25. Dezember 2015

Magic Mike XXL

It’s not bro time. It’s show time.

Fleischbeschau kennt man in der Regel ja nur mit Frauen als Objekten, etwas ungewöhnlich war da, dass Steven Soderbergh 2012 eine Stripper-Komödie rund um Channing Tatum ankündigte. Magic Mike avancierte zum moderaten Erfolg, der wie so oft Gerüchte um eine Fortsetzung nach sich zog. Die erschien nun dieses Jahr in den Kinos – wenn auch relativ wenig beachtet. Zumindest in Nordamerika, wo Magic Mike XXL nur etwa die Hälfte seines Vorgängers einspielte. Bei den Kritikern fand die Fortsetzung dafür erneuten Anklang, obschon es in dem Film, bei dem nunmehr Gregory Jacobs Regie führte, nicht mehr allzu viel gibt, was wirklich eindrucksvoll gerät. Allen voran die Handlung – oder besser gesagt: die Abwesenheit einer solchen.

Ging es in Magic Mike um eine Katharsis der Hauptfigur, muss diese nun für eine Weiterführung der vorangegangenen Prämisse wieder ignoriert werden. So ist Mikes (Channing Tatum) Beziehung zu seiner Freundin Brooke in die Brüche gegangen – in einem müden Halbsatz erklärt – und auch sein Möbelunternehmen schlittert dem Abgrund entgegen. Da passt es, dass seine alten Stripper-Kollegen um Big Dick Richie (Joe Manganiello), Tarzan (Kevin Nash), Tito (Adam Rodríguez) und Ken (Matt Bomer) auf dem Weg nach Myrtle Beach zu einer Stripper Convention sind. Club-Besitzer Dallas ist mit Protegé Adam nach Macau abgehauen, weshalb auch sie ihrer Profession Adieu sagen wollen. Aber nicht vor einem letzten gemeinsamen Hurra.

In der Folge beschränkt sich Magic Mike XXL darauf, ein Road Movie sein zu wollen, in dem die Figuren und ihre Beziehung zueinander das Fehlen einer Geschichte übertünchen sollen. Was mal mehr und mal weniger funktioniert, aber grundsätzlich bereits am prinzipiellen Rezept dieses Films scheitert. Das Loslösen von entscheidenden Figuren des Vorgängerfilms geschieht dabei reichlich lieblos, indem sowohl Brooke (Cody Horn) als auch Dallas (Matthew McConaughey) lediglich mit einem Satz verabschiedet werden. Zumindest eint sie, dass sie beide Dinge wollten, die sie in Mike nicht (mehr) fanden. Und weil Mikes Geschäft aus unerklärten Gründen ohnehin schon schlecht läuft, kann auch dieses ruhigen Gewissens sich selbst überlassen werden.

Das Strippen und die Freundschaft zu den Kollegen bereitet Mike einfach zu viel Spaß. So die Botschaft, die der Film ans Publikum übertragen will. Nur kriegt das Publikum von der Freundschaft der Männer selbst wenig mit. Etwaige plötzlich existierenden Animositäten zwischen Mike und Ken werden bei – oder eher: nach – einem Alkoholgeschwängerten Lagerfeuer-Abend aus der Welt geräumt, Tito kriegt nicht mal einen Subplot und Tobias (Gabriel Iglesias) wird alsbald aus dem Film geschrieben. Tarzan darf immerhin in einer Szene erwähnen, dass er Kriegsveteran ist. Etwas, dass auch Mike nicht wusste; da es aber auch nicht weiter thematisiert wird, ist es ohnehin so unerheblich wie eigentlich alles, was in Magic Mike XXL geschieht.

Außer Mike kriegt nur Big Dick Richie etwas Luft zum Atmen – darunter in der Highlight-Szene des Films, wenn er zu den Backstreet Boys versucht, eine Tankstellenangestellte zum Lächeln zu strippen –, letztlich bleibt er wie alle anderen aber erneut im Schatten von Mike selbst. Der darf mit Amber Heards Fotografin Zoe flirten, die immer dann auftaucht, wenn sie der Film gebrauchen kann. Im Vergleich zu Cody Horns Brooke ist aber auch sie nur eine eindimensionale Figur als Staffage eines Films, der sich schlussendlich zum Selbstzweck gereicht. Ging es in Magic Mike noch um Figuren und darum, wie ihre Wünsche und ihr Alltag miteinander kollidierten, geht es in Magic Mike XXL um gar nichts. Allenfalls um den Spaß am Strippen.

Vielleicht scheitert deswegen der Versuch, so etwas wie eine Handlung zu installieren, die so halbgar ist, wie die neuen Figuren, die in sie geworfen werden. Elizabeth Banks als Convention Promoterin und Andie MacDowell als sexuell vernachlässigte Mutter sind verschenkt, Jada Pinkett-Smith als weibliches Dallas-Pendant und Donald Glover als Poetry-Slam-Stripper nur schwer erträglich. Selbst das Strippen verliert irgendwann seinen Reiz, wenn Gregory Jacobs ein halbstündiges Finale vom Stapel lässt, dass bis auf Mikes Tanzeinlage (wen wundert’s?) reichlich einfallslos choreografiert ist und auf Dauer ermüdend gerät. Und irgendwie kann man sich dann doch denken, wieso Brooke und Dallas dem Ganzen längst den Rücken gekehrt haben.

5.5/10

18. Dezember 2015

Tu dors Nicole

Bon retour.

Die Dinge waren auch schon einfacher – das merken auch die Charaktere in Stéphane Lafleurs Tu dors Nicole. Egal ob es um Minigolf, Babysitten oder das erste Auto geht. “Everything’s under control”, behauptet Hauptfigur Nicole (bezaubernd: Julianne Côté) da anfangs zwar, als ihre urlaubenden Eltern telefonisch nach dem rechten sehen. Wie sich zeigt, ist jedoch wenig in Nicoles Leben unter Kontrolle. Vielmehr befindet sich die junge Frau plan- und orientierungslos im Leerlauf. Was Lafleurs Film – nicht zuletzt deswegen, weil er in Schwarzweiß gedreht wurde – wie eine frankokanadisches Prequel zu Noah Baumbachs brillantem Frances Ha wirken lässt. Denn zwischen dessen Protagonistin und der von Tu dors Nicole existieren einige Parallelen.

Die Geschichte spielt während der Sommerferien. Nicoles Eltern sind verreist und ihre beste Freundin Véronique (Catherine St-Laurent) soll ihr einige Tage in dem leerstehenden Haus Gesellschaft leisten. Bis plötzlich Nicoles großer Bruder Rémi (Marc-André Grondin) mit seiner Band im Wohnzimmer steht, um dort ihr Album aufzunehmen. Im Gepäck dabei – mal wieder – einen neuen Schlagzeuger: den ruhigen JF (Francis La Haye). Während sich Nicole und Véronique durch die warmen Tage hangeln, gilt es zugleich den Avancen des jungen Martin (Godefroy Reding) aus dem Weg zu gehen, den Nicole früher als Babysitterin beaufsichtigte. Obendrein kommt dann noch hinzu, dass Nicole seit längerer Zeit nachts nicht mehr richtig schlafen kann.

Ähnlich wie Greta Gerwig in Frances Ha wirkt Nicole etwas verloren. Der Ex-Freund, einst ein Kiffer, ist nun verlobt. Véronique wiederum hat es in eine eigene kleine Wohnung geschafft und geht einer Arbeit nach. Nicole selbst lebt in den Tag hinein und arbeitet ein paar Stunden in einem Second Hand Shop, dessen Angestellte zum Großteil Menschen mit Handicap sind. Dort steckt sie hin und wieder Kleidungsstücke ein, die sie dann an Véronique weitergibt. Ein Lächeln zaubert derzeit nur ihre neu eingetroffene Kreditkarte auf ihre Lippen. Mit ihr buchen die Mädchen später auch eine Reise nach Island. Was sie in Island machen wollen, fragt sie JF daraufhin. “Nothing somewhere else”, lautet Nicoles so simple wie akkurate Antwort.

“Life… goes by fast”, hat zuvor bereits der zehnjährige Martin in einem Anflug von Ferris Bueller’s Day Off philosophiert, nachdem Nicole und Véronique feststellten, dass ihre bisherigen Fluchtpunkte vor dem Alltag inzwischen längst nicht mehr so viel Spaß machen wie früher. So ist für Nicole nur das wirklich interessant, was neu ist. Egal ob dies JF ist oder ein Familienvater, dem sie bei einem nächtlichen Spaziergang begegnet. “Are you lost?”, fragt sie diesen, da er mit seinem Auto immer wieder um den Block fährt. Er versuche lediglich seinen Sohn zum Einschlafen zu bringen, erklärt dieser. Nicht nur zu dem kleinen Knirps zeichnet sich eine Parallele zu Nicole ab; eigentlich ist es sie, die verloren im Kreis ihres Lebens fährt.

Nicht die einzige Spiegelung. So ist Véroniques Auto Ladybug mal wieder in der Werkstatt. “I can’t just abandon her”, erklärt sie – und könnte damit genauso gut über Nicole reden. Umso bezeichnender, dass dieses Gespräch in einer Szene stattfindet, in der beide Mädchen ziellos ihre Fahrräder über eine Wiese schieben, weil jede von ihnen der anderen folgte. “When the heat and pressure builds up it finally blows”, beschreibt Nicoles Ex-Freund Tommy ihr bei einer späteren Begegnung die Geysire Islands. Auch diese selbst repräsentieren letztlich die junge Frau Anfang 20, deren Sommer einen ganz anderen Verlauf nimmt, als von ihr erhofft. Was ist mit einem Leben anzufangen, das selbst von Zehnjährigen und Kiffern abgehängt wird?

Insofern funktioniert Tu dors Nicole zum einen als Porträt einer planlosen jungen Frau, die noch keine Zielrichtung für ihr Leben entdeckt hat. Zum anderen auch schlicht als Film über einen etwas langweiligen Sommer, wie ihn wohl die meisten schon einmal erlebt haben. Locker und leicht mit sehr feinsinnigem Humor ausgestattet gelang Stéphane Lafleur ein Werk, das mit jeder Sichtung runder wirkt und dessen Nuancen man mehr zu schätzen weiß. Heimlicher Star neben der hinreißenden Julianne Côté ist dabei der altkluge Martin, der dank vorzeitigem Stimmbruch glaubt, bei der doppelt so alten Nicole eine Chance zu haben. “The heart has no age”, schwadroniert der Knabe, der von einem Erwachsenen nachsynchronisiert wurde.

Zum Vorteil gereicht dem Film dabei auch der Entschluss, in Schwarzweiß zu drehen. Vielleicht zum einen als Sinnbild von Nicoles grau-tristem Alltag, vielleicht um bewusst die Nähe zum Arthouse-Kino und seinen Vertretern wie Frances Ha oder Alonso Ruizpalacios’ Güeros zu suchen. In Kombination mit Sara Misharas überzeugender Kameraarbeit und unterstützt von einem harmonischen Soundtrack, der sich zwischen Electro und Rock bewegt, kommt zumindest die technische Aufmachung von Tu dors Nicole tadellos daher. Auch das Darstellerensemble um die starke Julianne Côté und den charmanten Godefroy Reding gibt sich keine Blöße. Stéphane Lafleurs Film ist insofern also eine durchweg runde Sache geworden – très bien.

Die besondere Qualität von Tu dors Nicole ist allerdings seine Hauptfigur, die trotz ihrer teils etwas schroffen Art aufgrund ihrer Verlorenheit ungemein sympathisch wirkt. Sei es, wenn sie sich zu Beginn von einem One-Night-Stand wegschleicht oder in einem Running Gag verstärkt Probleme hat, ihr Fahrradschloss zu öffnen. Côtés Nicole wirkt aufrichtig und lebendig, eine dreidimensionale Repräsentantin einer ganzen Generation im Wartestand. Wer zu dieser Generation gehört oder an Filmen wie Frances Ha und Mistress America bereits Gefallen gefunden hat, ist hier bestens aufgehoben. “This was fun”, sagt Nicole zu ihrem One Night Stand und lässt unklar, ob sie es aufrichtig meint. In Bezug auf Tu dors Nicole bestehen da keine Zweifel.

7.5/10

12. Dezember 2015

Best of Enemies

Argument is sugar and the rest of us are flies.

Freunde hält man sich nah, Feinde näher – das wusste bereits der chinesische Militärstratege Sūnzǐ. Eine etwas andere Motivation hatten im Jahr 1968 die Herren William F. Buckley und Gore Vidal, die einander verabscheuten und dennoch gemeinsam vors Fernsehen traten. In zehn Debatten sollten sie für den Sender ABC die Nationalversammlungen der Republikaner und Demokraten analysieren. Auf der einen Seite der konservative Buckley, auf der anderen Seite der liberale Vidal. Die Debatten avancierten zum Ereignis, dass das Fernsehen revolutionieren sollte. In Best of Enemies rekapitulieren die Regisseure Robert Gordon und Morgan Neville die Umstände, Hintergründe und Folgen der Buckley-Vidal-Debatten.

Die waren eher aus der Not geboren. Denn mit den Nachrichtenformaten der Konkurrenten NBC und CBS konnte ABC nicht mithalten. “ABC was the third of the three networks”, sagt Richard Wald, ehemaliger Präsident von NBC News. “Would have been fourth, but there were only three.” Über den Ruf des Senders wurden sogar Witze gemacht. Wie lasse sich der Vietnam-Krieg beenden? Man strahlt ihn auf ABC aus und er wird nach drei Monaten eingestellt. Als es um die Nationalversammlungen des Jahres 1968 ging, brauchte es ein provokantes Medienexperiment, um gegen die Konkurrenz um Walter Cronkite bestehen zu können. “A shot in the dark” nennt Wald die ABC-Debatten rückblickend. Und gesteht: “It changed television. Forever.”

Geht es nach Best of Enemies lag dies weniger am Politdiskurs zwischen beiden Männern über die Kandidaten der Nationalversammlungen als am Diskurs über sich selbst. “Their debate was about lifestyles”, so einer der Talking Heads. “What kind of people should be we?” Der Schriftsteller und Drehbuchautor Vidal wollte Buckley im Fernsehen bloßstellen, Buckley sah im flamboyanten Vidal wiederum den Teufel. “Everything that was going to moral hell“, wie Vidal-Biograf Fred Kaplan sagt. Jeder dachte vom anderen, dass er sehr gefährlich sei, so der Autor Christopher Hitchens. Entsprechend ging es für die beiden Intellektuellen darum, ihr Gegenüber zu demaskieren. Etwas, dass geradezu nach einer möglichen TV-Kontroverse schrie.

“Networks – did they deal in controversy? No”, erklärt Richard Wald. “Did they invite controversy? No.” Und dennoch schalteten im Verlaufe der ABC-Übertragungen laut NY Times-Journalistin Ginia Bellafonte acht von zehn Amerikaner die Berichterstattung zur Republikaner-Convention in Miami ein. Die Einschaltquote von ABC stieg – und sollte andere Debattennachahmer später begünstigen. Für Buckley und Vidal ging es derweil weniger darum, ob Nixon oder Humphrey der kommende Präsident der Vereinigten Staaten würden. Es ging um Egos und Idealismus. Den in der Dokumentation ausgewählten Ausschnitten zufolge bearbeiteten sie sich Runde für Runde wie Boxer mit Worten statt Schlägen. Jeder auf seine Chance wartend.

Die Herangehensweise ist unterschiedlich, wo Vidal immer wieder die Deckung herunternimmt und Buckley lockt, gibt sich dieser zurückhaltender, vorsichtiger. Der Austausch der beiden ist bisweilen fraglos unterhaltsam, was inhaltlich unterfüttert wird mit den biografischen Hintergründen von Biografen wie Kaplan (Vidal) oder Sam Tanenhaus (Buckley). Best of Enemies steuert dabei gezielt auf jene berüchtigte neunte Debatte hin, während deren Auswirkungen und konkret die letzte Debatte etwas unter den Tisch fallen. Auch die Folgen für die Fernsehlandschaft als direkte Folge der ABC-Berichterstattung hätten die beiden Regisseure noch etwas stärker in den Mittelpunkt rücken können, anstatt dies nur am Rande anzusprechen.

Es wäre ebenso interessant gewesen, ein paar tatsächliche Einschätzungen von Buckley und Vidal zur Situation der USA von 1968 zu erhalten. Hier und da spricht Vidal zwar Punkte Buckleys an, dennoch fokussiert sich die Dokumentation zuvorderst auf die Animositäten zwischen den beiden. So wird Best of Enemies eher von seinen Charakteren als seiner medienpolitischen Bedeutung bestimmt, wobei das Thema durchaus noch etwas ausdehnbarer gewesen wäre, wie Clips von Personen wie Jon Stewart und Bill O’Reilly am Schluss zeigen. Aber auch in seiner finalen Form ist Best of Enemies ein über weite Strecken aufschlussreicher und amüsanter Einblick in eine vier Jahrzehnte zurückliegende Polit-, Kultur- und Medienlandschaft.

7/10

6. Dezember 2015

Mistress America

Five feet to the left and unhappy.

Wenn etwas die Figuren von Noah Baumbachs Filmografie eint, dann ihr Status als Außenstehende am Rande der Gesellschaft. Beobachter des Lebens, Zuschauer des Alltags. Ob in Kicking and Screaming, Greenberg, Frances Ha oder While We’re Young – überall finden sich Charaktere, die ihren Platz in der Welt suchen. Und damit in gewisser Weise auch sich selbst. Figuren, die etwas verloren wirken. Überwältigt von den Möglichkeiten und den daraus resultierenden Erwartungen an sich selbst. Da macht Baumbachs jüngster Film, Mistress America, den er mit seiner Hauptdarstellerin und Freundin Greta Gerwig geschrieben hat, keine Ausnahme. Denn auch er wird bestimmt von solchen Themen wie Unsicherheit und Selbstfindung.

Frisch an die Universität nach New York gewechselt, misslingt der Literaturstudentin Tracy (Lola Kirke) der Anschluss. Ihre Mutter ermutigt sie, sich bei ihrer designierten Stiefschwester Brooke (Greta Gerwig) zu melden. Die lebensfrohe Fitnesstrainerin, die derzeit plant, ein innovatives Restaurant zu eröffnen, hat es Tracy sofort angetan. Als Brooke jedoch ihr Lebensstil in die Parade fährt und ihr die Finanzierung ihres Lebensprojekts abhanden kommt, muss sie sich auf einen Road Trip in die Vergangenheit begeben. Begleitet wird sie dabei von Tracy, die die Situation als Vorlage einer Kurzgeschichte nutzt, sowie von Tracys Kommilitonen Tony (Matthew Shear) und seiner eifersüchtigen Freundin Nicolette (Jasmine Cephas Jones).

Der Einstieg in Mistress America gerät dabei etwas holpriger als der zu Frances Ha. Ein Zugang zu Tracy fällt schwer, ihr Außenseiterstatus wird mehr durch Bilder als Szenen kommuniziert. So isst sie beispielsweise in der Unimensa zu Pizza noch Cheerios. Auch Gerwigs Brooke ist anfangs eine zwiespältige Figur. Enorm von sich selbst vereinnahmt muss der Zuschauer sich ihrem Charakter gegenüber erst erwärmen. Zugleich ist nachvollziehbar, wieso die verloren wirkende Tracy sogleich von Brookes Lebensstil beeindruckt ist. “I could only agree with her”, läutet sie den Film ein. “It was too much fun to agree with her.” Hat man sich jedoch erstmal in die Geschichte eingefunden, läuft diese rund wie ein Schweizer Uhrwerk.

Schnell zeigt sich, dass der Film weniger Tracy als Brookes Geschichte erzählt. Wie bereits Frances in Frances Ha will Brooke etwas Eigenes für sich auf die Beine stellen. “I’ve spent my whole life chasing after things and knocking at doors”, erklärt sie. “I’m tired of running towards people. I want to be the place that people come to.” Dumm nur, dass ihr Lebensgefährte ihr die finanzielle Unterstützung entzieht, nachdem er sieht, dass sie fremdgegangen ist. Nun bleibt Brooke nur ihre Nemesis Mamie-Claire (Heather Lind) um Hilfe zu bitten, nachdem diese ihr einst nicht nur eine Geschäftsidee, sondern auch Freund Dylan (Michael Chernus) ausgespannt hat. “She was the last cowboy”, schwärmt Tracy. “All romance and failure.”

Gerade im zweiten Akt läuft Mistress America zur Höchstform auf, wenn die verschiedenen Lebensentwürfe von Tracy, Tony und Nicolette mit denen von Brooke, Mamie-Claire und Dylan kontrastiert werden. Mit unbekümmertem Unverständnis begegnet die 30-jährige Brooke da den Eifersüchteleien von Nicolette. “There’s no cheating when you’re 18”, klärt sie die Jugendliche auf. “You should all be touching each other all the time.” Für die jungen Leute sind die Älteren zugleich abschreckendes Beispiel und potentielles Spiegelbild einer zehn Jahre entfernten Zukunft. Die hat sich selbst in besonders guter Erinnerung. “I saw Nirvana live”, erklärt Dylan an einer Stelle stolz. Und ergänzt später: “I was the people, people make television shows about.”

Baumbach skizziert eine Welt, in der jeder den Fokus zuerst auf sich selbst richtet. So pflegt Brooke ihre sozialen Netzwerke, um sich selbst anzupreisen und zu bewerben. Welche Ironie, dass ihr Freund gerade dadurch im Ausland mitbekommt, dass sie mit einem anderen rumgemacht hat. Und als ihr eine ehemalige Schulkameradin in einem Bistro vorhält, Brooke hätte sie früher gemobbt, tut diese das als Nichtigkeit ab. “Everyone’s an asshole in high school.” Auch Tracy hat weniger Altruismus als vielmehr Material für ihre Geschichte im Kopf. Schließlich will sie in einen elitären Kreis eines Literaturclubs ihrer Universität aufgenommen werden. In Mistress America gilt über weite Strecken das Motto: Jeder ist sich selbst der Nächste.

“You can’t really know what it is to want things until you’re at least 30. And then with each passing year it gets bigger because the want is more and the possibility is less. Like how each passing year of your life seems faster because it’s a smaller portion of your total life. Like that. But in reverse.”

Am meisten zeigt sich diese Haltung bei Tracy, die ihre Umwelt mehr und mehr ihren Plänen unterwirft. “You used to be so nice”, hält ihr Tony in einer Szene vor. “I’m just the same in another direction now”, entgegnet die ihm. Womöglich färbte auf sie nur das Verhalten ihrer baldigen angeheirateten Schwester ab, und der Wunsch, von der Zuschauerin zur Teilnehmerin zu avancieren. Immerhin bemüht sich Tracy durchaus, den wahnwitzigen Projektwunsch von Brooke, ein Restaurant mit einem Friseursalon und einem Stadtteilzentrum zu kreuzen, am Leben zu erhalten. Nichts so sehr als Basis für ihre Geschichte als aus Zuneigung zu Brooke. Denn selbst wenn sie diese in gewisser Weise als Versagerin sieht, blickt sie aber auch zu ihr auf.

Etwas unrund gerät wiederum der Schluss, der sich zurück auf das Level der ersten 20 Minuten einpendelt. Gut möglich, dass sich diese Kritikpunkte bei Wiederholungssichtungen jedoch auflösen. Ungeachtet dessen vermag Mistress America aber trotz seines Screwball-Charakters mit seinem spritzigen Humor und zahlreichen genüsslichen Dialog- und Monologzeilen nicht ganz so gelungen den Zeitgeist einzufangen wie Frances Ha vor ihm. Dessen Charaktere wirkten zugleich etwas dreidimensionaler als hier der Fall, wo sie bisweilen prosaisch daher kommen. Als Schwesternfilm zu Frances Ha und While We’re Young funktioniert Mistress America aber durchaus vorzüglich, genauso wie als einer der besten Einträge des Filmjahres 2015.

7.5/10

1. Dezember 2015

Filmtagebuch: November 2015

APPROACHING THE ELEPHANT
(USA 2014, Amanda Wilder)
6.5/10

BEST OF ENEMIES
(USA 2015, Robert Gordon/Morgan Neville)
7/10

BIG EYES
(USA/CDN 2014, Tim Burton)
4/10

THE END OF THE TOUR
(USA 2015, James Ponsoldt)
6/10

FRIDAY THE 13TH [FREITAG DER 13.]
(USA 2009, Marcus Nispel)

2.5/10

GAME OF THRONES – SEASON 3
(USA 2013, Daniel Minahan/David Nutter u.a.)
5.5/10

GIRLS GONE DEAD [BIKINI SPRING BREAK MASSAKER]
(USA 2012, Michael Hoffman Jr./Aaron T. Wells)
4.5/10

THE GREAT BRITISH BAKE OFF – SEASON 5
(UK 2014, Andy Devonshire)
7/10

GÜEROS
(MEX 2014, Alonso Ruiz Palacios)
6/10

JONGENS [BOYS]
(NL 2014, Mischa Kamp)

5.5/10

THE MAN FROM U.N.C.L.E. [CODENAME: U.N.C.L.E.]
(USA/UK 2015, Guy Ritchie)
5.5/10

MARVEL’S JESSICA JONES
(USA 2015, S. J. Clarkson u.a.)
3.5/10

MAGGIE
(USA 2015, Henry Hobson)
7.5/10

MASTERCHEF – SEASON 6
(USA 2015, Brian Smith)
7/10

MISTRESS AMERICA
(USA 2015, Noah Baumbach)
7.5/10

OMOIDE NO MĀNĪ [ERINNERUNGEN AN MARNIE]
(J 2014, Yonebayashi Hiromasa)

7.5/10

SPACEBALLS
(USA 1987, Mel Brooks)
6/10

TANGERINE
(USA 2015, Sean Baker)
6/10

VICTORIA
(D 2015, Sebastian Schipper)
6/10

YOUTH [EWIGE JUGEND]
(I/F/CH/UK 2015, Paolo Sorrentino)

6.5/10

Retrospektive: Star Wars


STAR WARS [KRIEG DER STERNE]
(USA 1977, George Lucas)

9.5/10

THE EMPIRE STRIKES BACK [DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK]
(USA 1980, Irvin Kershner)

9/10

THE RETURN OF THE JEDI [DIE RÜCKKEHR DER JEDI-RITTER]
(USA 1983, Richard Marquand)

8/10

STAR WARS – EPISODE I: THE PHANTOM MENACE
[STAR WARS – EPISODE I: DIE DUNKLE BEDROHUNG]
(USA 1999, George Lucas)

3/10

STAR WARS – EPISODE II: ATTACK OF THE CLONES
[STAR WARS – EPISODE II: ANGRIFF DER KLONKRIEGER]
(USA 2002, George Lucas)

3.5/10

STAR WARS – EPISODE III: THE REVENGE OF THE SITH
[STAR WARS – EPISODE III: DIE RACHE DER SITH]
(USA 2005, George Lucas)

2/10

24. November 2015

Tangerine

You didn’t have to Chris Brown the bitch.

Bereits Kant wusste, dass Sparsamkeit in allen Dingen die vernünftige Handlung eines rechtdenkenden Menschen ist. Das mag Regisseur Sean Baker vielleicht trösten, auch wenn er sein jüngstes No-Budget-Projekt Tangerine eher umsetzte, weil ihm für eine größere Produktion die Mittel fehlten. Vielleicht auch ganz gut so, erregte sein $100,000 teuerer und mit drei iPhone-5-Smartphones gedrehter Film schließlich unter anderem wegen seiner Umsetzung beim Sundance Filmfestival Aufmerksamkeit. Wie ich immer gerne zu sagen pflege: Manchmal ist weniger mehr und nach einem etwas holprigen Start schickt sich auch Tangerine an, diese Haltung mit einer solide gespielten und durchweg kurzweiligen Geschichte zu untermauern.

Die spielt am Heiligabend in Los Angeles, als die transsexuelle Prostituierte Sin-Dee (Kitana Kiki Rodriguez) von ihrer gleichgearteten Freundin Alexandra (Mya Taylor) erfährt, dass ihr Freund und Zuhälter Chester (James Ransone) sie mit einer Frau betrogen hat als sie eine vierwöchige Haftstrafe verbüßte. Kurz darauf stürmt Sin-Dee durch die Stadt auf der Suche nach jener Frau. Alexandra wiederum muss sich buchstäblich mit widerspenstigen Kunden herumschlagen, wo sie doch eigentlich nur einen Gesangauftritt von sich am Abend bewerben möchte. Nicht minder leicht hat es der armenische Taxifahrer Razmik (Karren Karagulian), der eine illustre Gesellschaft durch die Stadt fährt, um seiner Schwiegermutter aus dem Weg zu gehen.

Wirkt Tangerine zu Beginn noch etwas steif, wenn Baker die Eröffnungsszene in einem Donut-Laden im Shot-Reverse-Shot-Verfahren dreht, gewinnt der Film glücklicherweise Dynamik, als Sin-Dee ihre persönliche Odyssee beginnt. Baker dreht das Ganze anfangs im Wechsel zwischen kurzer Dialogszenen und von Trap Music unterlegten Sequenzen, in denen Sin-Dee den Handlungsort wechselt. Zumindest audiovisuell muss der Zuschauer also erst reinfinden in dieses iPhone-Experiment, ehe einen irgendwann Bakers cinematografische Welle erfasst und mitnimmt. In gewisser Weise ist Tangerine dabei eine Art fußläufiger Road Trip, der die beiden Transsexuellen auf ihren individuellen Missionen begleitet und wieder zusammenführt.

Ähnlich wie Sean Bakers Vorgängerfilm Starlet lebt sein jüngstes Projekt dabei von seinen Figuren und ihrer Interaktion, die Geschichte bildet eher den Rahmen, um ihren jeweiligen Charakter zu betonen. Sin-Dee offenbart sich dabei als Mensch mit explosivem Temperament – speziell wenn es darum geht, dass ihr Freund sie mit einer Frau betrügt. Es wird nicht das einzige Geheimnis bleiben, dass im Verlaufe von Tangerine aufgedeckt wird. “Shit floats to the surface”, kommentiert eine Figur gegen Ende passend. Grundsätzlich fokussieren sich Baker und sein Co-Autor Chris Bergoch auf Sin-Dee und Alexandra, die übrigen Figuren, darunter auch Chesters Affäre Dinah (Mickey O’Hagan) sowie Chester selbst, bleiben Mittel zum Zweck.

Etwas bedauerlich ist das lediglich im Falle von Razmik, dessen Geschichte lediglich als ein Nebenplot erscheint, um einerseits Bakers regelmäßigen Kollaborateur Karagulian einzubinden und die Laufzeit auf knapp 90 Minuten zu strecken. Völlig frei von Fehlern ist der Film also keineswegs. Fragt Sin-Dee beispielsweise in einer Szene einen Passanten nach Feuer für eine gestohlene Zigarette, präsentiert sie später plötzlich eine Crackpfeife – für die sie aber kein Feuerzeug mitgenommen hat. Auch Alexandras abendlicher Gesangauftritt steht etwas für sich, ohne dass seine Bedeutung für die Figur eine stärkere Einbindung erhält. Es handelt sich hierbei allerdings eher um Kleinigkeiten eines größeren Ganzen, das an sich durchaus zu gefallen weiß.

Nicht zuletzt dank dem überzeugenden Spiel von Rodriguez und Taylor, beides Laiendarsteller. Es ist nachvollziehbar, wieso Tangerine ähnlich wie Me and Earl and the Dying Girl zu Jahresbeginn in Sundance das Publikum begeisterte. Unterm Strich ist Baker ein Independent-Hit aus dem Bilderbuch gelungen. So nett das Gimmick der iPhone-Fotografie ist, hätte es dem Film sicher besser zu Gesicht gestanden, wenn etwas mehr Geld und Arbeit in ihn geflossen wäre. Die Kameraarbeit wäre runder dahergekommen, das Drehbuch ebenfalls. Vielleicht verhilft das positive Feedback zu Tangerine nun Baker dazu, dass er sich nach vielen Independent-Filmen einer größeren Produktion zuwenden kann. Er wäre da nicht der erste Indie-Regisseur.

6/10

18. November 2015

Kurz & Knackig: Star Wars

A long time ago in a galaxy far, far away....

Keine 40 Jahre ist es jetzt her, dass in einer sehr fernen Galaxie ein junger Amerikaner den Schlüssel zum ewigen Reichtum fand. Mit Star Wars begründete George Lucas – den man damals tatsächlich noch als Auteur bezeichnen konnte – sein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar. Und gleichzeitig auch das vierterfolgreichste Film-Franchise aller Zeiten. Inflationsbereinigt ist Star Wars (1977) der zweiterfolgreichste Film der je in den USA lief, mit starken 775 Millionen Dollar heutiger Zeit. Es folgten im Abstand von drei Jahren zwei Fortsetzungen sowie die Einordnung der Trilogie als „Episoden IV bis VI“. Neben Lucas’ Wohlstand sorgte Star Wars auch für ein pop-kulturelles Phänomen und ein Fandom wie kein zweites.

Kurz vor der Jahrtausendwende folgten dann die Prequels, jene „Episoden I bis III“, auf die Fans seit jeher gewartet hatten. Selbst wenn sie nicht auf diese Episoden I bis III gewartet hatten. Dem Erfolg tat dies keinen Abbruch, weitere Milliarden wurden im Kino eingespielt, nicht minder so viel wohl durch Merchandise. Der Zauber, den Star Wars zwei Jahrzehnte zuvor versprühte, wussten die Prequels jedoch nicht zu generieren. Mag es am Herz gefehlt haben oder schlicht am Talent hinter den Filmen. Ehe nun im Zuge der Disneyfizierung die desaströse Entwicklung von Star Wars mit der nächsten Fortsetzungs-Trilogie und Spin-Off-Filmen zu jeder Figur, die einmal übers Bild gehuscht ist, weitergeht, heißt es: Zurückblicken und Reflektieren.

Star Wars – Theatrical Cut (1977)

This is where the fun begins.

Nach gut 20 Jahren Star Wars mal wieder in seiner unbefleckten Form zu sehen, ist bereits ein kleines Highlight für sich. So ganz ohne all den CGI-Schwachsinn, den Lucas seither alle Jubel Jahre verstärkt in sein filmisches Erbe presst. Den Spruch „If it ain’t broke don’t fix it“ hat George wohl noch nie gehört. Arg viel besser als im Original wird massentaugliches Kino wohl nicht mehr, was angesichts der Umsetzung nicht selbstverständlich ist. Denn den Anfang des Films, abgesehen von kurzen Momenten mit Darth Vader (James Earl Jones) und Prinzessin Leia (Carrie Fisher), verbringt das Publikum dabei nahezu ausschließlich mit C-3PO (Anthony Daniels) und R2-D2 (Kenny Baker), zwei Robotern, von denen einer nichtmal spricht.

Star Wars ist im Kern dabei ein herzlicher Film, mit allerlei Neckereien. Sei es zwischen 3PO und R2 oder den menschlichen Figuren. So wie Obi-Wan (Alec Guiness), der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen kann, als Han Solo (Harrison Ford) von den Qualitäten des Millennium Falcon schwärmt. Lucas präsentiert seine Welt, ohne zu viel zu erklären, was es ihr erlaubt, authentisch zu wirken. Mitten drin erleben wir dabei Luke Skywalker (Mark Hamill), einen Jugendlichen, der sich interessiert an der Rebellion gegen das Imperium zeigt, aber später hadert, als er Obi-Wan nach Alderaan begleiten soll. Luke wächst mit seiner Aufgabe, genauso wie Han Solo im weiteren Verlauf als Mensch. Star Wars präsentiert uns Figuren zum Mitfiebern.

Die Geschichte selbst ist relativ simpel und lebt weniger von der Handlung als von ihren Protagonisten. Sie funktioniert für mich sogar so gut, dass ich das Schlusskapitel, wenn die Rebellen den Todesstern in die Luft sprengen, gar nicht mehr gebraucht habe. Nicht zuletzt, weil die Bedeutung der Situation eigentlich weitaus mehr Raum verdient hätte, als eine Viertelstunde am Schluss eines bereits begeisternden Abenteuers. Nicht zuletzt, da Return of the Jedi uns im Grunde nochmal dasselbe erzählen wird. Die Sequenz erinnert mich an das Venedig-Kapitel zum Ende von Casino Royale: keineswegs schlecht, aber irgendwie mutet es wie ein nicht zwingend notwendiger Zusatz für eine bereits zufrieden stellende Geschichte an.

Dabei ist der Film nicht makellos, wobei viele Momente primär durch die Folgefilme ins Fragwürdige gezogen werden, wenn der Serienkanon Dingen eine andere Bedeutung verleiht. So wirkt Vader hier eher wie ein Handlanger (oder an der Leine von Gouverneur Tarkin, wie es Leia formuliert), anstatt die Nummer 2 des Imperiums zu sein. Etwas stutzig macht auch, woher Leia Obi-Wans Koordinaten hat und wieso dieser den wenig sinnigen Decknamen „Ben Kenobi“ nutzt. Andere Störfaktoren betreffen das Verhältnis zwischen Obi-Wan und Vader, doch hier liegt die Ursache in den Prequels, nicht dem Original selbst. “This is where the fun begins”, tönt Han Solo darin noch an einer Stelle. Und Recht behalten sollte er. Auch fast 40 Jahre später.

9.5/10

The Empire Strikes Back – Theatrical Cut (1980)

Do or do not. There is no try.

Für die meisten Fans – so heißt es jedenfalls – stellt The Empire Strikes Back den Höhepunkt des Franchises dar. Ich selbst tue mich da etwas schwerer, nicht zuletzt, da der Film fast eine halbe Stunde braucht, ehe er wirklich losgeht. All das Drama um Lukes Sondierungsausflug auf Hoth über den Angriff des Wampas und Hans Rettungsmission mit Tauntaun führt für meinen Geschmack nirgends hin. Abgesehen von ein paar humorvollen Momenten mit den Charakteren („Who’s scruffy looking?”). Wirklich Schwung nimmt der Film erst auf, wenn nach 25 Minuten Vader und das Imperium auf Hoth aufschlagen. Selbst wenn auch hier die Auseinandersetzung mit den AT-ATs – wie jede größere Action-Szene der Reihe – zu ausufernd gerät.

Anschließend teilen sich die Figuren in zwei Gruppen auf, mit gegensätzlicher Dramatisierung. Temporeich gerät die Flucht von Han, Chewbacca (Peter Mayhew), Leia und 3PO vor Vaders Truppen, die sie letztlich nach Cloud City zu Hans altem Freund Lando Calrissian (Billy Dee Williams) führt. Als Gegenpol präsentiert Regisseur Irwin Winkler Lukes Begegnung auf Dagobah mit Yoda (Frank Oz), dem letzten verbliebenen Jedi. In ruhigen, fast schon meditativen Momenten lernt Luke die Kraft der Macht, während Yoda selbst ähnlich wie 3PO und R2 zur humorvollen Auflockerung dient. Dank dieser Figuren sowie Han Solo („Never tell me the odds”) mangelt es dem Film trotz seiner Auszeichnung, der düsterste Teil der Reihe zu sein, nicht an Witz.

Hier nun ist das Standing von Vader im Imperium ein ganz anderes, er antwortet nur noch dem Emperor und plant sogar dessen Sturz mit der Eröffnung, Luke sei sein Sohn. Bei diesem scheint die Verwandtschaft sein Nachname verraten zu haben, erscheint es doch befremdlich, dass Vader auch in Anwesenheit von Leia erneut nicht zu spüren scheint, dass diese seine Tochter ist. Womöglich ist die Macht doch nicht so stark in ihr, entgegen dem, was Yoda im nächsten Teil sagt. Wahrscheinlicher ist wohl, dass hier noch nicht klar war, dass Vaders Nachwuchs nochmals erweitert wird (siehe die Kussszene zwischen Leia und Luke zu Beginn des Films). Grundsätzlich ist The Empire Strikes Back aber eine gelungene Fortsetzung.

9/10

The Return of the Jedi – Theatrical Cut (1983)

The Emperor is not as forgiving as I am.

Überraschenderweise waren die beiden Folgeteile von Star Wars weitaus weniger erfolgreich als dieser, so auch der Trilogieabschluss The Return of the Jedi. Ähnlich wie sein Vorgänger hat er quasi einen Akt vor der eigentlichen Geschichte, wenn erst C-3PO und R2-D2, dann Leia und Chewie und schließlich Luke selbst versuchen, Han Solo aus der Gefangenschaft von Jabba the Hutt auf Tatooine zu befreien. Eine Rettungsmission, die mit Rancor und Sarlacc durchaus Spaß bereitet, obschon die Rettung selber gänzlich absurd durchdacht und enorm vom Zufall abhängig ist. Auch die Hintergründe werden nicht vollends klar, berücksichtig man die Ereignisse zum Ende des letzten und zum Beginn von diesem Teil. Aber sei’s drum.

Die Kernhandlung des Films ist das, was Lucas in seinem ersten Teil am Ende in einer Viertelstunde kurz erzählt hat: Die Rebellen müssen (mal wieder) den Todesstern in die Luft sprengen. Eine Geschichte, die Regisseur Richard Marquand in der zweiten Hälfte auf drei Ebenen erzählt, nach einem langatmigen Ausflug auf Endor zu den Ewoks. Hier verabschiedet sich Luke dann zur Konfrontation mit Vader und dem Emperor, während Han, Chewie und Leia mit den Ewoks versuchen, den Schildgenerator des Todessterns auszuschalten, damit Lando und Co. diesen zerstören können. Viele Handlungsorte mit ausufernden Szenen, wo letztlich ohnehin nur jene Sequenz interessiert, in der Luke sich seinem Schicksal stellen muss.

Der Ausflug nach Dagobah zuvor dient nur weiterer Exposition, ist Luke doch auch ohne Fortführung seines Trainings nun bereit – und autodidaktisch im Stande, Lichtschwerter zu konstruieren. Sehr schön ist aber der Moment, wenn Luke die Roboterhand seines Vaters sieht und dies ihm Warnung genug ist, nicht zu enden, wie dieser selbst. Seltsam mutet dafür an, wieso er Anakin später mit Darth Vaders Maske verbrennt. Auch hier tauchen wieder Fragen für das Franchise auf. Grundsätzlich ist Return of the Jedi aber ein solider Abschluss, der allerdings viel zu lang für alle seine Szenen aufwendet: von Hans Rettung, über die Ewoks bis hin zum Endor-Angriff und Lukes Konfrontation. Hier wäre mal wieder weniger mehr gewesen.

8/10

Star Wars – Episode I: The Phantom Menace (1999)

Yousa in big dudu this time.

Groß war die Euphorie, als mit The Phantom Menace das nächste Star Wars-Kapitel aufgeschlagen wurde. Rückblickend erscheint der Film als einziges Kuddelmuddel, der sowohl Kinder als auch ihre Eltern bedienen will und schlussendlich in beiden Fällen versagt. Im Zentrum steht eine Blockade und Invasion des Planeten Naboo durch die Handelsorganisation rund um Nute Gunray aus Besteuerungsgründen. Die Jedi Qui-Gon Jinn (Liam Neeson) und Obi-Wan Kenobi (Ewan McGregor) sollen den Konflikt klären, entkommen aber nur knapp einem Attentat und fliehen schließlich mit Naboos Königin Amidala (Natalie Portman) und dem Einheimischen Jar Jar Binks (Ahmed Best) Richtung Coruscant – mit einem langen Zwischenstopp auf Tatooine.

Hier folgt die Einführung von Anakin Skywalker (Jake Lloyd) als Space Jesus, der unbefleckten Empfängnis entstammend buchstäblich ein Kind der Macht. Mit einer Zahl an Midi-chlorians, die sogar Yodas übersteigt. Ein nutzloses Podrace später folgt auf dem Zwischenstopp in Coruscant die Rückkehr nach Naboo. Wieso der Planet überhaupt wichtig ist, wird dabei zu keinem Zeitpunkt klar. The Phantom Menace ist ein Film, der um Actionszenen herum konzipiert ist, die über viel CGI-Effekte funktionieren sollen. Die Geschichte und die Figuren stehen hintenan – also all das, was Star Wars 22 Jahre zuvor zum Welthit werden ließ. Hinzu kommt, dass Lucas den Film zum Großteil nur als eine Exposition missbraucht – die viele Fragen aufwirft.

Sprach Obi-Wan in Star Wars Vader noch mit „Darth” an, als sei dies dessen Vorname, erfahren wir nun, dass einfach jeder Sith Lord den Beinamen „Darth” erhält. Kanzelte der Emperor in Return of the Jedi Lukes Lichtschwert noch als “Jedi weapon” ab, rennt Darth Maul (Ray Park) nun selbst mit einem herum. War Darth Maul also auch mal ein Jedi? Und während Yoda warnt, “anger leads to hate” und letztlich zur dunklen Seite der Macht, sind es gerade Wut und Zorn, die Luke in Return of the Jedi im Kampf gegen Vader obsiegen lassen und mit denen Obi-Wan nach Qui-Gons Tod wiederum Darth Maul begegnet. Es sind alles leblose Worte in einem Film, dem es an dreidimensionalen Figuren und einer erzählenswerten Geschichte fehlt.

Stattdessen bemüht Lucas das Referieren auf die Trilogie. So ist es Anakin, der C-3PO baut und R2-D2 darf bereits hier zum Alltagshelden aufsteigen. Bei der Begegnung zwischen Amidala/Padme und Anakin weht Lucas ebenso mit dem Zaunpfahl wie beim Treffen von Anakin und Obi-Wan. Dass der wiederum so wie der Rat der Jedi und Padme von dem Knirps irritiert ist, stört Qui-Gon aus unerklärlichen Gründen nicht. The Phantom Menace ist auch unabhängig von Jar Jar Binks – der mit seinem ersten Auftritt sofort nervt – ein einziges filmisches Ärgernis. Der Film will jeden ansprechen und verhallt infolgedessen unter all dem Lärm, den er verursacht. “Anger leads to hate, hate leads to suffering”, sagte Yoda. Und sollte Recht behalten.

3/10

Star Wars – Episode II: Attack of the Clones (2002)

I wish I could just wish away my feelings, but I can’t.

Wie sehr die Star Wars-Euphorie einbüßte, zeigt sich schon darin, dass Attack of the Clones ganze 300 Millionen Dollar weniger einspielte als noch The Phantom Menace. Vielleicht auch, weil die Irritation dessen, was inzwischen Star Wars war, hier noch verstärkt wurde. Auslöser der Handlung ist eine Reihe von Attentatsversuchen auf Padme, die aktuell als Senatorin von Naboo in Coruscant dient. Obi-Wan und Anakin (Hayden Christensen) werden zu ihrem Schutz abgestellt, erhalten jedoch kurz darauf jeder ihren eigenen Erzählstrang. Während Anakin und Padme sich im Versteck auf Naboo allmählich ineinander verlieben, geht Obi-Wan der Spur eines Kopfgeldjägers nach, die ihn zu einer Klonkrieger-Armee auf Kamino führt.

Erweckte der Vorgänger zumindest den Eindruck, teils in einer echten Umgebung gedreht worden zu sein, entstammt Attack of the Clones nun aus der Konserve – und sieht entsprechend hässlich aus. Vollgestopft mit CGI ist das einzig Authentische das jeweilige Kostüm, das Natalie Portman trägt. Und für jede Szene gemeinsam mit ihrer Frisur wechselt. Der Film selbst klatscht eine Referenz an die Trilogie an die nächste. Von Obi-Wans Cantina-Kampf aus Star Wars bis hin zu Boba Fetts Verfolgungstrick aus Empire Strikes Back. Dachte man “May the Force be with you” war ein gutes Zureden von Obi-Wan für Luke, erscheint es nun eher als Jedi-Grußform. Die Folge ist weniger eine Hommage als Entmystifizierung des Originals.

Peinlich wird es, wenn Obi-Wan auf der Suche nach Kamino von einem 5-Jährigen belehrt wird, während sich Padme aus verstörenden Gründen in einen Soziopathen verknallt. Dass die Darsteller dabei allesamt steif wie ein eingefrorener Besenstiel agieren, mag daran liegen, dass sie von Blue Screens umgeben waren. Denn so schlecht das Drehbuch auch ist, könnte man mehr aus diesem herausholen, als es die Darsteller tun. Positiv ist in Attack of the Clones zumindest, dass Obi-Wan mehr zu tun bekommt, Jar Jar Binks kaum auftritt und Anakin, obschon er genauso nervt wie zuvor, nun zumindest etwas mehr Persönlichkeit erhält. Das große Finale auf Geonosis ist dann wieder klassischer ausufernder CGI-Overkill à la George Lucas.

3.5/10

Star Wars – Episode III: Revenge of the Sith (2005)

What have I done?

So fraglich wie es generell sein mag, überhaupt die Genesis von Darth Vader erzählen zu wollen, war doch ziemlich deutlich, dass der ganze Sinn der Prequels am Ende in Revenge of the Sith bestand. Folglich ist das Thema der Verführung von Anakin zur dunklen Seite durch Palpatine (Ian McDiarmid) der Kern der Geschichte, während Obi-Wan wieder mal eine Extramission erhält. In dieser setzt er sich mit Roboter-General Grievous auseinander, ehe der große Jedi-Genozid startet, weil Anakin nachts nicht gut schlafen kann. “This is where the fun begins”, sagt dieser zu Beginn in einer von so vielen Szenen, die deutlich macht, dass George Lucas die Magie der Originalfilme einfach nicht begreift. Oder womöglich schlichtweg nie begriffen hat.

Der Film beginnt dabei mit einem ähnlichen CGI-Overkill wie der Vorgänger zu Ende ging. Jeder Konflikt wird in den Prequels mit dem Lichtschwert geklärt, wo dieses in der Originalreihe noch weitestgehend verzichtenswert war. Count Dooku (Christopher Lee), eine Figur, der sich Lucas zuvor wenig bis kaum gewidmet hat, wird sich erledigt. Genauso wie kurz darauf dem erst hier eingeführten General Grievous. Beschäftigungstherapie für Obi-Wan, der immer noch an Anakin zweifelt. Von der Freundschaft, über die er in Star Wars sprach, und von gefühlter Bruderliebe, wie hier am Ende, als er Anakin die Beine abschneidet, spürte der Zuschauer in allen drei Filmen in keiner einzigen Szene etwas. Alles ist nur noch Selbstzweck für Lucas.

Yoda faselt unterdessen “fear of loss is the path to the dark side”, wobei laut Prequel-Yoda sowieso alles irgendwie ein “path to the dark side” ist. Samuel L. Jacksons unterbeschäftigter Mace Windu guckt trüb in die Kamera und Padme wechselt weiter fleißig ihre Kostüme. Anakin wiederum darf Palpatine im Rat der Jedi vertreten – ohne zum Meister ernannt zu werden –, und man fragt sich, wieso Palpatine überhaupt im Jedi-Rat vertreten ist? Alles nur, um Anakin an einen Punkt zu bringen, wo er zu Vader werden darf – was nach einem weiteren CGI-Overkill mit Obi-Wan auf Mustafar der Fall ist. Weil Obi-Wan “the high ground” hat, die geschicktere Position, über Anakin stehend. Selbst wenn Darth Maul damals eigentlich auch den “high ground” besaß.

Wenig macht noch Sinn. Selbst Palpatine hat nun ein Lichtschwert, ungeachtet seiner Haltung aus Return of the Jedi nach. Wieso die Prequels so missraten sind, ist schwer zu sagen (Redlettermedia versuchte es), Potential war vorhanden. Teil 1 mit Anakin bereits im Endstadium als Padawan beginnen, den Fokus auf die freundschaftliche Beziehung zwischen ihm und Obi-Wan legend. In Teil 2 hätte Padme eingeführt werden können und eine erste Begegnung mit der dunklen Seite. Der wäre ein sympathischer Anakin dann in Teil 3 erlegen, weniger wegen nächtlicher Albträume und auch ohne zum wahnsinnigen Massenmörder zu werden. Das Positive ist: Schlechter als die Prequels kann auch Disneys The Force Awakens nicht mehr sein.

2/10

12. November 2015

Love

What is your ultimate fantasy?

Geht es nach dem Duden, bezeichnet das Wort „kontrovers“ alles, was umstritten ist. Was anfechtbar oder kritisierbar ist. Und das trifft letztlich eigentlich auf alles zu. Und dennoch gilt der französisch-argentinische Regisseur Gaspar Noé keineswegs wie jeder andere Filmemacher, sondern durchaus als kontrovers. Sein zweiter Spielfilm Irréversible avancierte 2002 zum Skandalfilm, bei dem nach wenigen Minuten die Zuschauer in Hundertschaften die Vorführung bei den Filmfestspielen in Cannes verlassen haben sollen. Weniger aufsehenerregend war vor sechs Jahren dann Enter the Void, eine drogeninduzierte Reinkarnationsphantasie. Ob über seinen neuen Film Love überhaupt diskutiert wird, muss sich auch erst noch zeigen.

Das Potential hierzu hätte der Film zumindest, angesichts dessen, dass er beinahe zur Hälfte nur aus improvisierten Sexszenen besteht, in denen seine jungen Darsteller kopulieren, masturbieren und einander oral befriedigen. Umrahmt werden die Sexszenen von einer Liebesgeschichte, die von dem in Paris lebenden aufstrebenden Filmemacher Murphy (Karl Glusman) und der extrovertierten Electra (Aomi Muyock) erzählt. Als sich das Paar eines Tages einer Ménage-à-trois mit seiner 17-jährigen Nachbarin Omi (Klara Kristin) hingibt und Murphy diese später in einer zweiten Begegnung versehentlich schwängert, zerbricht die zweijährige turbulente Romanze zwischen Murphy und Electra. Die wiederum verfügte über reichlich Höhen und Tiefen.

Als Murphy eingangs einen besorgten Anruf von Electras Mutter erhält, die länger nichts mehr von ihrer Tochter gehört hat, reflektiert Murphy, der nach der Schwangerschaft mit Omi zusammenblieb, seine Zeit mit Electra. Eine Beziehung nach dem Motto: Sie küssten und sie schlugen sich. Gaspar Noé erklärte, er wolle mit Love ein reales Abbild sexuellen Verlangens und damit der Liebe auf die Leinwand bannen. Die eben emotional, allumfassend und stürmisch ausfallen kann. All das trifft durchaus auf die Beziehung von Murphy und Electra zu, die nicht erst durch Omi vor einem Problem standen. Bereits in der Vergangenheit war ihre Liebe von Eifersucht und Untreue gekennzeichnet. Doch konnten beide scheinbar nicht ohne einander.

Wirklich etwas zu erzählen hat Noé allerdings nicht über Liebe oder was das anbelangt: Lust. Wir sehen zwei junge Menschen, die eine Beziehung eingehen, die – so implizieren es die Bilder – primär aus Ficken, Blasen und Wichsen besteht. Im Verlaufe von Love erleben wir dann, dass schon vor der – oder zeitgleich zur – Ménage-à-trois das Sexleben von Murphy und Electra ausgeweitet wurde. Sei es beim Besuch eines Transsexuellen oder in einem Sexclub, dessen von Schweiß und Sperma getriebene Bilder in einer – wortwörtlichen? – Höhepunktsequenz mit John Carpenters Theme zu Assault on Precinct 13 unterlegt werden. Genauso wenig über die Romanze der Figuren erfahren wir über diese selbst – mit kleineren Ausnahmen.

Während Omi weniger Charakter als dramaturgisches Mittel ist und Electra minimal skizziert wird, erhält Murphy einige Anstriche von Noé selbst. Sein Lieblingsfilm ist 2001: A Space Odyssey, er geht in Paris auf eine Filmschule und träumt davon, einen authentischen Film über Liebe und Sex zu drehen, wie er auf einer Party versichert – ehe er mit seiner Gesprächspartnerin für einen Quickie auf die Toilette verschwindet und hierzu Electra stehen lässt. Das Drama, das Noé hier kreiert, entspricht dem Inhalt einer Telenovela über ein Jahr gestreckt. Der Blick des Regisseurs auf sein Geschehen ist dabei konsequent oberflächlich und gerät nur dort penetrierend, wo männliche Geschlechtsteile ins Spiel kommen. Was im Verlauf oft genug der Fall ist.

Aufgrund der in unchronologischer Reihenfolge erzählten Rückblenden als Erinnerungsfetzen von Murphy verliert sich der Zuschauer beim Sehen etwas in dem teils faszinierenden Bildersog ähnlich einem Film von Terrence Malick. Der eigentliche Star des Films ist Benoît Debies überzeugende Kameraarbeit, die weitaus nachdrücklicher in Erinnerung bleibt als das Schauspiel der drei Laiendarsteller oder das prosaische Drehbuch. Insofern hat Love dem Zuschauer weitaus weniger mitzuteilen als noch in Enter the Void der Fall, ungeachtet der mannigfaltigen, expliziten pornografischen Szenen ist er aber womöglich Gaspar Noés bislang zugänglichster Film. Keineswegs kontrovers also – selbst wenn das nicht heißt, dass nichts an Love kritisierbar wäre.

6/10

6. November 2015

The Wolfpack

I played that guy in “The Dark Knight”.

Sie könne nichts im Leben, aber alles auf der Leinwand, hat Romy Schneider mal über sich gesagt. Ein Zitat, an das man sich erinnert fühlt, wenn man Crystal Moselles Dokumentarfilm The Wolfpack ansieht. Der erzählt von einer Filmverrückten Familie, die von der Gesellschaft zurückgezogen in einer Sozialwohnung der Lower East Side von Manhattan lebt. Den einzigen Schlüssel zur Wohnung besitzt Familienoberhaupt Oscar Angulo, dessen Frau Susanne und ihre sieben Kinder selten bis nie vor die Tür dürfen. Manchmal gab es neun Kurzausflüge in einem Jahr, manchmal nur einen, berichtet der 15-jährige Mukunda. Und in einem Jahr durften er und seine sechs jüngeren Geschwister sogar gar nicht raus. Die einzige Flucht bieten ihnen Filme.

“If I didn’t have movies, life would be pretty boring”, verrät Mukunda zu Beginn. “Movies open up another world.” Stunden verbringt er damit, die Dialoge aus Filmen wie Pulp Fiction abzuschreiben und anschließend mit einer Schreibmaschine abzutippen. Dann, wenn aus alten Kartons von Frühstücksflocken Requisiten gebastelt wurden, stellen er und seine Brüder ihre Lieblingsfilme nach. Von Reservoir Dogs bis The Dark Knight Returns. Es ist ihre einzige Ablenkung von ihrem tristen Alltag in ihrer 4-Zimmer-Wohnung mit neun Personen. Während draußen in Manhattan rund 1,6 Millionen Menschen leben, sind die Angulos auf wenigen Quadratmetern unter sich. So wollten die Eltern ihre Kinder vor der Gesellschaft schützen.

Mutter Susanne übernahm den Hausunterricht, denn in öffentlichen Schulen sei “a lot of socialization (..) not positive socialization”. Die Angulos gleichen dabei einer Art Stamm, in dem jeder der Brüder mit seinen Hüftlangen Haaren einander ähnlich sieht. Vater Oscar, den seine Frau einst nach der Schule in Chile kennenlernte, lehnt es ab zu arbeiten, sieht dies als Rebellion gegen das System. “Most people would go insane”, resümiert Mukundas Bruder Narayana die Situation der Angulos. Glücklich mit dem Patriarchat sind die Söhne derweil nicht. “His system is just like a ticking bomb”, sagt Mukunda. Und wagt schließlich eines Tages den Ausbruch aus dem familiären Gefängnis – was nicht ohne Folgen für die Beziehung zu seinem Vater bleibt.

Der kommt im Laufe von The Wolfpack auch zu Wort. Mit dem Wegsperren der Kinder wollte er, dass diese lernen “who they are and what they are”. Mochte Mutter Susanne dies anfangs noch unterstützt haben, wirkt sie nun bisweilen wie eine von Skepsis gebrochene Frau. “Too much of anything is not good”, erzählt sie Crystal Moselle an einer Stelle. Dennoch wird als Betrachter nicht wirklich klar, wieso der Rest der Familie die Entscheidungen des Vaters noch mitträgt, wenn sie diese selbst überwerfen könnten. Ein wirkliches Aufbäumen fehlt, dabei zeigen die vielen liebevoll nachgemalten Filmposter und detailliert nachgebauten Requisiten und Kostüme für die eigenen Dreharbeiten die Sehnsucht der Kinder, ihrem Leben zu entfliehen.

Das eint The Wolfpack mit dem thematisch nicht unähnlichen, allerdings fiktiven, Kynodontas von Yorgos Lanthimos. Zugleich erschwert Moselles Film dem Publikum weitaus mehr als dieser den Zugang. Fraglich bleibt, wieso das Jugendamt der Stadt nicht spätestens dann einschreitet, wenn Mukunda nach seinem ersten unerlaubten Ausflug in einer Klinik landet. Wie genau sich zu neunt von Sozialhilfe leben lässt, wenn gleichzeitig allerlei Kostüme und DVDs bestellt werden. Und wie es für die Brüder genau ist, auf engem Raum fernab der Gesellschaft zu leben, diese jedoch jeden Tag von ihrem Fenster aus beobachten zu können. Der soziale Aspekt gerät in Moselles Film oft etwas in den Hintergrund zu Gunsten der Filmaffinität der Angulos.

Die ist durchaus ein Highlight, von den liebevoll gestalteten Kostümen über eine private Halloween-Party mit Verkleidungen à la Freddy Krueger bis hin zu den durchaus gelungenen nachgestellten Filmszenen. Sei es, wenn einer der Brüder punktgenau Steve Buscemi aus Reservoir Dogs wiedergibt oder Heath Ledgers Joker aus The Dark Knight. Mukunda und seine Brüder sind eine schrullig sympathische Sippschaft, die allerdings – daran dürfte wohl kaum ein Weg vorbei führen – durch ihre Zurückgezogenheit sozial gestört sein dürften. Ein Punkt, den The Wolfpack vernachlässigt in seiner Betonung der Eskapismusqualitäten des Mediums Film. Und so können die Angulos vielleicht alles auf der Leinwand, im Leben aber wohl leider wenig.

6/10

1. November 2015

Filmtagebuch: Oktober 2015

BACK IN TIME
(USA/UK/CDN 2015, Jason Aron)
3.5/10

BACK TO THE FUTURE [ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT]
(USA 1985, Robert Zemeckis)

10/10

BACK TO THE FUTURE PART II [ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT II]
(USA 1989, Robert Zemeckis)

8.5/10

BEASTS OF NO NATION
(USA 2015, Cary Joji Fukunaga)
5.5/10

BONE TOMAHAWK
(USA 2015, S. Craig Zahler)
2.5/10

CARTEL LAND
(MEX/USA 2015, Matthew Heineman)
6/10

CUTTHROAT KITCHEN – SEASON 2
(USA 2013/14, Steve Hyrniewicz)
7/10

DOPE
(USA 2015, Rick Famuyiwa)
6/10

THE FAULT IN OUR STARS [DAS SCHICKSAL IST EIN MIESER VERRÄTER]
(USA 2014, Josh Boone)
3.5/10

THE FINAL GIRLS
(USA 2015, Todd Strauss-Schulson)
6/10

GAME OF THRONES – SEASON 2
(USA 2012, Alan Taylor u.a.)
6/10

INSIDE OUT [ALLES STEHT KOPF]
(USA 2015, Pete Docter/Ronaldo Del Carmen)

7/10

LA ISLA MÍNIMA [MARSHLAND]
(E 2014, Alberto Rodríguez)

6/10

MASTERCHEF – SEASON 4
(USA 2013, Brian Smith)
7/10

MASTERCHEF – SEASON 5
(USA 2014, Brian Smith)
7/10

ME AND EARL AND THE DYING GIRL [ICH UND EARL UND DAS MÄDCHEN]
(USA 2015, Alfonso Gomez-Rejon)

7.5/10

RELATOS SALVAJOS [WILD TALES]
(RA/E 2014, Damián Szifrón)

6/10

SAN ANDREAS
(USA/AUS/CDN 2015, Brad Peyton)
5.5/10

SICARIO
(USA 2015, Denis Villeneuve)
7.5/10

TOMORROWLAND [A WORLD BEYOND]
(USA/E 2015, Brad Bird)

3.5/10

THE WOLFPACK
(USA 2015, Crystal Moselle)
6/10

Retrospektive: A Nightmare on Elm Street


A NIGHTMARE ON ELM STREET [NIGHTMARE – MÖRDERISCHE TRÄUME]
(USA 1984, Wes Craven)

9/10

A NIGHTMARE ON ELM STREET PART 2: FREDDY’S REVENGE
[NIGHTMARE 2 – DIE RACHE]
(USA 1985, Jack Sholder)

4.5/10

A NIGHTMARE ON ELM STREET 3: DREAM WARRIORS
[NIGHTMARE 3 – FREDDY LEBT]
(USA 1987, huck Russell)

4/10

A NIGHTMARE ON ELM STREET 4: THE DREAM MASTER
[NIGHTMARE ON ELM STREET 4]
(USA 1988, Renny Harlin)

4.5/10

A NIGHTMARE ON ELM STREET: THE DREAM CHILD
[NIGHTMARE ON ELM STREET 5 – DAS TRAUMA]
(USA 1989, Stephen Hopkins)

3.5/10

FREDDY’S DEAD: THE FINAL NIGHTMARE
[FREDDYS FINALE – NIGHTMARE ON ELM STREET 6]
(USA 1991, Rachel Talalay)

2.5/10

NEW NIGHTMARE [FREDDY’S NEW NIGHTMARE]
(USA 1994, Wes Craven)

4/10

FREDDY VS. JASON
(USA/CDN/I 2003, Ronny Yu)
4.5/10

NEVER SLEEP AGAIN: THE ELM STREET LEGACY
(USA 2010, Daniel Farrands/Andrew Kasch)
7/10

30. Oktober 2015

Umimachi Diary [Unsere kleine Schwester]

You can stay right here. Forever.

Jean-Jacques Rousseau schrieb einst: „Das süßeste Glück, das es gibt, ist das des häuslichen Lebens, das uns enger zusammenhält als ein andres. Nichts identifiziert sich stärker, beständiger mit uns, als unsere Familie, unsere Kinder.“ Das stille Familiendrama beherrscht vielleicht kaum ein Land so gut wie Japan, das Heimatland von Ozu Yasujirō und seinem filmgeistigen Nachfolger Kore-eda Hirokazu. Letzterer liefert mit seiner Manga-Adaption Umimachi Diary – in Deutschland als Unsere kleine Schwester vertrieben – ein neues Meisterstück ab. Ein beobachtendes Dokument einer von Frauen bestimmten Familie, ihren Beziehungen zueinander als Individuen, aber auch als Kollektiv. Und zugleich eine Geschichte über Zerfall und Zusammenhalt.

Als Erstgeborene/r hat man es nicht leicht, liegt die Erwartungshaltung doch auf den Schultern der Ältesten. Das merkte in Kore-edas Vorgänger Aruitemo aruitemo auch der zweitälteste Sohn, nachdem sein großer Bruder starb und der elterliche Anspruch an diesen plötzlich auf ihn übertragen wurde. In Umimachi Diary ist es der Vater, der stirbt, und damit die Handlung in Gang bringt. Einst verließ er seine Frau und ihre drei gemeinsamen Töchter, zeugte mit seiner Affäre ein neues Kind und heiratete als Witwer später erneut. Plötzlich also hat das Schwestern-Trio um Sachi (Ayase Haruka), Yoshino (Nagasawa Masami) und Chika (Kaho) nicht nur einen toten Vater, sondern auch eine kleine Schwester – von der sie zuvor gar nichts wussten.

Aus einer Art familiärem Pflichtbewusstsein heraus bietet die Älteste, Sachi, der Jüngsten, Suzu (Hirose Suzu), an, zu ihren älteren Halbschwestern zu ziehen. „Die Tochter der Frau die eure Familie zerstört hat?“, wird die Entscheidung von der Großtante (Kiki Kirin) der Schwestern skeptisch gesehen. In der Tat liegt der Verdacht nahe, dass durch die Anwesenheit des personifizierten Ehebruchs der Haussegen der Schwestern schiefhängen könnte. Doch selbst wenn Kore-edas Fach das Drama ist, interessiert sich der Regisseur nicht für Drama à la Hollywood. Vielmehr kommt Umimachi Diary ein beobachtendes Element zu Gute, wenn der Film beliebig in den Alltag von Suzu und ihrer großen Schwestern eindringt und wieder abschweift.

Eine besondere Beziehung fällt dabei Sachi und Suzu zu. Beide mussten durch ihren Vater ein Stück ihrer Kindheit opfern. Sachi, um die jüngeren Geschwister aufzuziehen, nachdem ihre Mutter nach der Trennung das Weite suchte. Und Suzu, da sie den kränkelnden Vater pflegte, weil ihre Stiefmutter mit dieser ehelichen Pflicht überfordert war. Entsprechend reif sei Suzu für ihr Alter, wie im Film mehrfach bemerkt wird. „Reifer als wir“, stellt auch die dem Alkohol nicht abgeneigte Yoshino gleich zu Beginn fest. Wo sich Suzu gegenüber Sachi etwas verpflichteter fühlt, geht die 13-Jährige gerade in Gegenwart der etwas infantileren Chika mehr auf. Doch auch wenn Suzu in gewisser Weise die Hauptfigur ist, werden die anderen nicht vergessen.

So hadert die junge Chika teils damit, dass sie weder an den Vater noch an die Mutter, die ebenfalls ihre Töchter verließ, richtige Erinnerungen hat. Auch beruflich und beziehungstechnisch ist es bei den Schwestern nicht zum Besten bestellt. Yoshino hat Pech mit ihrem Freund und Sachi verkommt selbst zu einer „anderen Frau“, als sie eine Affäre mit einem verheirateten Kollegen eingeht. Nicht zuletzt deswegen, gemeinsam mit dem Aspekt der verlorenen Kindheit, nimmt ihre Beziehung zu Suzu eine Sonderstellung ein. Dass Umimachi Diary hierbei trotz einer Laufzeit von zwei Stunden keine wirkliche Geschichte erzählt, liegt wohl auch daran, dass es sich um die Verfilmung von Yoshida Akimis Comic-Serie Umimachi Diary handelt.

Insofern begleitet Kore-eda Hirokazu mit seinem jüngsten Film mehr Szenen aus dem Leben seiner vier Charaktere als dass er einer kohärenten Dramaturgie folgt. Es geht nicht darum, Konflikte zu lösen, sondern schlicht darum, den Zuschauer am Leben seiner Figuren teilhaben zu lassen. Gerade auch an den nichtigen Momenten, beispielsweise wenn Suzu im Regen nach Hause läuft oder zum neuen Schuljahr prüft, in welcher Klasse sie gelandet ist. Erfrischend unaufgeregt und hinreißend natürlich ist das Ergebnis, ein weiteres, (be-)ruhig(end)es Meisterstück von Kore-eda-san. Weshalb man nach zwei Stunden beinahe etwas traurig ist, das Schwesternquartett um Sachi, Yoshino, Chika und Suzu schon wieder verlassen zu müssen.

9/10

24. Oktober 2015

Me and Earl and the Dying Girl

Summer...what does that word even mean, right?

Übung macht den Meister – wohl insbesondere dann, wenn man selbst unter Meistern lernt. So wie Regisseur Alfonso Gomez-Rejon, der zuvor Second Unit Director unter anderem bei Babel von Alejandro Gonzáles Iñárritu, Andrew Macdonalds State of Play oder Argo von Ben Affleck war (allesamt Oscarpreisträger), ehe er 2014 mit The Town That Dreaded Sundown sein Debüt feierte. So vergessenswert dieses geraten sein dürfte, so eindrucksvoll bleibt nun seine Romanadaption Me and Earl and the Dying Girl in Erinnerung. Eine Krebs-Dramödie im Mumblecore-Stil, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Jesse Andrews, die zu Jahresbeginn einen der begehrten Hauptpreise beim Sundance-Filmfestival einheimsen konnte.

Ähnlich wie in Josh Boones Teenie-Schmonzette The Fault in Our Stars nach dem Roman von John Green erzählt Me and Earl and the Dying Girl im Kern die Geschichte einer Jugendlichen, die an Krebs erkrankt. Nur: Die Hauptfigur ist weniger die an Leukämie erkrankte Rachel (Olivia Cooke), sondern vielmehr der verschlossene Greg (Thomas Mann). Da seine Mutter mit der von Rachel bekannt ist, nötigt sie ihn dazu, Rachel Gesellschaft zu leisten, nachdem diese ihre Diagnose erhalten hat. Etwas, wofür Greg wenig Lust hegt, hat er doch jahrelang seinen Status als Schulhof-Diplomat zementiert, eine “carefully-cultivated invisibility”, die es ihm ermöglichte, zugleich am Schulalltag teilzunehmen, ohne an ihm richtig teilzunehmen.

Aus der widerwilligen Begegnung entwickelt sich schließlich zögerlich eine enge Freundschaft – und damit sogleich eine Ausnahmebeziehung in Gregs Leben. Selbst seinen einzigen Jugendfreund Earl (Ronald Cyler II) bezeichnet dieser lediglich als “co-worker”, drehen die beiden Teenager, die Fans des internationalen Kinos sind, doch persiflierende Hommage-Filme. “Breathe Less”, “The 400 Bros” oder “A Sockwork Orange” beispielsweise. Jene Filme sind es dann, die nach Erwähnung ihrer Existenz durch Earl für Rachel, die fortan während ihrer Chemotherapie der Schule fernbleibt, etwas nötige Ablenkung verschaffen. Und die für Madison (Catherine C. Hughes), einen Schulschwarm von Greg, Anlass für eine Geschenkidee an Rachel sind.

Greg und Earl sollen einen Film explizit für Rachel drehen – etwas, worauf Greg nur bedingt Lust hat. Ihre Filme seien schließlich Mist und sowieso er selbst nur jemand ohne Talent mit dem Gesicht eines Murmeltiers. Hinter Gregs albern-extrovertierter Fassade verbirgt sich eine verlorene Seele. Oder wie es Earl gegenüber Rachel formuliert: “Dude got issues.” Gregs Mutter (Connie Britton) ist enorm vereinnahmend und der Vater (Nick Offerman), ein Soziologieprofessor ohne soziale Kontakte, ein wenig geeignetes Vorbild. Als Stimme der Vernunft taugt höchstens Jon Bernthals Geschichtslehrer Mr. McCarthy (“Respect the reserach!”), selbst wenn im Fall von Greg, wie die meisten Menschen seiner Umwelt merken, guter Rat teuer ist.

Dass die Geschichte weniger um Rachel als um Greg kreist, vernachlässigt Erstere und ihr Schicksal als Folge teils. Wie ihre Krebstherapie ihr zusetzt, nimmt das Publikum zwar nur oberflächlich, aber ausreichend zur Kenntnis. Auch die anderen, etwas dünn gezeichneten Figuren – darunter auch Greg selbst –, vermögen im Kontext des Films ausreichend Luft zum Atmen zu erhalten, um über den Status einer Karikatur hinaus zu kommen. Gomez-Rejon stattet Me and Earl and the Dying Girl vielmehr mit Nuancen aus, die manche Akzente setzen. So wie der aufkommende Alkoholismus von Rachels Mutter (Molly Shannon), die nach dem Weggang des Ehemanns nun auch ihre Tochter und damit irgendwie ihre eigene Identität zu verlieren droht.

Wo The Fault in Our Stars ein kitschiges Beziehungsdrama ist, avanciert Me and Earl and the Dying Earl mehr zum Coming-of-Age-Film. Mittels exzellenter Musik von Brian Eno und Nico Muhly sowie einigen visuellen Vignetten wie Stop-Motion-Szenen oder Greg und Earls „geschwedete“ Amateurfilme sorgen mit dem schrulligen Ensemble für genug Auflockerung. Zwar durchaus ein klassisches Sundance-Feelgood-Produkt entwickelt Alfonso Gomez-Rejons zweiter Film genug Charme, um ungeachtet einiger Klischees zu überzeugen. Fast durchweg komisch und stellenweise berührend entspricht die Geschichte dann durchaus Gregs ironischer Einschätzung zu Beginn des Films: “It was the best of times; it was the worst of times.”

7.5/10