk, konkreter eines der Marvel-Tochter, mit Deadpool & Wolverine, der auf 1,3 Milliarden Euro kommt.

Gru und die Minions bleiben ein Erfolgsgarant für DreamWorks, sodass Despicable Me 4 mit 969 Millionen Dollar immerhin noch den dritten Platz der Jahrescharts sichert und den Disney-Hattrick verhindert, lauert dahinter doch Moana 2 mit 960 Millionen Dollar. Und mit Ausnahme der Broadway-Adaption Wicked: Part I (auf Rang 6) sind die übrigen sieben Filme der Kassen-Top-Ten erneut Franchise-Filme, seien es zweite Teile wie Dune: Part Two (Platz 5) oder Prequels wie Mufasa: The Lion King (Platz 10), Trilogie-Abschlüsse wie Venom: The Last Dance (Platz 9) sowie vierte Abenteuer wie Godzilla x Kong: The New Empire und Kung Fu Panda 4 (Rang 7 und 8).

Die Zahl der Kinobesuche war 2024 die niedrigste seit 20 Jahren.

Überraschend ist, dass die drei erfolgreichsten Filme nicht die populärsten in der Internet Movie Datebase (IMDb) darstellen, wo sich an der Spitze zwei Filme aus der Top Ten wiederfinden. Die beste Wertung erzielt der als bildgewaltig gepriesene Dune: Part Two mit 8.5/10, der sich vor The Wild Robot platziert, der eine 8.2/10 erhielt. Berücksichtigt man Abstimmungen, hinter denen wenigstens eine sechsstellige Nutzerzahl steht, positioniert sich dann Wicked: Part I auf den dritten Rang mit einer Wertung von 7.9/10 (Stand: 5. Januar 2025). Der erfolgreichste deutsche Film des Jahres wiederum ist Die Schule der Magische Tiere 3 mit 2,9 Millionen Besuchern.

Was nicht heißt, dass dies der Deutschen liebster Film in 2024 war – konkret bedeutet dies „bloß“ Platz 5 der nationalen Kinocharts. Die wird von Inside Out 2 angeführt, womit Deutschland keineswegs alleine ist. Auch in Italien, Großbritannien, Spanien, Portugal und Norwegen sowie Österreich, Ungarn, Tschechien, der Schweiz, Belgien, Dänemark, Finnland und Griechenland stürmte Pixar die Gefühlswelt der Zuschauer. Ebenso in den USA, wo Inside Out 2 mit 652 Millionen Dollar mehr einspielte als Godzilla x Kong weltweit. Traditionell laufen auch in Südamerika Animationsfilme stets am besten: Ebenso Tradition hat, dass sich die Länder dabei nicht immer einig sind.

Der meistbesuchte deutsche Film des Jahres war Die Schule der Magischen Tiere 3.

Während Argentinien, Brasilien, Chile und Kolumbien – ebenso wie Mexiko – es mit Inside Out 2 hielten, strömten Uruguay und Bolivien (wie auch Ägypten) lieber in Despicable Me 4. Tierisch bevorzugten es unterdessen Peru und Paraguay, die Kung Fu Panda 4 zu ihrem Jahressieger erkoren – genauso wie Kenia und Nigeria. Zwar lief es für Deadpool & Wolverine international überall gut, die Konkurrenz hinter sich lassen konnten die Comicbuch-Helden nur in den Niederlanden, Schweden, Kroatien, Südafrika Australien, Indonesien und Indien. Dagegen stieg man in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu Bad Boys: Ride or Die ins Auto.

Für gewöhnlich eher Hollywood-orientiert, hievte Frankreich in 2024 mit Un p’tit truc en plus [Was ist schon normal?] mal wieder einen einheimischen Film auf den ersten Platz – der in Deutschland nur auf Rang 68 landete. Frankreich war aber nicht alleine, nationale Werke wurden in Europa auch in Bulgarien (Gundi – Legenda za lyubovta) und Polen (Akademia Pana Kleksa) bevorzugt, ebenso in der Türkei (Lohusa), Russland (Kholop 2), China (Zhua wa wa [Successor]) sowie Vietnam (Mai) mit jeweils Komödien sowie in Südkorea (Pamyo [Exhuma]) und in Japan (Meitantei Konan Hyakuman Doru no Michishirube [Detective Conan: The Million Dollar Pentragam]).

Beste Darstellerleistungen: Colman Domingo, Maisy Stella, Ilinca Manolache.

Zu den Gewinnern des Jahres dürfte gerade angesichts der jüngeren Fehlerfolge Disney zählen, die mit Inside Out 2, Deadpool & Wolverine sowie Moana 2 drei der vier einträglichsten Filme mit allein fast vier Milliarden Dollar stellen. Christopher Nolan erhielt für Oppenheimer im Frühjahr seinen Regie-Oscar – und einen zweiten für den Besten Film dazu. Glenn Powell (Anyone But You, Hit Man, Twisters) und Cailee Spaeny (Civil War, Alien: Romulus, Priscilla) warteten mit drei Filmen auf und spielten sich ebenso in den Fokus wie Josh O’Connor (Challengers, La Chimera, Aisha, Lee) und Sydney Sweeney (Anyone But You, Madame Web, Immaculate, Reality).

Derzeit läuft derweil die Filmpreis-Maschine an: Für mich hinterließ Colman Domingo in Sing Sing Eindruck, wo er geschickt Zuversicht und Hoffnungslosigkeit spiegelte. Überzeugen konnte bei den Jungdarstellern Zoe Ziegler in Janet Planet, aber den Zuschlag gebe ich Maisy Stella, die quasi im Alleingang My Old Ass schultert und dafür sorgt, dass diese Komödie halbwegs funktioniert. Léa Seydoux ist in mehreren Rollen und Facetten in La Bête [The Beast] und Le deuxième acte [The Second Act] zu sehen, meine Stimme erhält allerdings letztlich jedoch Ilinca Manolache in Nu Aștepta Prea Mult de la Sfârșitul Lumii [Do Not Expect Too Much from the End of the World].

Ansonsten war 2024 das Jahr, in dem Auteure wie Kevin Costner (Horizon: An American Saga – Chapter 1) und Francis Ford Coppola (Megalopolis) mit eigenem Geld originäre Visionen verfilmten – auch wenn Kritik und Publikum nur bedingt (oder gar nicht) mitgingen. Es war nicht der einzige Coppola-Film, Tochter Sofia (Priscilla) und Enkelin Gia (The Last Showgirl) waren ebenfalls aktiv, mit Clint Eastwood (Juror #2) gab sich ein anderer Altmeister die Ehre, womöglich letztmals. Apropos Ehre geben: Während eine Auflistung aller gesehenen Beiträge aus 2024 erneut auf Letterboxd vorliegt, folgen nun von diesen meine zehn favorisierten Filme des Jahres:


10. Natsu e no tunnel, Sayonara no deguchi (Taguchi Tomohisa, J 2022): In einem Jahr ohne Animationsfilme von Hosoda oder Shinkai ist Natsu e no tunnel, Sayonara no deguchi [The Tunnel to Summer, the Exit of Goodbyes] eine willkommene Alternative, wenn zwei Jugendliche in ihrem Streben nach Veränderung aneinander Halt finden. Die Bewältigung von Trauer und Schuld ist Kern der Geschichte, verbunden mit der moralischen Frage, was man für seinen Herzenswunsch zu opfern gewillt ist. “Please wait a moment”, heißt es im Film mehrmals. Eine Anweisung, die man nur zu gerne befolgt. 

9. Daaaaaalí! (Quentin Dupieux, F 2023): Daaaaaalí! ist ein Traum von einem Film, in welchem Quentin Dupieux seinen üblichen absurden Humor ganz in den Dienst des spanischen Surrealisten stellt. Der wird kurzerhand von sechs verschiedenen Darstellern gespielt, die im Verlauf das von Anaïs Demoustier angestrebte Interview kapern, die Biografie über sich selbst zum Meta-Werk über den Versuch, ein biografisches Interview zu drehen, verkehren. Gewitzte Kommentare über Urheberrecht und den echten Wert von Kunst gibt es obendrauf. Das Ergebnis ist wahrlich außergewöhnlich. 

8. Joker: Folie à Deux (Todd Phillips, USA/CDN 2024): Über eine Milliarde Dollar spielte vor fünf Jahren Joker als Mashup aus Scorsese-Filmen und DC Comics ein – in dessen Fortsetzung Joker: Folie à Deux hält Regisseur Todd Phillips nun den Fans den Spiegel vor, inszeniert das Sequel als Abrechnung mit toxischen Fangemeinden. Die sind wie die Welt von Gotham selbst an der eigentlichen Hauptfigur gar nicht interessiert, sondern an deren destruktivem Alter Ego. Joker: Folie à Deux geht mit sich selbst ins Gericht und macht dabei mit dem Publikum kurzen Prozess. That’s entertainment! 

7. La Chimera (Alice Rohrwacher, I/F/CH/TR 2023): Der Wunsch, sich mit dem Schicksal anzulegen, treibt in Alice Rohrwachers rustikal-charmantem La Chimera den abgewrackten britischen Archäologen Arthur an, der sich inzwischen im ländlichen Italien als Grabräuber etruskischer Artefakte verdingt, wo er nach einer abgesessenen Haftstrafe kurzerhand zurückkehrt. Welche Bedeutung haben diese verloren geglaubten Gegenstände, die an Vergangenes erinnern? Und welche wiederum Erinnerungen, die wir nicht bereit sind, zu verlieren? La Chimera ist ein Film von unschätzbarem Wert. 

6. Cuando acecha la maldad (Demián Rugna, RA/USA 2023): In Demián Rugnas Cuando acecha la maldad [When Evil Lurks] scheint dämonische Besessenheit fast das natürlichste der Welt zu sein, wenn zwei Brüder wider Willen Teil einer übernatürlichen Bedrohung für ihre Gemeinde werden, als sich das Böse nebenan einnistet. Rugna inszeniert seinen Horror-Film atmosphärisch dicht und mit einer derartigen Kompromisslosigkeit, dass sich keine Figur in irgendeiner Szene sicher sein kann, diese am Ende auch lebend zu verlassen. Eine beklommene Ungewissheit, die ansteckend ist. 

5. Aku wa sonzai shinai (Hamaguchi Ryûsuke, J 2023): Der Kapitalismus hält Einzug in den ländlichen Raum, wenn Hamaguchi Ryûsuke in Aku wa sonzai shinai [Evil Does Not Exist] den sozio-ökologischen Frieden einer Dorfgemeinschaft durch die Pläne eines Glamping-Projekts gefährden lässt. Die Figuren müssen dabei lernen, dass ihr Gegenüber keineswegs Bösewichter sind, vielmehr Ausbrüche von Gewalt oder Gefahr eher instinktive Reaktionen infolge von potenzieller Bedrohung. Hamaguchi lädt seine Figuren zum Nachdenken ein – und den Filmzuschauer gleich mit. 

4. La passion de Dodin Bouffant (Trần Anh Hùng, F/B 2023): Trần Anh Hùng erschafft mit La passion de Dodin Bouffant [Geliebte Köchin] einen Film, den man sich weniger auf der Zunge als auf dem Auge zergehen lassen muss. Erzählt wird die doppelte Liebe eines Gourmets und seiner Köchin – einerseits die Liebe dieser beiden Figuren füreinander, andererseits aber auch jene für die kulinarische Kunst, die Symbiose aus Geschmack und Genuss sowie die Komposition von Zutaten. Trần gelingt der köstlichste Film des Jahres und zugleich eine delikate, emotional sättigende Romanze. 

3. Notre corps (Claire Simon, F 2023): Zwischen Zuhause und dem Krankenhaus liegt der Friedhof, sagt Claire Simon in ihrer Dokumentation Notre corps [Our Body], was sie zwar als geografische Einordnung meint, im Verlauf der nächsten fast drei Stunden aber quasi auch zur Metapher wird. Die Französin erhält unwahrscheinlich persönliche Einblicke in ein öffentliches Krankenhaus und die medizinische Welt des weiblichen Körpers, der mit Schwangerschaften und Geburten, Karzinomen und Endometriose sowie Fragen von Geschlechtsidentitäten konfrontiert wird. C’est la vie.

2.
Tótem (Lila Avilés, MEX/F/DK/NL 2023): In Lila Avilés’ Tótem wird eine Geburtstagsfeier im Grunde zur Totenwache, wenn zwei Schwestern ihrem todkranken Bruder Tona ein vermutlich letztes Fest schmeißen wollen, das weniger dem Tag seiner Geburt gedenkt als vielmehr all den Tagen seines Lebens – und den Spuren, die dieses hinterlassen wird. Mittendrin ist dabei Tonas siebenjährige Tochter Sol, die wie ihre Tanten einen Prozess von Trauer und Traurigkeit durchläuft. Avilés entwirft ein warmherziges, melancholisches Familiendrama, das den Zuschauer nicht mehr loslässt. 

1. Gasoline Rainbow (Bill Ross IV/Turner Ross, USA 2023): Wie in ihren vorangegangenen Filmen gelingt es den Ross-Brüdern in Gasoline Rainbow auf ein Neues, dem Publikum faszinierende und menschliche Charaktere zu präsentieren. In diesem Fall eine Handvoll Gen-Z-Schulabsolventen, die einen Road Trip zur Pazifikküste anstreben, ehe sie sich dem Ernst des Lebens in der Welt der Erwachsenen opfern. Insofern wird die Reise des Quintetts praktisch zum Fanal und Abschied von der Sorglosigkeit. Ein Feel-Good-Film über die Jugend – jene von heute, aber auch die eigene.