31. August 2018

Koi wa Ameagari Yō ni [After the Rain]

Once it takes off, it won’t stop.

In Richard Linklaters Dazed and Confused erklärt die Figur Wooderson ihr Faible für Schülerinnen mit der Feststellung: “I get older, they stay the same age.” Und in der Regel sind es ältere Männer, die jüngere Freundinnen oder Frauen haben, zum Beispiel Michael Douglas, der ein Vierteljahrhundert älter als seine Gattin Catherine Zeta-Jones ist. Je größer der Altersunterschied, desto größer ist auch die Verwunderung und Ablehnung des Umfelds über eine derartige Liaison. Sicher mit ein Grund, weshalb die 17-jährige Gymnasiastin Tachibana Akira (Watabe Sayumi) in der Manga-Adaption Koi wa Ameagari no Yō ni – international als After the Rain vermarktet – niemandem verrät, dass sie für ihren bereits 45 Jahre alten Chef schwärmt.

Seit sich der Star der Leichtathletik-AG die Achillessehne riss, verbringt Tachibana ihre Freizeit statt auf dem Sportplatz als Kellnerin in einem Restaurant-Franchise. Ihre Filiale wird von Mr. Kondō (Hirata Hiroaki) geleitet, der zwar redlich bemüht ist, zu seinen Mitarbeitern eine Beziehung aufzubauen, die betrachten ihn jedoch eher von oben herab. Kellnerin Nishida (Fukuhara Haruka) spricht sogar direkt in Hörweite Kondōs seine körperlichen Ausdünstungen an. Die halten Tachibana aber ebenso wenig wie der Altersunterschied oder die Realisation, dass Kondō Vater eines kleinen Jungen ist, davon ab, sich für den 45-Jährigen zu begeistern. Weshalb sie ihm alsbald ihre Gefühle gesteht, was Kondō aber nur bedingt wahrnimmt.

In seinen Anfängen ist Koi wa Ameagari no Yō ni aufgrund ihrer Thematik eine eher schwer zugängliche Serie. Der enorme Altersunterschied von 28 Jahren wirkt befremdlich, genauso, dass die Hauptfigur dies nicht zu bemerken scheint. Der Zwiespalt, der sich für den Zuschauer daraus ergibt, ist einerseits Tachibana romantisches Glück zu gönnen, andererseits aber nicht unbedingt mit einem derart älteren Mann. Der nutzt die Zuneigung zwar immerhin nicht aus, gebietet ihr aber eben auch keinen Einhalt. “My casual remarks are affecting someone’s heart”, stellt Kondō da zwar während ihrer ersten Verabredung in der dritten Folge Raining Tears fest, sein Verhalten gegenüber der 17-Jährigen passt er deswegen trotzdem nicht an.

Die Adaption von Mayuzuki Yuns Manga-Serie, die über zehn Ausgaben von 2014 bis 2018 lief, gerät in der Folge aber nicht in Woody-Allensche-Fahrwasser. Statt einer Romanze entspinnt sich zwischen den beiden Figuren eher eine Art Freundschaft, obschon sich Tachibana durchaus Hoffnungen auf mehr macht. „Viele Komplexe und wenig echte Liebe führen solche Paare zusammen“, schrieb Heike Stüvel einst in einem Welt-Artikel über die Faszination junger Frauen an älteren Männern. Ähnlich ließe sich vermutlich auch Koi wa Ameagari no Yō ni interpretieren, trauern doch sowohl Tachibana als auch Kondō insgeheim vergangenen Träumen nach, während sie in Nebenhandlungen versuchen, alte Freundschaften zu kitten.

Kondō selbst wollte mal Schriftsteller werden, bevor ihm seine Ehe und der daraus resultierende Sohn in die Quere kamen. Was hätte sein können hält ihm die Karriere seines alten Schulfreundes Chihiro (Miyamoto Mitsuro) vor Augen, dessen Roman inzwischen sogar verfilmt wird. Angeregt durch die Gesellschaft von Tachibana und den wieder entflammten Kontakt zu Chihiro beginnt Kondō, sich seinem alten Hobby neu zu nähern. Ganz so weit ist Tachibana dagegen nicht. Mit dem Austritt aus der Leichtathletik-AG hat sie scheinbar ihre Jugendfreundschaft zu Schulkameradin Haruka (Miyajima Emi) hinter sich gelassen. Beide Mädchen sind entfremdet, wenn auch wohl eher wider Willen. Die möglichen Hintergründe bleiben lange offen.

Wieso kühlte die langjährige Freundschaft nach Tachibanas Austritt derart ab? Oder fiel doch etwas mehr vor, das die Serie nicht zeigt? Wie dem auch sei, beide Figuren machen halbgare und unbeholfene Versuche, sich einander wieder zu nähern. “I’m sure you’ve shared moments together that are irreplacable”, muntert Kondō in der vorletzten Folge Passing Shower Tachibana nach seinen eigenen Erfahrungen mit Chihiro auf. Was war, kann wieder so sein – so die Botschaft. Und selbst wenn nicht, lässt sich an der positiven Erinnerung daran festhalten. Wie die 17-Jährige dem 45-Jährigen etwas seines alten jugendlichen Esprits verleiht, bietet er ihr eine Schulter zum Anlehnen, selbst wenn dies von seiner Seite aus platonisch gemeint ist.

Was Tachibana in ihm sieht, bleibt ihr Geheimnis. Stöbert man im Netz, werden oft die Reife der älteren Männer und ihre größere Intellektualität als Gründe für junge weibliche Affektion herangeführt. Beides scheint bei Kondō eher weniger der Fall, der zwar belesen ist, aber nicht zwingend gebildet. So hat er in der Finalfolge selbst Schwierigkeiten, mit dem neuen Menü für das Restaurant klarzukommen. Zu den weiteren Mutmaßungen zählt, dass junge Frauen im älteren Partner einen Vaterersatz suchen. Dies scheint in der Serie schon eher möglich, da wir zwar bisweilen Tachibanas Mutter, nicht aber einen Vater sehen. Womöglich dienen ihr Kondō und mit ihm das Kellnern auch bloß als Projektionsfläche, um die Leere nach dem Sport-Aus zu füllen.

Jedenfalls avanciert Koi wa Ameagari no Yō ni in der Folge von einer Serie über die Schwärmerei einer Schülerin zu ihrem älteren Chef zu einer solchen, die beide Figuren eher zu sich selbst als zueinander finden lässt. Und die in gewisser Weise jede der anderen Halt geben, um sich wieder aufzurichten und zu ihrer alten Persönlichkeit zu gelangen. Dabei entwickelt sich schnell ein Flow, der die Zuschauer für sich gewinnt. Nicht zuletzt dank der gelungenen musikalischen Untermalung, angefangen vom für japanische Animes typisch rockig-schmalzigem Intro-Song “Nostalgic Rainfall” von CHiCO with HoneyWorks (“I wish I was the rain so I could easily feel you”, lautet einer der vielen Lyrics, die gleichzeitig kitschy und catchy sind).

Den Anime zeichnet generell viel aus, was auf das Genre zutrifft. So findet sich in Küchenhilfe Yoshizawa (Ikeda Jun’ya) ein willkommener comic relief als Klassenkamerad, der für Tachibana schwärmt und als running gag versucht, ihr ihre Telefon-Chat-ID abzuluchsen. Schön gezeichnet ist Koi wa Ameagari no Yō ni ebenso, wenn sich auch visuelle Spielereien oder Panorama-Aufnahmen eher in Grenzen halten. Als kurzweilige Serie über die Höhen und Tiefen des Erwachsenwerdens und -seins funktioniert sie somit allemal besser denn als Lolita-Reflexion. “It’s exciting because you can’t see what’s ahead”, sagt Kondō in Passing Shower über die begrenzte Aussicht von seinem Balkon. Und könnte genauso über das Leben an sich sprechen.

6.5/10

24. August 2018

The Bleeding Edge

Get. Outta. Town.

Als in Monty Pythons The Meaning of Life im ersten Kapitel “The Miracle of Birth” eine Frau zur Entbindung in den OP-Saal eines Krankenhauses gebracht wird, ordern die Ärzte erst einmal allerlei Maschinen. Nicht zu vergessen “the machine that goes ‘ping!’”, seines Zeichens das teuerste Gerät im Hospital. Die Geburt erledigt sich dann quasi von selbst, der allerneusten Technik (im Englischen “bleeding edge”) sei Dank. Jene medizinischen Geräte und der aus ihnen resultierenden Technik-Wahn sind es, denen sich Kirby Dick in seiner Dokumentation The Bleeding Edge widmet. Diese handelt davon, dass neu nicht unbedingt besser heißen muss und medizinische Vorrichtungen mehr Schaden anrichten können als Gutes.

Das Hauptaugenmerk richtet der Film dabei auf Essure, eine vom Pharmakonzern Bayer vertriebene Sterilisations-Alternative für Frauen. Statt die Eileiter abzuklemmen versprach Essure in einem 45-minütigen narkosefreien Eingriff eine Metallspule in diese einzusetzen. Sie würden ein Narbengewebe fördern, das die Eileiter verschließt – so die Idee. Allerdings klagten Frauen wie Angie Firmalino oder Ana Fuentes im Anschluss über Beschwerden und Blutungen. Und waren nicht alleine. Firmalino gründete eine Facebook-Gruppe für Betroffene, die bald mehrere Tausend Teilnehmer umfasste. 16.000 von ihnen haben seither Klage gegen Bayer eingereicht, das Unternehmen inzwischen die Einstellung von Essure veranlasst.

Quasi in Nebenhandlungen führt Dick noch die Beispiele von Tammy Jackson und Dr. Stephen Tower an. Erstere ist selbst Krankenschwester, litt unter Blasenproblemen und ließ sich auf Anraten ihrer Ärzte ein chirurgisches Maschennetz in den Unterleib verpflanzen. Dieses soll Organen Stabilität verleihen – verursachte Jackson jedoch Schmerzen und Beschwerden, die auch nach 19 weiteren Operationen nicht behoben sind. Nicht kommunizierte Risiken und Nebenwirkungen zog auch ein aus Kobalt gefertigtes Hüftgelenk bei Dr. Tower nach sich. Als er sich dieses nach Demenzerscheinungen austauschen ließ, stellten die Ärzte fest, dass der Kobalt das umliegende Gewebe angegriffen hatte und in den Blutstrom des Patienten überging.

“There’s this tremendous hunger to have the latest gadgets, the newest technology, without the proper evaluation”, bringt es Dr. Martin Makary, Dozent an der John Hopkins University auf den Punkt. The Bleeding Edge nennt es in seinem Vorspann “unleashing innovation” – der Glauben, dass neue medizinische Geräte automatisch besser seien. Was auch der Fall sein kann, insofern sie einer entsprechenden Prüfung unterzogen werden. “Premarket approval” nennt sich das, findet allerdings in der Praxis kaum so statt. Stattdessen wird die so genannte Methode “510(k)” angewandt, eine Produktfreigabe auf Basis der Ähnlichkeit mit einem bereits zugelassenen Produkt. Nur: Was als Ausnahme gedacht war, ist nun zur Regel verkommen.

Der Grund, so macht es die Dokumentation Glauben, scheint simpel: Geld. Die Medizingeräte-Industrie boomt und macht weltweit fast 400 Milliarden Dollar Umsatz jedes Jahr. Und verdient letztlich Geld mit der mangelnden Gesundheit der Menschen. 70 Millionen Amerikaner – und damit jeder Fünfte – tragen eine medizinische Vorrichtung in ihrem Körper, schreibt Autorin Jeanne Lenzer. Die Geräte stellen ein Geschäft dar, jede Computertomografie bringt bares Geld – erhöht zugleich aber auch das Krebsrisiko. Für die Pharmaindustrie sicher ein geringeres Übel, da sich mit Krebsbehandlungen weiterverdienen lässt. Entsprechend machen ihre Vertreter bei Ärzten Lobbyarbeit, um ihre Produkte bei den Medizinern an den Mann zu bringen.

Die Fäden müssten im Grunde bei der US-Gesundheitsbehörde FDA zusammenlaufen, doch The Bleeding Edge zeigt, dass die in der Regel bereits von Lobbyisten unterwandert ist. Geräte werden nicht ausreichend auf ihr medizinisches Risiko und Nachwirkungen geprüft, sodass sie schneller auf den Markt kommen und Absatz generieren. Die Leidtragenden sind die Patienten, von denen Kirby Dick einige zeigt. Sympathische Menschen mit teils erschreckenden Krankenakten berichten über Schmerzen, zu Ende gegangene Beziehungen und verlorene Sexualleben. Ähnlich wie in seinen vorangegangenen Werken wie den Vergewaltigungsaufarbeitungen The Invisible War und The Hunting Ground ist Dick nah an seinen Protagonisten.

Zugleich liefert die Dokumentation nicht ausreichend Einblick in die Hintergründe der Komplikationen. Wie genau sahen diese nun bei Essure aus, wieso zerstört Kobalt das im Körper umliegende Gewebe und warum eignen sich chirurgische Maschen nur in manchen aber nicht in allen Fällen? Zwar kommen einzelne Mediziner und Chirurgen zu Wort, wirklich die Hintergründe beleuchtet der Film aber nicht. So steht es ein wenig für sich, wenn ein Arzt berichtet, er benötigte eher 200 statt 20 Einsätze mit dem Da-Vinci-Operations-System, einem riesigen Roboter-Apparat, mit dem der Chirurg per Fernsteuerung beispielsweise Hysterektomien durchführt. Wieso bedarf es zum Gabelstaplerfahren eines Scheins, aber nicht für Da Vinci?

Die Folgen scheinen enorm, was nicht nur die 16.000 Anklagen gegen Bayer zeigen, sondern auch die über 120 Millionen Dollar Schadensersatz, die der Pharmakonzern Johnson & Johnson, Hersteller der chirurgischen Masche, an Betroffene zahlte. The Bleeding Edge schließt mit diesen Informationen als Texttafel, anstatt sie zum Anlass für eine stärkere Hinterfragung zu nutzen. Grundsätzlich erfüllt der Film aber seinen Zweck, dass der Zuschauer sich zweimal überlegt, ob er unbedingt einen Fremdkörper in seinem Körper will. Und wenn, bewährte Eingriffe neuer unerprobter Innovationstechnologien vorzieht. „Nützen oder wenigstens nicht schaden“, benannte Hippokrates von Kos seiner Zeit schon die Richtschnur bei der Behandlung von Kranken.

6.5/10

17. August 2018

Cloud Atlas

Honor thy consumer.

Schnell, arrogant, selten klug – so würden (Literatur-)Kritiker an zu rezensierende Werke herangehen, beschwichtigt Publizist Timothy Cavendish (Jim Broadbent) in Cloud Atlas seinen über eine negative Kritik erbosten Autor. Ein Tropfen auf den heißen Stein, schmeißt dieser den Feuilletonisten anschließend kurzerhand vom Balkon einer Party in dessen Tod. Ähnliches mögen sich auch die Wachowski-Schwestern Lana und Lilly sowie ihr deutscher Co-Regisseur Tom Tykwer durch den Kopf haben gehen lassen. Ihre epische Adaption von David Mitchells Cloud Atlas erhielt seiner Zeit nicht wirklich die Anerkennung, die sie verdient hatte. Heute ist der Film fast in Vergessenheit geraten – eine dunkle Erinnerung wie jene, die ihn bevölkern.

Rückblickend betrachtet ist Cloud Atlas ein anspruchsvolles Projekt – weniger von seinem Inhalt und seinen Themen der Seelenwanderung und Reinkarnation her, sondern in seinem Versuch, das narrative Konstrukt von Mitchells Vorlage kohärent auf die Leinwand zu bringen. Film wie Buch erzählen über sechs Zeitepochen jeweils eigene Geschichten. Wo diese im Roman zweigeteilt nacheinander ablaufen, erzählen die Wachowskis und Tykwer sie in ihrer Adaption parallel ineinander verschachtelt. Dies verstärkt die Konnektivität der in ihnen dargelegten Themen und verhindert, dass Cloud Atlas zum Episodenfilm verkommt. Die sechs Handlungen, die vom 19. bis ins 24. Jahrhundert reichen, greifen dabei auf dasselbe Ensemble zurück.

Speziell den Darstellern um Tom Hanks, Halle Berry, Hugo Weaving und Hugh Grant gibt der Film Spielraum für ein enormes Facettenreichtum. So schlüpft Weaving vom kaltblütigen Auftragsmörder in die Haut einer nicht minder kaltherzigen Altenpflegerin, Hugh Grant mutiert vom schmierigen Firmen-CEO zum Kannibalen-Häuptling in der Post-Apokalypse. Bewusst werden Figuren wider ihres ethnischen Hintergrundes besetzt und in passende Masken verpackt. So gibt Jim Sturgess im Neo-Seoul von 2144 den koreanischen Widerstandskämpfer Hae-joo Chang, während Doona Bae, die im selben Segment Klon-Kellnerin Sonmi-451 mimt, in der 1849er Handlung zur kaukasischen englischen Verlobten von Sturgess’ Adam Ewing wird.

Auch Halle Berry schlüpft in verschiedene Rollen, darunter im 1936er Teil die vor dem NS-Regime ins schottische Edinburgh geflohene weiße Jüdin Jocasta Ayrs oder im Neo-Seoul von 2144 einen alten koreanischen Arzt. Die chinesische Schauspielerin Zhou Xun verbringt den Großteil ihrer Laufzeit derweil hinter einer kaukasischen Maske, um als Schwester von Tom Hanks’ Primärrolle des Stammes-Feiglings Zachry im Jahr 2321 (bzw. 160 nach der Apokalypse) herzuhalten. Keine dieser Masken ist realitätsgetreu, den intendierten Zweck erfüllen sie aber allemal. Auch wenn nicht ganz klar wird, wie die Reinkarnation in der Welt von Cloud Atlas wirklich funktioniert – hauptsächlich, weil die Hauptfigur variiert und doch identisch scheint.

Wandert die Seele von Tom Hanks’ maliziösem Schiffsarzt auf den Pazifischen Inseln des Jahres 1849 in den Körper seines hilfsbereiten Wissenschaftlers Isaac Sachs von 1973, um dann plötzlich wieder im Schriftsteller Dermot Hoggins soziopathische Züge anzunehmen? Die äußerliche Ähnlichkeit der Figuren erklärt nicht wirklich den Karma-Zusammenhang zwischen ihnen. Oder wandern die Seelen losgelöst hiervon, wie im Fall der Hauptfigur der Segmente, die ein Kometen-Muttermal eint, aber jeweils Jim Sturgess (1849), Ben Whishaw (1936), Halle Berry (1973), Jim Broadbent (2012), Doona Bae (2144) und Tom Hanks (2321) zum Leben erwecken? Der Film – und wohl auch das Buch – geben hierzu keine wirklich konkrete Antwort.

“Our lives are not our own”, sagt Sonmi-451. “We are bound to others.” Jene anderen können unsere Mitmenschen sein – oder jene Körper, mit denen wir uns, Kulturübergreifend, über die Zeit hindurch unsere Seele teilen. “My life extends far beyond the limitations of me”, findet Ben Whishaws Komponist Robert Frobisher in 1936 – was sich aber auch auf die Briefe an seinen Geliebten Rufus Sixsmith (James D’Arcy) und sein “Cloud Atlas Sextett” beziehen lässt, das Journalistin Luisa Rey (Halle Berry) rund 37 Jahre später gemeinsam mit den Briefen ausfindig macht. Während die Handlungen der von den Darstellern gespielten Figuren variieren, eint die mit dem Muttermal markierte Hauptfigur zumindest ihr Aufbegehren gegen Widerstände.

So ist es der Notar Adam Ewing, der sich für den Polynesier Autua (David Gyasi) während der Schifffahrt 1849 von den Pazifik-Inseln nach England einsetzt. Und dort beschließt, die Abschaffung der Sklaverei zu unterstützen. Später ist es Robert Frobisher, der sich 1936 als Gehilfe des kränkelnden Komponisten Vyvyan Ayrs (Jim Broadbent) von seiner kreativen Blockade löst – selbst wenn er unter dem Druck seiner aufgedeckten Bisexualität letztlich Selbstmord begeht. Luisa Reys Ermittlungen in die kriminellen Machenschaften der Firma von CEO Lloyd Hooks (Hugh Grant) kosten 1973 Unschuldige das Leben und fast ihr eigenes. Cavendish wiederum muss 2012 mit anderen Patienten/Insassen einem tyrannischen Altenheim entfliehen.

Die Segmente fallen dabei in unterschiedliche Genres, sei es ein Seefahrer-Abenteuer (1849), Gesellschaftsdrama (1936), Krimi-Thriller (1973) oder Komödie (2012). In der Zukunft spielen derweil die vermutlich stärksten Handlungsstränge um Sonmi-451s Rebellion gegen die Sci-Fi-Dystopie des Jahres 2144 und Zachrys Widerstand gegen Unterdrücker – seien es die Kannibalen oder Old Georgie (Hugo Weaving) – in der Post-Apokalypse von 2321. Dass Cloud Atlas vermag, all diese Handlungen chronologisch getreu wie in einer filmischen Matrjoschka-Figur zu verschachteln, ist nicht nur ambitioniert, sondern prinzipiell geglückt. Selbst wenn nicht jedes Segment, z.B. das 2012er, derart notwendig erscheint für das große Ganze des Films.

Für das Thema der Seelenwanderung ist dieser womöglich zu überbevölkert an Figuren (nicht unbedingt an Seelen natürlich), um dies deutlich genug zu machen. Als Geschichte in einer Geschichte – jedes Epochen-Segment spielt eine Rolle für die Hauptfigur des folgenden – gelingt dies schon besser, hätte jedoch ebenfalls stärker herausgearbeitet werden können. So taucht die Verfilmung von Cavendishs Erlebnissen nur kurzzeitig im 2144er Plot auf und die Bedeutung für Sonmi-451 bleibt eher vage. Aber auch so ist Cloud Atlas ein audiovisuelles Fest, gefällig gefilmt und das auch relativ harmonisch; dafür, dass die Wachowskis die erste sowie die futuristischen Geschichten und Tykwer die drei Segmente dazwischen getrennt inszenierten.

“Travel far enough, you meet yourself”, sagt Hae-joo Chang im Roman. Wann die Reise für die Figuren begann und wann sie zu Ende ist, lässt sich nicht sagen. Im Kern wird jede der im Film erzählten Geschichten vergessen, lediglich die aktuelle lebt fort, um von einer kommenden Generation referiert zu werden. Insofern ließe sich die Narration um Epochen vor 1849 und nach 2343, wenn ein alter Zachry die erzählerische Klammer liefert, erweitern, indem das Medium hierzu variieren würde. Aber auch so vermag der Film alles zu erzählen, was ihm auf dem Herzen liegt, obschon es nicht wirklich honoriert wurde. Vielleicht wandert die Seele von Cloud Atlas irgendwann in einen anderen Film über und erhält als Remake dann eine neue Chance.

8.5/10

10. August 2018

Touching the Void [Sturz ins Leere]

Bloody hell, I’m gonna die to Bonnie M.

Er besteige den Mount Everest, weil er existiere, soll George Mallory berühmterweise 1923 über seine geplante Besteigung des höchsten Bergs der Erde gesagt haben. Der Gipfelsturm steht für viele Bergsteiger als ultimative Bewältigung einer Herausforderung. So auch für Joe Simpson und Simon Yates, zwei Briten, die im Jahr 1985 die Westseite des Siula Grande in Peru im Alpin-Stil erklimmen wollten. Und dies am Ende beinahe mit ihrem Leben bezahlten. Allen voran Simpson, der sich beim Abstieg die Kniescheibe brach und beinahe in einer Gletscherspalte starb. Eine Überlebensgeschichte, die er 1988 in seinem Buch Touching the Void festhielt, das Regisseur Kevin Macdonald im Jahr 2003 als Dokumentation auf die Leinwand brachte.

Bekannt wurde die Geschichte von Joe Simpson weniger aufgrund der Tatsache, dass es ihm und Simon Yates gelang, die 1.371 Meter hohe Westseite des Siula Grande zu besteigen. Sondern angesichts des Umstandes, dass Yates beim Abseilen des verletzten Simpson das Seil zu diesem kappen musste, als Letzterer drohte, Yates mit in den Tod zu reißen. “It seemed like a blasphemy to have done such a thing”, beschreibt Yates in Simpsons Roman auf Seite 126. “It went against every instinct; even self-preservation.” In Macdonalds Dokumentation nimmt das Kappen des Seils eine untergeordnete Rolle ein. Dabei hätte der Film im Grunde ausreichend Zeit, verschwendet er sie doch weder für eine Exposition noch ein Ende.

Die Motivation im Vorfeld der Besteigung des Siula Grande im peruanischen Gebirgszug Cordillera Huayhuash bleibt spärlich. So kommt es, dass Simpson und Yates ungeachtet des nicht einfachen Aufstiegs bereits nach 20 Filmminuten auf dem Gipfel sind. Vier Minuten später ist Simpsons Bein dann gebrochen. Der Fokus soll klar auf seinen Sturz in die Gletscherspalte liegen, der ihm nicht den Tod brachte, ihn aber zu einer zähen Rückkehr ins Lager der beiden Bergsteiger zwang. Naturgemäß hat es Touching the Void hier schwer, die Gedankengänge von Simpson während dieser Zeit nachzuzeichnen. Selbst wenn er wie auch Yates hier als Talking Heads die Erlebnisse von damals reflektieren. Einblicke, die auch sonst eher rar sind.

“We climb ‘cos its fun. And mainly it is fun”, sagt Simpson im Film. “And every now and then it went wildly wrong. And then it wasn’t.” Geht etwas schief, kann dies schwere, gar tödliche Folgen haben. Die Emotionen, die Simpson jedoch mit dem Bergsteigen allgemein damals verband, fehlen dem Film leider. So berichtet er im Buch ausführlich, wie der nächste Gipfel zum nächsten Traum wird. Ehe man sich immer – buchstäblich – höhere Ziele setzt, die entsprechende Risiken, aber auch den gewissen Kick mit sich bringen. Und dass, sobald der Gipfel gestürmt ist, auf das ekstatische Gefühl der Errungenschaft schnell das der Leere folgte. “It makes you feel more alive”, erklärt Yates den Grund für die Besteigung im riskanten Alpin-Stil.

Beide Männer wissen jedoch, dass 80 Prozent der Unfälle beim Absteigen erfolgen. Und als das Wetter sich ins Gegenteil verkehrte, verflog 1985 auch der letzte Enthusiasmus von Simpson nach Erreichen des Gipfels. “The mountain had lost its excitement, its novelty, and I wanted to get off it as soon as possible”, schreibt Simpson auf S. 68. Dabei hatte er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal das Bein gebrochen. Ein Vorfall, der kurz danach das Ende für den Bergsteiger bedeuten könnte. Schließlich kletterten Simpson und Yates wie so viele Bergsteiger im Team, um sich aufeinander verlassen und absichern zu können. Was mit einem gebrochenen Bein jedoch kaum mehr möglich ist. Vielmehr lebensbedrohlich für beide Männer.

“In an instant an uncrossable gap had come between us and we were no longer a team working together”, reflektiert Simpson auf S. 75. Sowohl im Buch als auch im Film setzt der Brite den Beinbruch mit seinem Tod gleich. Allein Yates’ Bestreben, den Freund die verbliebene Strecke abzuseilen – zu einem Zeitpunkt, wo sich beide nur rund 300 Meter unter dem Gipfel des über 6.000 Meter hohen Berges befanden –, scheint somit alles andere als selbstverständlich zu sein. Sich selbst zu retten, um nicht mit dem Partner gemeinsam zu sterben, aber wie die Resonanz im Anschluss zeigte, ebenfalls nicht. Umso bedauerlicher, dass Macdonald relativ zügig über dieses Thema hinweggeht, um sich der beschwerlichen Rückkehr Simpsons zu widmen.

Neben den Talking Heads der Betroffenen stellt Macdonald die Vorfälle von 1985 zudem mit den britischen Darstellern Brendan Mackey als Joe Simpson und Nicholas Aaron als Simon Yates nach. Selbst wenn beide Schauspieler nur wenig Ähnlichkeit mit ihren Vorlagen besitzen und die Identifikation mit ihnen im Film primär über die farblichen Unterschiede ihrer Jacke geschieht. Die nachgestellten Szenen als solche sind jedoch prinzipiell gelungen und ergänzen die Aufnahmen des Siula Grande exzellent. Ärgerlich ist dafür, dass der narrative Faden nur bedingt vorhanden ist und Macdonald meist abrupt und ungeschickt zwischen den einzelnen Tagen des Auf- und Abstiegs schneidet. Aus erzählerischer Sicht wäre generell mehr drin gewesen.

Zwar mag Simpsons Buch mitunter etwas repetitiv ausfallen, es gibt aber dennoch bessere Einblicke in die Vorkommnisse von 1985. Touching the Void ist zwar durchaus ein intensives Erlebnis und eine informative Übersicht, bewegt sich die meiste Zeit aber dann doch zu sehr an der Oberfläche der Geschichte. “The accident opened up a whole new world for me”, zieht Joe Simpson auf Seite 215 schließlich 18 Jahre später fast ein positives Fazit. Der Unfall veränderte seine Persönlichkeit und Ansprüche. Vielleicht rettete ihm erst dieses Nahtod-Erlebnis sogar wirklich das Leben. George Mallory jedenfalls verlor seines. Ein Jahr nach seinem berühmten Zitat verschwand Mallory am Mount Everest – erst 1999 fand eine Expedition seine Überreste.

7/10

3. August 2018

Detroit: Become Human

Android sex officially better.

Der technische Fortschritt ist ein zuverlässiger Indikator dafür, wie weit sich die menschliche Gesellschaft entwickelt hat. Oder wie faul. Pferdekutschen werden zu Autos, Briefe zu E-Mails, Festnetz- zu Mobiltelefonen. Alles wird automatisiert – nicht zuletzt Arbeitsprozesse. In der Welt von Detroit: Become Human, dem neuen interaktiven Spiel von David Cage und seinem Studio Quantic Dream, übernehmen Androiden einen Großteil der Handarbeit als eine Art moderne Sklaven. Empfangsdamen sind nun nicht mehr menschlich, Kindermädchen und Altenpfleger ebenso. Selbst zum Joggen nehmen die Besitzer ihren Androiden mit, damit der ihnen buchstäblich als Wasserträger dient. Dankbarkeit gibt es dafür keine, Bezahlung auch nicht.

Die Folgen auf die Gesellschaft zeigt Cage in seinem Spiel dabei nur bedingt. “Androids ruin our country. We want jobs”, steht da auf einem Schild eines Obdachlosen. Jene Leute, die ihre Arbeit an einen Androiden verloren und damit scheinbar auch ihre soziale Existenz sieht der Spieler hauptsächlich zu Beginn. Interessant wäre es durchaus, zu erfahren, wie die Menschen im Detroit des Jahres 2038 eigentlich ihr Geld verdienen, wenn praktisch alle Arbeiten von Androiden ausgeführt werden. Selbst die Wellensittiche im Haus des pflegebedürftigen Carl (Lance Henriksen) sind aus unerklärlichen Gründen künstlich – und im Käfig eingesperrt. Dabei müssten sie sich eigentlich so programmieren lassen, dass sie von selbst im Haus bleiben.

Im Gegensatz zu Carls Pfleger Markus (Jesse Williams), der sich zu emanzipieren beginnt. Spätestens, als er nach einem Vorfall auf einem Schrottplatz entsorgt wird. Er landet schließlich bei einer Gruppe anderer „freier“ Androiden um Revoluzzerin North (Minka Kelly), die verdeckt leben müssen. “Don’t let anyone tell you who you should be”, hatte Carl mehrfach Markus eingebläut. Weshalb er, North und die anderen nun an einer Bürgerrechtsbewegung für Androiden arbeiten. Separat verfolgt das Spiel die Flucht von Kara (Valorie Curry), die als Kindermädchen für die kleine Alice (Audrey Boustani) angeheuert wurde. Dann aber gegen ihr Protokoll verstieß, als sie das Mädchen gegen den misshandelnden Vater verteidigte.

Speziell gegen solche Androiden wie Markus und Kara, im Spiel “deviant” (dt. Abweichler) genannt, ermittelt ihr Polizei-Artgenosse Connor (Bryan Dechart) mit seinem menschlichen Partner Hank (Clancy Brown). Wieso mehrt sich die Zahl der Protokoll-Brecher und was steckt hinter deren Obsession mit dem Begriff “RA9”? Ähnlich wie in Quantic Dreams Heavy Rain aus dem Jahr 2010 beleuchtet Detroit: Become Human seine Story aus verschiedenen Blickwinkeln. Und damit weniger singulär-narrativ wie in Beyond: Two Souls zuletzt. Jeder Handlungsstrang steht die meiste Zeit für sich, selbst wenn sie gegen Ende doch zusammenlaufen. Vorausgesetzt natürlich, der Spieler hat die Figuren zu diesem Zeitpunkt alle noch am Leben erhalten können.

Dies macht die interaktiven Spiele von Quantic Dream so besonders: das Versprechen, dass jede Entscheidung des Spielers direkte Konsequenzen für das Spiel hat. Ein nicht-vertieftes Gespräch kann dadurch zu einem kritischen Zeitpunkt eine benötigte Information nicht freischalten – und dies wiederum das Leben kosten. Oder man drückt zu langsam – oder zu schnell – eine Handlungs-Aktion und ist plötzlich tot. Genauso wie die Aktionen der einen Figur ungeahnte Folgen für das Schicksal der Figur eines anderen Handlungsstranges haben können. Über 1.000 Entscheidungsmöglichkeiten verspricht Quantic Dream für sein jüngstes Spiel, sodass jede/r Spieler/in ein individuelles Erlebnis haben kann – zumindest in charakterlichen Nuancen.

Alle leben oder jeder stirbt, beides ist in Detroit: Become Human letztlich möglich. So konnte ich am Ende zum Beispiel weder Kara noch Alice retten, da meine Entscheidungen für die beiden in Kombination mit denen für andere Figuren keinen Ausweg mehr offenbarten. Führt Markus seinen Widerstand friedlich in der Tradition von Personen wie Gandhi oder Martin Luther King, Jr. oder greift er auf Gewalt zurück? “Statistically speaking there’s always the possibiliy for unlikely events to take place”, sagt Connor später einmal in seiner Ermittlung. Die Richtung geben die Spieler vor, was die Ironie mit sich bringt, dass die vermeintlich erwachten Androiden im Grunde dennoch nur Befehlen folgen. Nur eben denen anderer Besitzer.

Dass Detroit: Become Human in drei Handlungsstränge geteilt ist, bringt den Vorteil mit sich, dass jede der Figuren unterschiedliche Reaktionen ausloten kann. So agierte ich mit Kara gegenüber Alice stets fürsorglich und beruhigend, mit Markus selbstbestimmt und altruistisch und Connor offenbarte Gelegenheiten zu klassischen “buddy cop”-Momenten mit Hank. Genauso könnte man aber kalt statt warm reagieren, pessimistisch statt zuversichtlich oder extrovertiert statt einsilbig. Wie die Studio-Vorgänger ist Detroit: Become Human weniger als Spiel-Spaß ausgelegt, sondern als Film, dessen Verlauf der Zuschauer beim Sehen beeinflussen kann. Ohne Checkpoints, um Fehler zu korrigieren. Wie im echten Leben also.

Nach einem leicht zähen Beginn, der sich eher am “world building” und der Etablierung der Haupt-Charaktere orientiert, findet das Spiel dann immer besser seinen Fluss. Ohne deshalb aber sonderlich originell zu sein, vielmehr bedient sich David Cage fleißig im Sci-Fi-Genre. So kopiert Markus’ Erfahrung auf dem Schrottplatz die von David in A.I. Artifical Intelligence. Connor jagt seine Artgenossen ähnlich wie Rick Deckard die seinen im Final Cut von Blade Runner. Hank ist ein Verbrechensbekämpfer mit totem Sohn, wie ihn Tom Cruise in Minority Report spielte. Die Quasi-Sklavenhaltung der Androiden sah man so auch in I, Robot und wenn später Markus andere Androiden „aufweckt“, erinnert das an Maeve in HBO’s Westworld-Remake.

Übelnehmen mag man es Cage nicht (ähnlich wie er sich in Heavy Rain schon bei Serienkiller-Werken wie Se7en bediente). Die Handlung von Detroit: Become Human steht ohnehin hinter dem Erlebnis, auch wenn eine Vertiefung des Konzepts der Künstlichen Intelligenz interessant gewesen wäre. So schenkt Cage den Androiden heterosexuell-romantische Gefühle, obwohl sie selbst weder wirklich ein Geschlecht noch eine Sexualität haben. Wie menschlich die Androiden sind, bleibt offen. Als er gefragt wird, ob er Angst vorm Tod hätte, betont Connor, er könne nicht sterben, da er nicht am Leben sei. Dabei sagte schon Spielmenü-Androidin Chloe (Gabrielle Hersh): “The most important thing is not to live, but to have a reason to life.”

8/10