29. Dezember 2017

Uncertain

Yay, beer!

Wenn die Gesellschaft dir den Rücken zukehrt, drehst du der Gesellschaft ebenfalls den Rücken zu. Ganz getreu nehmen es die Einwohner von Uncertain, Texas nicht mit der Philosophie von Timon aus The Lion King. Und doch bleiben sie weitestgehend für sich, in ihrem 94-Seelen-Dorf am Caddo Lake, der in den benachbarten Bundesstaat Louisiana übergeht. Dies sorgt wiederum dafür, dass sich Menschen mit juristischen Problemen über den See nach Uncertain aufmachen. “Uncertain is a good place to hide”, weiß der lokale Sheriff Tom McCool. Auch die drei Protagonisten in Uncertain, dem Dokumentarfilm von Anna Sandilands und Ewan McNicol, haben bereits ihre Erfahrungen mit dem Gesetz gemacht. Und ihre Lehren daraus gezogen.

Zum Beispiel Henry Lewis, der einst im Streit einen jungen Mann erschoss und nun mit dem Gedanken hadert, womöglich im Jenseits nicht mit seiner Familie vereint zu werden. Er wisse, er hat viel Schlechtes in seinem Leben getan. Aber es sei auch viel Gutes darunter gewesen, sinniert der alternde Mann gegen Ende. Ebenfalls geläutert gibt sich Wayne Smith. Der ehemalige Junkie hat viele Jahre im Gefängnis verbracht, unter anderem weil er einem jungen Mann alkoholisiert bei einem Verkehrsunfall das Leben nahm. Heute teilt er sich mit seiner Frau in einem Trailer Park ein Wohnmobil und verbringt seine Nächte mit der Jagd auf Mr. Ed, einen hiesigen Eber. Er und seine Frau “built a life beyond anything we ever dreamed”, verrät Wayne.

So weit ist Zach Warren dagegen noch nicht. Der junge Diabetiker kämpft noch gegen seine Sucht an. Mit 21 gehe man in Uncertain in Rente, erzählt er eingangs. Denn dann gibt es in dem Örtchen nichts mehr für einen zu tun – außer sich zum Biertrinken in die lokale Bar zurückzuziehen. Uncertain, scheint es, ist kein Ort, um sich eine Zukunft aufzubauen. Sondern um seine Vergangenheit zu vergessen. “Uncertain is not on the way to anywhere”, beschreibt Sheriff McCool. “You’re either got to know where you’re going or be lost to find it.” Das trifft es eigentlich ganz gut, um die Bevölkerung am Rande der Gesellschaft in dem überschaubaren See-Dorf zu skizzieren. Ein Platz von Vergessenen oder denjenigen, die vergessen (werden) wollen.

Aber zugleich, wie Sandilands und McNicols Film zeigt, ein Ort mit vielen faszinierenden Facetten. Nicht nur wegen des fantastischen Ortsnamens, der zu tollen Beschreibungen wie The Church of Uncertain und ähnlichem führt. Grundsätzlich zeigt uns Uncertain keine schlechten Menschen, eher das Gegenteil. Zach ist aufrichtig und sympathisch, aber eben auch ein Kind seiner Umstände. Seine Heimat hält keine Zukunft für ihn bereit jenseits der Bier-Bars, das weiß er selbst auch. Weshalb er im Verlauf einen Neuanfang in Austin versucht. Er muss wie Henry und Wayne lernen, mit sich selbst und seinen Dämonen fertig zu werden. Gerade Wayne scheint diese in seine an Moby Dick erinnernde Jagd auf seine Nemesis Mr. Ed zu projizieren.

An vielen Stellen erinnert Uncertain bisweilen an Errol Morris’ Vernon, Florida, wenn sich der Film diesen von der Gesellschaft eher belächelten Charakteren widmet. Es dürfte viele überraschen, wie zufrieden Wayne mit seiner Trailer-Park-Situation wirkt, bis er in der zweiten Hälfte der Doku von seinen dunkelsten Momenten erzählt. Sandilands und McNicol sind nah dran an ihren Figuren und überfrachten die Geschichte nicht mit zu vielen von ihnen. In gewisser Weise repräsentieren Henry, Wayne und Zach drei Generationen, was die Parallelen zwischen ihnen nur noch tragischer, aber zugleich optimistisch macht. Obschon ein weiblicher Blick auf den Ort nicht geschadet hätte, selbst wenn Zach moniert, es gäbe kaum Frauen in ihm.

Die Bewohner von Uncertain kämpfen für ihr Recht zu existieren. Das eint sie mit dem Caddo Lake, der von einer Schwimmfarn-Plage befallen ist, die ihn zu ersticken droht. Weshalb mit Lee Eisenberg eine der Nebenfiguren bemüht ist, Rüsselkäfer zu züchten, die dem Farn Einhalt gebieten können. Es bedarf Stärke, um in Uncertain zu bestehen. “Not that I may best my brother, but that I may defeat my greatest enemy, myself”, wie Wayne ein altes Sprichwort amerikanischer Ureinwohner zitiert. Auch wenn Uncertain sicher ein idealer Ort ist, um sich zu verstecken, so zeigt der Dokumentarfilm von Anna Sandilands und Ewan McNicol doch auch, dass es ein Ort ist, an dem es viel zu entdecken gibt. Man muss nur wissen, wie man ihn findet.

6.5/10

22. Dezember 2017

Dawson City: Frozen Time

What power has gold to make men endure it all?

Das Gebiet um den Klondike und Yukon River war kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert der zentrale Anlaufpunkt des Goldrauschs. In Heerscharen zogen Abertausende gen Yukon in Kanada, um dort im Boden auf das begehrte Element zu stoßen. Selbst 1978 war dies noch der Fall, obgleich der Schatz, der in Dawson City ausgehoben wurde, kein Gold, aber doch Gold wert war. Über 500 verlorene Stummfilme förderten Bauarbeiten zu Tage, Jahrzehnte zuvor als Füllmaterial in einem zugeschütteten Pool gebunkert. Regisseur Bill Morrison nutzte die im Permafrost bewahrten Filme in seiner Dokumentation Dawson City: Frozen Time, um die Geschichte von Dawson City und die Rolle der Stadt während des Goldrausches nachzuerzählen.

“An incredible story”, nennt Morrison die Vorfälle in einem Fernsehinterview zu Beginn. Unglaublich ist auch sein Film geraten, der ausschließlich mit Archivmaterial – historische Fotos und Symbolbilder aus den gefundenen Stummfilmen – von den Anfängen Dawsons über deren Hochphase bin hin zu ihrem Niedergang berichtet. Dabei huldigt er zum einen der Stadt selbst, die aus dem Goldrausch heraus entstand und diesen merklich befeuerte. Aber er würdigt auch die verloren geglaubten Filme – vielleicht sogar zu ausgiebig. Kongenial musikalisch von Alex Somers begleitet, erschafft Morrison eine faszinierende Art der cineastischen Zeitreise, mit Einblicken in die Historie und den vermeintlichen Absturz einer Stadt sowie des Mediums Stummfilm.

Den Anfang machten erste Goldfunde von George Carmack in der damaligen Gegend gegen 1896. Der Schürfer Joseph Ladue erkannte das Potential des Geländes und erstand einen Großteil, um dann Flächen davon zu verpachten. Ein Jahr später tummelten sich bereits 3.500 Einwohner in dem nun Dawson City getauften Fleckchen. Als im selben Jahr insgesamt fünf Tonnen Gold geschürft wurden, rief die Nachricht etliche Nachahmer auf den Plan. Dem Ruf des Goldes folgten 100.000 Menschen – auch wenn ein Großteil von 70.000 unterwegs auf dem beschwerlichen Chilkoot Pass umkehrte oder starb. Dennoch wuchs Dawson bis 1898 auf eine Bevölkerung von 40.000 an und florierte. Ehe wenige Monate später der Hype wieder vorbei schien.

Ein Großteil der Schürfer zog 1899 nach Nome weiter, als dort Gold entdeckt wurde. Dawsons Einwohnerzahl fiel auf 10.000, ein Jahrzehnt später waren es dann nur noch 3.000 Bewohner. Weniger als nach dem ersten Jahr. Etwas verwunderlich, da doch 1900 noch über eine Million Unzen Gold entdeckt wurde – mit einem heutigen Gegenwert von 15 Milliarden Dollar, so Morrison. Wer noch in Dawson lebte, holte nun seine Familie nach. “They built the town they hoped to live in for the rest of their lives”, berichtet der Film. Das Glücksspiel wurde abgeschafft, die Prostitution aus der Stadt verdrängt. Stattdessen wurde gebaut: Kinotheater und Erholungszentren, darunter auch für viel Geld die Dawson Amateur Athletic Association (D.A.A.A.).

Die Verbindung von Dawson zum Kino scheint in die Wiege gelegt, hat es in Dawson City: Frozen Time den Anschein. So lebten einst der Unternehmer Sid Grauman und der Kinobetreiber Alex Pantages in der Stadt, die für ihre rund 3.000 Bewohner im Jahr 1911 gleich drei Kinos bereithielt. “Dawson had an idle, captive audience that was ready to be entertained”, hieß es zuvor bereits. Hunderte Stummfilme sah sich die Bevölkerung jedes Jahr an, und erlebte so selbst im abgelegenen Yukon Eindrücke aus dem New Yorker Central Park oder von exotischen Orten wie Palästina, Indien und Afrika. Und da Dawson innerhalb der Filmverleihroute die Endstation markierte und die Kinobetreiber für Rücksendungen zu geizig waren, bildete sich ein Archiv.

Eines, das spätestens mit Aufkommen des Tonfilms im Jahr 1929 dann allerdings plötzlich hinfällig war. Viele Betreiber zerstörten die inzwischen angehäuften Stummfilme – bereits zuvor waren etliche von ihnen als Füllmaterial des Pools in der D.A.A.A. verwendet worden, als dieser geglättet wurde, um als Fläche und Untergrund für das lokale Eishockey-Team zu dienen. Letztlich ein Segen, als sie – zwar durch den Permafrost angegriffen, aber immerhin bewahrt – über 50 Jahre später bei Bauarbeiten auf dem D.A.A.A.-Gelände wiederentdeckt wurden. Ein Schatz auf seine ganz eigene Weise, informierte die Dokumentation doch direkt zu Beginn darüber, dass 75 Prozent der gedrehten Stummfilme heute nicht mehr existieren.

Morrison selbst ist mit dem Sujet bestens vertraut, widmete er sich doch bereits 2002 in Decasia dem Verfall von Stummfilmen. Jene Passion mag dann auch erklären, wieso Dawson City: Frozen Time gerade in seinem Schlussdrittel eine Vielzahl an Clips der gefundenen Stummfilme präsentiert. Sie zeigen oft verschiedene identische Momente aus den unterschiedlichen Werken, was sie wiederum etwas repetitiv macht. Genauso wie an manchen Stellen etwas die Einordnung der Stadthistorie fehlt, zum Beispiel warum trotz des neuerlichen Goldfundes von 1900 die Bevölkerungszahl dennoch nicht erneut zu-, sondern weiter abnahm. So lebten 1950 schließlich nur noch etwas weniger als 900 Menschen in dem früheren Goldrausch-Mekka.

Dennoch gelang Morrison mit seinem jüngsten Film ein kleines Meisterwerk, dank der harmonischen Symbiose aus Archivbildern und Somers emotionaler Komposition. Auch die Wahl mit Texttafeln statt einer Erzählstimme verleiht Dawson City: Frozen Time nochmals etwas Besonderes und nimmt ihm das Feeling eines PBS-Specials. So honoriert Bill Morrison letztlich überzeugend der Historie der kleinen Stadt in Yukon sowie der Bedeutung und Geschichte des Stummfilms gleichermaßen. Informativ und unterhaltsam zugleich – mehr kann ein Zuschauer im Grunde nicht von einer Dokumentation erwarten. Weshalb für sich gesehen konsequenter Weise daher auch Dawson City: Frozen Time ein Schatz ist, den es für Filmlieber gilt, auszugraben.

7.5/10

15. Dezember 2017

The Killing of a Sacred Deer

The operation was a success but unfortunately the doctor didn’t make it.

Mit Verlusten im Leben zurecht zu kommen, ist für viele keineswegs einfach. Frust, Wut, Trauer, Resignation können damit einhergehen und Menschen verzweifeln lassen. Der griechische Auteur Giorgos Lanthimos konfrontiert in seinen Werken immer wieder seine Figuren mit Verlusten. Fehlte es den Kindern in Kynodontas an ihrer Freiheit, kompensierten die Charaktere in Alpeis konkret menschliche Verluste als Trauerbegleitung. Beides wiederum wohnt zugleich Lathimos’ letztjährigem Meisterwerk The Lobster inne. Nach dem Verlust des Partners droht den Charakteren darin das Ende ihrer sozialen und menschlichen Existenz, wenn sie keinen Ersatz finden. Verluste sind es auch, die den Kern von The Killing of a Sacred Deer bilden.

Darin verlor der 16-jährige Martin (Barry Keoghan) vor einigen Jahren seinen Vater während einer Herzoperation. Die Schuld gibt er dem diensthabenden Kardiologen Steven (Colin Farrell), der sich wiederum in seiner Freizeit des Jungen annimmt und Zeit mit ihm verbringt. Als er Martin in sein Haus einlädt und ihn seiner Familie vorstellt, will dieser die Einladung erwidern. Doch Martins Versuche, Steven mit seiner Mutter (Alicia Silverstone) zu verkuppeln, scheitern. Frustriert stellt der Jugendliche dem Arzt ein Ultimatum: Entweder er tötet als Ausgleich für den durch ihn verursachten Tod von Martins Vater eines seiner eigenen Familienmitglieder oder alle werden einer mysteriösen und letztlich tödlichen Krankheit anheimfallen.

Damit ist fast schon zu viel gesagt, ist das stärkste Faustpfand von The Killing of a Sacred Deer doch seine bedrohlich-verstörende Atmosphäre. So wirkt das erste Treffen von Steven und Martin im Film wie das eines Vaters mit seinem entfremdeten ältesten Sohn. Und als sich herausstellt, dass die Figuren nicht verwandt sind, wird die Beziehung zwischen dem Erwachsenen und dem Teenager noch undeutlicher. Ebenjene Beziehungen der Charaktere zu- und untereinander spielen ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle bei Lanthimos. Von Martins Bestreben, seiner Mutter neues Glück an der Seite des von ihr verehrten Steven zu schenken und diesen offiziell zum Vater-Ersatz zu machen hin zum Verhältnis von Steven zu seinen Kindern.

In kurzen Momenten skizziert der Regisseur dabei, dass Tochter Kim (Raffey Cassidy) ihrem Vater und Sohn Bob (Sunny Suljic) seiner Mutter Anna (Nicole Kidman) näher ist. Die übernimmt auch mal die häuslichen Pflichten des jüngsten Kindes, verteilt diese aber bereitwillig auf dessen Schwester, nachdem Bob als erstes dem „Fluch“ von Martin zum Opfer fällt. Naturgemäß nimmt Steven die Drohung des Jugendlichen anfangs nicht ernst. Die plötzliche Lähmung des Sohns wird als Vorwand zum Schule schwänzen abgetan. Zumal die Kollegen im Krankenhaus keine medizinische Erklärung für dessen Symptome haben. Lange Zeit befassen sich die Figuren somit gar nicht mit der Frage, wer zu opfern wäre, sollte es beim Status quo bleiben.

In gewisser Weise teilt sich The Killing of a Sacred Deer in drei Akte auf. Dem ersten, der die Exposition für die Handlung liefert, mit Stevens und Martins Verhältnis und ihren Familien als unbeteiligte Dritte. Im Mittelteil begleitet Lanthimos den allmählichen gesundheitlichen Verfall innerhalb Stevens Familie sowie dessen Frust und seine daraus geborene Wut ob der Situation. Erst im Schlussakt gewinnt die Geschichte eine neue, von Martin angestrebte Dynamik der Eskalation, kulminierend in einem Finale, das wie eine Symbiose aus Richard Kelly und Michael Haneke wirkt. Nebenbei dröselt der Film hinsichtlich der Umstände auch die Frage nach Verantwortung sowie dem klassischen patriarchalischen Rollenbild innerhalb der Familie auf.

Er sei nun in Abwesenheit seines Vaters der Mann im Haus, adressiert Martin beispielsweise in einer Szene Bob. Im Wissen, dass er, Martin, nun selbst nach dem Tod seines Vaters der Mann bei sich daheim ist. Und verantwortlich für seine Mutter, wie auch Anna, Kim und Bob im Grunde zu Steven blicken als Konfliktlöser ihrer Probleme. So absonderlich Martin in vielen seiner Szenen erscheint, so bedürftig nach (väterlicher) Liebe ist er womöglich. “Can I give you a hug?”, fragt er Steven da zu Beginn, als dieser ihm ein Geschenk macht. Und fragt den Arzt später in einer anderen Szene gar nicht mehr, sondern umarmt diesen einfach. Auf seine Weise versucht Martin, mit seinem Verlust klarzukommen. Scheitert aber daran, ihn zu ersetzen.

Verantwortung muss Steven auch für jenen Vorfall übernehmen, der ursächlich für die im Film gezeigten Ereignisse ist. Martins Schuldvorwurf mag aus der Trauer geboren sein, doch er scheint den Tatsachen zu entsprechen. Zwar schieben sich Steven und sein Anästhesist Matthew (Bill Camp) gegenseitig die Schuld für die misslungene Operation zu, doch die Annahme, Steven habe unter Alkoholeinfluss das Skalpell geschwungen, wird befeuert durch die Tatsache, dass er seit ebenso vielen Jahren nicht mehr trinkt wie die fatale Operation her ist. Es ist nicht das erste und einzige Mal im Film, als sich Steven seiner Verantwortung entzieht, der er sich gegen Ende wider Willen und besseren Wissens dann aber doch stellen muss.

The Killing of a Sacred Deer wird dabei weniger von seiner Prämisse getragen – wie erwähnt treibt Lanthimos sie erst im Schlussakt in das für ihn typische Absurde – oder von der Tiefe seiner Handlung als von der Stimmung, die Film und Figuren begleitet. Die Wahl auf den unscheinbaren Barry Keoghan als böswilligen Rachsüchtigen ist ungewöhnlich und auf ihre Art durchaus überzeugend. Colin Farrell bewies bereits in The Lobster, dass sich seine Art des Schauspiels sehr gut mit Lanthimos’ monotonem Dialogstil sowie kühler Inszenierung versteht. Nicole Kidman fügt sich dem nicht ganz und bleibt sich bisweilen eher treu, während gerade Alicia Silverstone in ihrem kurzen, aber prägnanten Auftritt eine eigene Duftmarke hinterlässt.

Heinrich Heine meinte einst, „man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt worden“. Martin könnte dies ähnlich sehen. Als ihn Anna in einer Szene fragt, warum der Jugendliche sie und ihre Kinder in den Zwist mit Steven zieht, erhält sie keine Antwort. Für den Teenager geht es weniger um Vergeltung an dem Arzt als darum, diesen den Verlust spüren zu lassen, mit dem er und seine Mutter selbst jeden Tag klarkommen müssen. Giorgos Lanthimos liefert mit The Killing of a Sacred Deer ein eindringliches und durchweg faszinierendes Psychodrama, dem dennoch etwas die Tiefe seiner Vorgänger fehlt. In gewisser Weise muss der jüngste Film des Griechen also mit seiner ganz eigenen Art von Verlust auskommen.

6.5/10

8. Dezember 2017

Motherland

Give your womb a rest.

In Deutschland war die Geburtenrate im vergangenen Jahr so hoch wie seit Anfang der 1980er nicht mehr. Im Schnitt brachte jede Frau 1,5 Kinder zur Welt – eine Zahl, von der die Philippinen weit entfernt sind. Dort entfallen laut den Vereinten Nationen rund drei Geburten auf jede Frau, eine seit Jahren immerhin zurückgehende Fertilitätsrate. Und eine, die sich so nicht direkt in Motherland, der Dokumentation von Ramona Diaz über eine Geburtsklinik in Manila widerspiegelt. Wie viele Kinder sie wolle, wird eine schwangere 24-Jährige darin von einer Krankenschwester gefragt. “Just five”, entgegnet die junge Frau, die zuletzt im jährlichen Rhythmus bereits vier Kinder anhäufte und dadurch die Geburtenrate des Landes übertrifft.

Damit ist sie nicht allein im Dr. Jose Fabella Memorial Hospital in Manila. Im Verlauf des Films bringt dort eine 26-jährige Frau ihr bereits 6. Kind zur Welt. “The children come out one after another”, klagt derweil eine andere Patientin, die schon sieben Kinder hat. “I can’t take care of all of them at once.” Verhütungsmaßnahmen wie Spiralen stoßen dennoch auf wenig Anklang bei den christlichen Frauen. Oftmals sind es ihre eigenen Mütter, die den Eingriff ablehnen, was etwas irritiert, da diese als Elterngeneration bereits dasselbe Schicksal durchgemacht haben. Stattdessen überbieten sich die Patientinnen in Motherland mit der Zahl ihrer Schwangerschaften und der Besuch in der Geburtsklinik wird für viele zum jährlichen Happening.

Das Ausmaß wird direkt in der völlig überfüllten medizinischen Einrichtung deutlich. Die Krankenbetten teilen sich zwei Frauen plus ihre Neugeborenen, mit jeweils zugeordneten Nummern, die von den Krankenschwestern aufgerufen werden wie auf dem Einwohnermeldeamt. Noch dramatischer ist es vor dem Entbindungssaal, wo sich teils bis zu drei Hochschwangere auf einer einzelnen Trage wälzen und auf die Abfertigung wie im Schlachthof warten. Eine von ihnen schafft es nicht mal mehr in den Kreissaal und gebiert ihr Kind im Gang. Praktisch ist diese Massenbehandlung zumindest dann, wenn eine Patientin ein hungriges Neugeborenes stillen kann, als dessen Mutter sich zeitweise für eine Dusche vom Bett entfernt hat.

Der westliche Zuschauer erlebt hier bestmöglich kontrolliertes Chaos, dessen absurde Ausmaße mehrmals wider Willen für Humor sorgen. Generell ist die Situation vor Ort aber bestürzend, so auch in der Frühchen-Station. Da es dem Krankenhaus an Inkubatoren mangelt, sollen sich die Mütter dadurch behelfen, dass sie ihre Kinder unter ein elastisches Top klemmen, um es wie ein Känguru durch ihre Körperwärme aufzupäppeln. Als später eine der Krankenschwestern im so genannten KMC (Kangaroo Mother Center) vorbeischaut, sieht sie aber die meisten Frühchen wie ein Handy auf dem Bett liegen, während die Mütter sich dem Klatsch und Tratsch widmen. Ohnehin spürt man nicht sonderlich viel Liebe zwischen Elternteil und Kind.

Obwohl ihr Frühchen nicht fit genug sei und eine Infektion riskiere, besteht eine der Mütter auf “HAMA” – eine Entlassung gegen ärztlichen Rat (home against medical advice”). Selbst ihr Ehegatte kann sie nicht umstimmen, nachdem dem Arbeitslosen klargemacht wurde, dass er nicht die Kosten des Krankenaufenthalts zu tragen hat. Sie müsse sich um ihre übrigen Kinder kümmern, klagt die Frau, doch der Umgang mit dem jüngsten Zuwachs wirkt wenig liebevoll. Vielmehr scheint es, als seien ihre Kinder für die jungen Mütter Steine im Rucksack ihres Lebens. Umso unverständlicher, weshalb sie alle auf die wiederholt vom Krankenhauspersonal angebotene Option einer Spirale mit zehn Jahre währender Schwangerschaftsprävention verzichten.

Ramona Diaz vermittelt mit Motherland intime Einblicke nicht nur in das Problem der Überbevölkerung auf den Philippinen als solches, sondern auch in das Leben der betroffenen Mütter. Bemerkenswert ist dabei die Zuversicht und der Optimismus, den die meisten von ihnen an den Tag legen, obschon ihre Partner oft nicht wissen, wie sie den Lebensunterhalt der nächsten Woche bestreiten, während die hungrigen Mäuler immer zahlreicher werden. Davon kann auch das Dr. Fabella Memorial Hospital ein Lied singen. Als es 1920 gegründet wurde, beherbergte es lediglich sechs Betten; heute teilen sich diese wiederum mindestens 24 Personen. Deutsche Frauen dürften somit froh sein, dass unsere Geburtenrate da deutlich geringer ausfällt.

6.5/10

1. Dezember 2017

The Square

Garbage!

Wird etwas erst dadurch zu Kunst, indem es in den Räumen eines Museums ausgestellt wird? Diese Frage wirft der Stockholmer Kurator Christian (Claes Bang) in einem Interview mit der Journalistin Anne (Elisabeth Moss) zu Beginn in den Raum, als er strauchelt, ihr eine Ausstellungsbeschreibung auf der Museums-Homepage sinnig zu erklären. Eine durchaus interessante Überlegung. So zeigt Christians Museum in einer seiner Ausstellungen unter anderem mehrere kleine Haufen Schutt, wie man sie auch auf einer Baustelle sehen könnte. Nur würde sie dort niemand als Kunst wahrnehmen. Ist es also erst die Institution des Museums, die einem Werk seinen künstlerischen Rahmen verleiht? Und kann in diesem Rahmen letztlich alles Kunst sein?

Ein vermeintliches Beziehungsgeflecht, das auch den Künstler Julian (Dominic West) nach eigenen Angaben in seiner Herangehensweise an seine Arbeit inspiriert: Wie verhält sich das Bild zum Rahmen und im Kontext seiner Ausstellungsfläche? Wenn dann während eines öffentlichen Gesprächs mit Julian unentwegt einer der Zuschauer obszöne Zurufe von sich gibt, scheint es gut möglich, dass dies weniger an dem erklärten Nachsatz, er habe das Tourette-Syndrom, liegt, als vielmehr eine Inszenierung sein könnte. Regisseur Ruben Östlund präsentiert in seinem jüngsten und in Cannes prämierten Film The Square mehrere solche vermeintlichen Meta-Vignetten, die losgelöst von der eigentlichen Haupthandlung passieren.

Eine Inszenierung erlebt der Zuschauer darin auch in ihrem ersten Akt. Während eines in die Öffentlichkeit getragenen Beziehungsdramas stellt sich heraus, dass dieses nur als Maske für zwei Taschendiebe diente, die Christian um seine Wertsachen erleichtern. Mittels Handy-Ortung kann Christian im Anschluss den Aufenthaltsort der Täter auf ein Sozialwohnhaus eingrenzen und lässt sich von seinem Mitarbeiter Michael (Christopher Læssø) dazu überreden, einen anonymen Drohbrief in jeden Briefkasten zu werfen, in welchem er sein Hab und Gut zurückfordert. Als er damit das Ehrgefühl eines unschuldigen Jungen verletzt, der nun vor seiner Familie als Dieb dasteht, ist dies schließlich der Auftakt für einige unglückliche Ereignisse.

Seinen Titel bezieht Ruben Östlunds Film dabei auf ein neues Kunstwerk, das sich Christians Museum der modernen Kunst gesichert hat. Ein beleuchtetes Quadrat, welches einen Raum des Vertrauens und Mitgefühls schaffen soll. Wer in dem Quadrat um Hilfe bitte, müsse von der Gesellschaft erhört werden, so das idealistische Konzept. Ob sie ein Leben retten wollen, fragt da morgendlich am Platz vor dem Hauptbahnhof eine Frau die Passanten – darunter Christian – nach einem finanziellen Beitrag oder einer Unterschrift. Und wird ebenso geflissentlich ignoriert wie die zahlreichen Obdachlosen und Bettler, die auf den Plätzen und vor den Läden sitzen. Und die in The Square als weiteres subtiles Thema mit brisantem Konfliktpotential dienen.

Rund 4.000 Bettler sollen sich nach Angaben inzwischen in Schweden aufhalten, bis zu 1.500 davon alleine in Stockholm. Wodurch die Stadt im Pro-Kopf-Vergleich mit zu den Städten mit den meisten Bettlern zählt. Wenn Christians Museum zur Vermarktung von The Square dann ihre hippe PR-Agentur mit einem viralen Video beauftragt und diese dafür letztlich als sozialen Kommentar auf die Lage in Schweden ein blondes Bettlerkind in den Fokus stellen wollen, ist der Ärger vorprogrammiert. Östlund nutzt die Reaktion auf das provokante Video später geschickt für eine Pressekonferenz – wieder eine Inszenierung –, in der das heuchlerische Echauffieren der Bürger ob eines Problems, das sie täglich selbst ignorieren, zu Tage tritt.

Es gibt noch andere solche satirisch demaskierenden Situationen, darunter die wohl einprägsamste Szene des Films während eines Bankett-Dinners des Museums. Eingeleitet von dem Perfomance-Künstler Oleg (Terry Notary), führt sich dieser als Gorilla inmitten der Gäste auf. Zuerst von diesen wie Julian humorvoll zur Kenntnis genommen, spannt sich der Akt mit der Zeit mehr und mehr an. Und es wird deutlich, dass weniger die Darbietung von Oleg als Primat das Werk seiner Kunst ist, sondern was dieses Schauspiel bei seiner Umgebung auslöst. Von Belustigung über Irritation hin zu Furcht und Aggression. Indem sich ein Mensch wie ein wildes Tier benimmt, lockt er letztlich dadurch aus den anderen Menschen ihren animalischen Trieb hervor.

Von einem Selbsterhaltungstrieb scheint auch Christian eingenommen. Wirkt der Verlust seiner Wertsachen zuerst für die Figur eher wenig dramatisch, ist er dann aber doch ursächlich für das weitere Drama im Verlauf des Films. Claes Bang spielt den bourgeoisen Christian nicht frei von Sympathien, aber doch mit erkennbaren Ecken und Kanten. Er steht hierbei im Fokus der Geschichte, in der die übrigen Charaktere wie Anne, Julian, Michael und Oleg nur am Rand auftauchen. Und hierin findet sich auch einer der Probleme von The Square, der immer wieder den Rahmen seiner Inszenierung erweitert, für jene die Kunst kommentierenden – und wohl auch teils persiflierenden – Szenen abseits von der Kernhandlung um Christian und den Drohbrief.

So könnte sowohl Julians durch den Tourette-Zuschauer torpediertes Künstlergespräch als auch die Dinner-Performance von Oleg im Prinzip genauso gut der Schere zum Opfer fallen, ohne dass dies die eigentliche Geschichte um Christians Drama beeinflussen würde. Jene Geschichte wiederum wäre zudem als Prämisse für einen Film von Jean-Pierre und Luc Dardenne eventuell besser aufgehoben gewesen, genauso wie die Künstler-Sequenzen in einer Vignetten-Inszenierung à la Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach. In der Folge wirkt The Square etwas unstrukturiert (was womöglich von Östlund auch intendiert war) durch den Wechsel aus Christians Erlebnissen und den Szenen mit dem Ensemble.

Löblich ist, dass der Film trotz der aufgeblähten Laufzeit von zweieinhalb Stunden keine wirklichen Längen entwickelt und durchweg zu unterhalten weiß. Gleichzeitig fehlt The Square jedoch etwas das Momentum und die Aussagekraft von Ruben Östlunds starkem Vorgänger Turist. Wo dieser unter anderem das traditionelle Familien- und Geschlechter-Bild sezierte, gerät The Square in dem mitunter subtilen Ansatz, was Kunst ist und was sie sich alles erlauben darf – zuvorderst in Olegs Performance und der Herangehensweise an das virale Marketingvideo dargestellt –, nicht fokussiert genug. „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt“, hatte Pablo Picasso einst gesagt. Das hätte Östlund vielleicht noch stärker berücksichtigen können.

6/10

24. November 2017

Ingrid Goes West

What is your biggest emotional wound?

Mit diesen Worten beginnt der 1.000 Beitrag auf diesem Blog, das im Jahr 2007 ins Leben gerufen wurde. Da passt es in gewisser Weise, dass der hier zu besprechende Film, Ingrid Goes West, ebenfalls den Aspekt Social Media zum Thema hat. Eine seiner Zeit lebhafte (Film-)Bloggersphäre lud zum regen Austausch eines Kerns von Nutzern ein – nun, über ein Jahrzehnt später, sind von jenen Bloggern nicht mehr allzu viele aktiv, dafür natürlich andere, jüngere, nachgerückt. Gerade für Millennials und die Generation Z dominieren die Social Media verstärkt ihren Alltag. Der erste und der letzte Blick des Tages wandern auf das Smartphone, auf die Updates aus Facebook (über 2 Milliarden Nutzer), Instagram (700 Millionen), Twitter und Co.

So auch bei Ingrid (Aubrey Plaza), die ihr Leben einst pausieren musste, um ihre kranke Mutter bis zu deren Tod zu pflegen. Sozial vereinsamt sucht sie sich ihre Kontakte über soziale Netzwerke und verliert sich dabei stets in ihrer vereinnahmenden Zuneigung. Als jüngstes Ziel hat sich Ingrid die Instagram-Influencerin Taylor (Elizabeth Olsen) auserkoren. Ein Reply auf einen Kommentar gibt Anlass, sich mit dem finanziellen Nachlass ihrer Mutter auf nach Los Angeles zu machen. Dort mietet sie sich zur Untermiete beim aufstrebenden Drehbuchautor Dan (O’Shea Jackson Jr.) ein und eifert Taylors Lifestyle nach. Als sie zu dieser und ihrem Mann Ezra (Wyatt Russell) Kontakt knüpft, gilt es, das Kartenhaus aus Lügen aufrecht zu erhalten.

Auf der einen Seite kommentiert Ingrid Goes West die Abhängigkeit der jüngeren Generation von ihrem Smartphone und Relevanz in sozialen Netzwerken. Zugleich im Verbund damit aber auch die Faszination der Menschen mit „Prominenz“ innerhalb dieser Netzwerke, an der sie sich orientieren und im Idealfall auf vermeintlich persönlicher Ebene direkt austauschen kann. Gerade den Beginn seines Films gestaltet Regisseur Matt Spicer dabei nahe an der letztjährigen Black Mirror-Episode “Nosedive”, wenn Ingrid einen Großteil des Tages damit verbringt, bei Instagram jeden Post derjenigen, denen sie folgt, zu liken. Und den losen und generell anonymen Kontakt über Social Media als reale Freundschaft missinterpretiert.

Den Impuls zur Geschichte des Films gibt da dann ein Porträt Taylors in einer Zeitschrift, das zur Profilmaximierung ihres Instagram-Accounts natürlich so offen wie möglich an ihre potentiellen Follower gerichtet ist. Aber dann eben auch obsessive Anhänger wie Ingrid auf den Plan rufen kann. Die geht manipulativ vor, um Taylor zur neuen besten Freundin zu machen, die sie für Ingrids Verständnis bereits ist. Ezra wird von ihr da noch weitestgehend toleriert, aber als später Taylors Bruder (Billy Magnussen) und eine Fashion-Bloggerin (Pom Klementieff) zur Gruppe dazu stoßen, beginnt allmählich das perfekte Bild von Ingrids Freundschaft mit ihrem Vorbild zu bröckeln. Dass die Dinge eskalieren müssen, scheint ohnehin vorprogrammiert.

Leider schenkt der Film nur wenig Einblick in das Innenleben der Figuren. Bemerkenswert ist ein Rendezvous von Ingrid und Dan, während dessen Verlauf sich die Charakter einander öffnen, sodass nicht nur sie, sondern auch das Publikum verstehen kann, woher sie kommen. Wir erfahren auch Facetten aus dem Leben von Taylor und Ezra, nur nutzt Spicer diese nicht zentraler für seine Geschichte, wo sie eigentlich Wert wären, beleuchtet zu werden. Beispielsweise wenn eingeführt wird, dass Ezra selbst mit Social Media weniger am Hut hat und noch ein Klapphandy nutzt, genauso wie er seine scheinbare Bestimmung als Pop-Artist eher auf Anraten von Taylor ausübt. Oder dass diese mehr mit Ingrid eint, als sie eingestehen würde.

Statt ein bissiger Kommentar auf den Social-Media- und Smombi-Wahn der Gegenwart zu sein, verliert sich Ingrid Goes West im Verlauf mehr in dem humorvoll präsentierten Stalking-Aspekt der Geschichte, ohne sich jedoch auch diesem intensiv zu widmen. Vielmehr verschwindet Elizabeth Olsen in der zweiten Hälfte mehr und mehr in den Hintergrund. Das Ende versucht dann zwar nochmals, die Kurve zur Social-Media-Satire zu kriegen, kommt dafür aber im Grunde zu spät, nachdem sich Matt Spicer lange Zeit lieber anderen, oberflächlicheren Dingen zugewandt hat. In der Folge ist Ingrid Goes West somit zwar ganz nett, aber irgendwie genauso vergessenswert wie der Facebook-Post des Arbeitskollegen von letzter Woche.

5.5/10

17. November 2017

Murder on the Orient Express

I know your mustache.

Im Krimi-Genre steht und fällt eine Geschichte mit ihrer Auflösung. Wird nicht genug Spannung aufgebaut, kulminierend in einer zufriedenstellenden Aufklärung des Falls, kann das ganze Produkt nicht überzeugen. Murder on the Orient Express wartet mit einer viel versprechenden Prämisse auf – und mit einer ungewöhnlichen Täterermittlung. Und dennoch vermag Kenneth Branaghs Adaption von Agatha Christies gleichnamigem Roman-Klassiker nicht wirklich zu überzeugen. Das liegt nicht nur an dieser Neuverfilmung des nordirischen Regisseurs und Hauptdarstellers, die trotzdem versäumt, etwaige unebene Stellen zu glätten. So bleibt Murder on the Orient Express ein grundsätzlich zwar unterhaltsamer, aber nicht wirklich guter Film.

Wider Willen begibt sich der ausgebrannte renommierte Detektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh) in Istanbul als Passagier an Bord des Orient-Express’, um in England einen Fall zu lösen. Bereits unterwegs wird er jedoch mit einem Mord konfrontiert und vom Direktor des Express, seinem persönlichen Freund Bouc (Tom Bateman), gebeten, sich der Aufklärung anzunehmen. Als eine Lawine den Zug für einen Tag zum Halt zwingt, nutzt Poirot dies, um die zwölf anderen Passagiere individuell zu verhören. Denn der Täter, so schließt Poirot, muss noch an Bord des Express sein. Während seiner Vernehmung rückt dabei immer stärker ein anderer Fall eines gescheiterten früheren Kidnappings in den Mittelpunkt der Ermittlungen.

Wie jeder gute Krimi bringt einen Murder on the Orient Express zum Überlegen, Raten, Zweifeln, wer der Mörder oder die Mörderin sein könnte. Idealerweise sollte die Geschichte das Publikum wie auch seine Hauptfigur hierbei immer wieder auf neue Fährten locken. Dies vermag Branaghs Film eher leidlich zu gelingen, zumindest wartet er jedoch mit einem „Twist“ zum Schluss auf, der innerhalb des Genres Seltenheitsfaktor hat. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass er deshalb zwingend überzeugt, wirkt er doch arg konstruiert. Zugleich fehlt ihm die nötige Exposition, der sich der Film wiederum zu einem gewissen Grad verschließen muss, um seine Karten nicht zu früh preiszugeben und das Ende vorweg zu nehmen.

Es macht es jedoch nicht besser, die Motivation für das Verbrechen in einem Nebensatz zu erklären und die notwendige Empathie der Zuschauer vorauszusetzen. Murder on the Orient Express nutzt seine Laufzeit nicht allzu geschickt beziehungsweise hadert mit der Vielzahl an Figuren – es sind über ein Dutzend –, der er sich in ihr zu widmen hat. Stippvisitenmäßig klappern wir Johnny Depps schmierigen Amerikaner ab, sehen seine Angestellten (Josh Gad, Derek Jacobi), Daisy Ridleys englisches Kindermädchen, das scheinbar eine Romanze mit Leslie Odom Jr. als ebenfalls mitreisender Arzt pflegt. Judi Dench, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Olivia Colman und mehr sind ebenfalls am Bord, werden aber nur kurz en passant beleuchtet.

Infolgedessen kann kaum eine Figur abseits von Poirot wirklich Charakter entwickeln, wird vielmehr durch ihre Beschreibung definiert, zum Beispiel Missionarin, Arzt, Schaffner. So sporadisch wie sich Poirot mit ihnen befasst, tut es letztlich auch der Film. Manche von ihnen, wie Manuel Garcia-Rulfos Marquez könnten genauso gut auch aus der Handlung fehlen. Die Verknüpfung des Mordfalls mit dem gescheiterten Kidnapping eines Kleinkindes in Lindbergh-Manier entfaltet sich ebenso wenig zu Gunsten der Spannung. Dabei hat die Prämisse durchaus Potential und hätte eventuell lediglich angepasst werden müssen, indem weniger Figuren mehr Fokus erhalten. Auch wenn dies von Christies Roman abweichen würde.

Kenneth Branagh drehte seinen Murder on the Orient Express im großen Stil, auf 65mm gefilmt mit einigen edlen Aufnahmen (die Schlussszene ist toll inszeniert) und großen Namen. Doch er bietet weder dem Orient-Express eine Bühne, der nur halbherzig als Set erforscht wird, noch den darin reisenden Charakteren. Alles wirkt ein wenig überfrachtet, einschließlich der Mord-Motivation, weshalb auch die Auflösung nicht restlos gefallen will, selbst wenn sie Poirot vor ein interessantes Dilemma stellt. Jenes Ziel hätte die Handlung von Agatha Christie auch über andere Wege erreichen können. Und wie sagte die Schriftstellerin einst selbst: Auch wenn gute Ratschläge fast nie beachtet werden, sei dies kein Grund, sie nicht zu geben.

5/10

10. November 2017

La La Land

How about: all for you and none for me?

Es gibt drei bemerkenswerte Szenen in Damien Chazelles Debütfilm Whiplash, in denen die Hauptfigur, ein Musiker, eine Kinoangestellte zu einem Date einlädt, mit ihr auf dieses Date geht und anschließend die Beziehung mit ihr beendet, weil sie sich auf ihre Musik fokussieren will. Ein Subplot im minimalsten Sinne, mit dem ausschließlichen Hintersinn, dem Publikum eine Figur zu zeigen, die etwas erhält, das sie für ihre Ziele opfern kann. Nicht, dass es dieses Opfers gebraucht hätte, um die Motivation des Charakters zu verstehen, geschweige denn, dass die geopferte Beziehung zuvor irgendeine Relevanz gehabt hätte, so flüchtig wie sie skizziert wurde. Es wundert nicht, dass Chazelle dasselbe Schema in seinem Folgefilm La La Land erneut fährt.

Die Hälfte des Films ist beinahe rum, als die aufstrebende Schauspielerin Mia (Emma Stone) plötzlich einen Freund an die Seite gestellt bekommt, den die Handlung zuvor weder gezeigt noch referiert hat. Während eines Dinners mit dem Freund sagt sich Mia von diesem los, weil sie eigentlich zeitgleich eine Verabredung mit dem aufstrebenden Jazz-Musiker Sebastian (Ryan Gosling) hat, zu dem sie eilt, um mit ihm eine Romanze zu beginnen. Sinn und Zweck des Deux-ex-machina-Freundes von Mia ist erneut, dem Publikum zu veranschaulichen, wie ernst es der Figur mit etwas ist, was auch zuvor bereits deutlich geworden war. Es ist absehbar, dass Damien Chazelle auch in seinem nächsten Film wohl wieder eine ähnliche Szene integrieren wird.

La La Land ist ein Musical voller Misstöne – sowohl narrativ, als auch was seine Musik angeht. Beginnend mit einer relevanzlosen Eröffnungsnummer, die zwar auf das Thema der aufstrebenden Stars in Los Angeles verweist, allerdings mit völlig falschem Kontext. Passend, dass in der Szenerie des Autostaus die zwei Hauptfiguren anwesend sind, aber an dieser nicht teilnehmen. Statt die Szene zum späteren Zeitpunkt einzuführen und auf einen der Charaktere zu fokussieren, ist sie so deplatziert und verschenkt. Gibt aber den Ton an, für die folgenden katastrophalen Musikstücke von Justin Hurwitz. Ein Musical ist letztlich nur so gut wie seine Lieder – und die von La La Land hat man bereits vergessen, bevor sie überhaupt beginnen.

Das liegt zum einen daran, dass die Textzeilen nicht atmen können, da sie einerseits zu schnell vorgetragen und andererseits von der Musik übertönt werden. In Musicals wie West Side Story erhalten die Song-Passagen entsprechend Raum zur Entfaltung, die Musik begleitet den Text. In La La Land verkommt alles zu einem unübersichtlichen Einerlei, exemplarisch zum Ende einer Hausparty, in der sich die Kamera irgendwann in den Pool stürzt. Ähnlich verhält es sich mit den Tanzpassagen, die in anderen Musical-Filmen Aussagekraft besitzen, während sie bei Chazelle lediglich Beiwerk sind im Zerrbild dessen, was vom Regisseur als Musical begriffen wird. Wo der Film bei Musik und Tanz versagt, trifft dies auch auf die Handlung zu.

Sie mag keinen Jazz, verrät Mia später. Folgt eingangs in einer Szene aber doch den Piano-Klängen von Sebastian. Beide Figuren begegnen sich nur kurz, erinnern sich natürlich sofort Monate danach aneinander, als sie sich zufällig wieder sehen. Mia will Schauspielerin sein, wandert jedoch von einem erfolglosen Casting zum nächsten. Die dienen wohl der humorvollen Auflockerung in ihrer desinteressierten Ignoranz der Figur, besitzen aber wie alles im Film keine wirkliche Botschaft, da sich die Handlung diesem Thema nicht widmen mag. Ein gelungenes Gegenbeispiel lieferte dieses Jahr eine Casting-Szene in der Netflix-Serie GLOW, die etwas aussagte und zugleich Humor besaß. Beide Dinge müssen sich also nicht zwingend ausschließen.

Sebastian scheitert ebenso in der Verwirklichung seines Traums, befindet sich im Verlauf des Films allerdings ausschließlich in verschiedenen Stadien der Untreue zu seinen Idealen. Egal ob er Weihnachtslieder in einem Restaurant spielt oder in der Jazz-Pop-Band eines Bekannten (John Legend). La La Land will von diesen Träumern in der Traumfabrik Hollywood erzählen, dies macht schon der Autostau zu Beginn klar. Am Ende erreichen beide Figuren ihre Träume, wie sie dies geschafft haben, ist bei Sebastian letztlich noch unklarer als bei Mia. Letztere inszeniert ein eigenes Theaterstück – ein Misserfolg, der dann als Basis für Erfolg dient, indem er ihr ein Casting beschert, das ihre Karriere zum Weltruhm ebnen soll (wie auch immer).

Bezeichnend ist, dass die entscheidende Szene in dem persönlichen Stück nicht zu sehen ist. Beim Casting soll Mia dafür eine Geschichte erzählen. Chazelle nutzt dies, um zu einem der vergessenswerten Liedern von Hurwitz zu schneiden, ehe eine 0815-Überblende wieder die zwei Hauptfiguren auf die Leinwand zaubert. In der durchschnittlichen High-School-Komödie She’s All That gibt es eine ähnliche Szene, in der die Figur von Freddie Prinze Jr. während einer Performance-Show auf die Bühne muss – nur nutzt der Film dies für einen gelungenen Einblick in den Charakter der Figur, der ihre Werte zur Schau stellt. Ähnlich dürfte die Szene in Mias Stück funktioniert haben, der Film zeigt sie dem Zuschauer allerdings nur leider nicht.

Es fehlt dem Film an einem konsistenten Ton, eine verspielte Planetarium-Tanzszene als müde Hommage an Rebel Without a Cause verkommt zum Selbstzweck, trifft im Verlauf dann auf konventionellen Rom-Com-Humor bei Musikproben zwischen den Figuren von Ryan Gosling und John Legend. La La Land wird von Chazelle als kruder Mix aus West Side Story und Crazy Stupid Love inszeniert, konstant lediglich in seiner Uninspiriertheit, die sich von der Mise en Scène über die durch sich selbst ertränkte Musik bis hin zu den blassen Darstellerleistungen niederschlägt. Es fällt mir nicht nur schwer, dem Film positive Aspekte abzugewinnen, es ist vielmehr schlichtweg nicht möglich, da ihm jedem guten Willen zum Trotz keine solchen innewohnen.

Der Hype um den Film, kulminierend in so abstrusen wie folgerichtigen 14 Oscar-Nominierungen, ist selbsterklärend in Zeiten, wo Transformers-Filme immerzu die Milliarden-Dollar-Grenze sprengen und Disney sowie Marvel mit ihren Star Wars- und Superhelden-Werken stets dieselbe Geschichte erzählen und mit jedem Serieneintrag aufs Neue für ihre vermeintliche Originalität gelobt werden. “They worship everything and they value nothing”, kommentiert es La La Land an einer Stelle passend selbst. Das Positive ist, dass der Film bereits jetzt zum Jahresende nahezu vergessen ist. Und in Zukunft noch weniger eine Rolle in der Kinogeschichte spielten wird. Ein Opfer ohne Relevanz also – damit kennt sich Damien Chazelle ja aus.

0/10

3. November 2017

All These Sleepless Nights

So much was supposed to happen and nothing happened.

Die Phase des Lebens zwischen dem Ende der Teenager-Zeit und dem Erwachsenwerden ist eine ganz spezielle. Eine Phase des Entdeckens und Erlebens verschiedener Momente, die helfen, zu der Person zu werden, die man sein wird. “Reminiscence bump” beschreibt jenen Umstand, das Menschen am meisten an Erinnerungen aus dieser Phase in ihrem Leben festhalten. Der polnische Regisseur Michał Marczak leitet seinen jüngsten Film Wszystkie nieprzespane noce – international als All These Sleepless Nights vertrieben – mit der Erklärung des “reminiscence bump” ein. Zugleich liefert diese das Thema und die Prämisse für das Doku-Drama, welches lose ein Jahr am Leben seines Protagonisten in Warschau teilnimmt.

Der Film wird dabei mit dem Ende der Beziehung von Krzys (Krzysztof Bagiński) zu seiner langjährigen Freundin Monika eingeläutet. Und begleitet schließlich Krzys, wie er mit seinem besten Freund Michał (Michał Huszcza) eine WG gründet. Wir folgen Krzys und Michał von einer Party zur nächsten – genauso wie zu nächtlichen Wanderungen durch die Stadt. So lange, bis Krzys in Eva (Eva Labeuf) bei einer Party Michałs Ex-Freundin kennenlernt. Beide beginnen eine Romanze und Krzys beschließt wenig später, aus der WG auszuziehen. Seine Gesellschaft ändert sich für Krzys, doch die Partys bleiben. Jeder Moment ist dabei ganz besonders in All These Sleepless Nights. Und doch sind sie alle letztlich im Grunde genauso gut austauschbar.

Im Fokus steht dabei Krzys, ohne dass der Zuschauer nähere Einblicke in seinen Charakter erhält. Er manövriert aus seiner ersten ernsten Beziehung, verarbeitet diese in einer Romanze, wohnt zuerst mit einem Freund alleine, später dann nur für sich. Macht alkoholgeschwängerte Bekanntschaften mit Fremden auf Partys, führt tiefsinnige Gespräche auf Toiletten. Und ist hierbei auf der Suche nach (s)einer eigenen Identität und einer Richtung. Marczaks Film wirkt infolgedessen wie eine weniger prätentiöse moderne Version eines Terrence-Malick-Films. Beide thematisieren die Sinnsuche, Einsamkeit und Liebe in ihren Werken. Marczak fokussierter – sowohl in seiner Kameraarbeit, aber insbesondere auch hinsichtliche der narrativen Herangehensweise.

“I feel like I constantly want to sabotage myself”, gesteht Krzys. Später wird er eine Bekanntschaft fragen: “Can you see my loneliness?” Krzys ist auf der Suche, nur weiß er nicht so recht, wonach. Wenn eine alkoholisierte Eva bei ihrem ersten Kennenlernen festhält “I feel like I know you” ist das nicht nur lustig, sondern fundierter als es den Anschein hat. Krzys, Michał und Eva sehen in gewisser Weise sich selbst in einander. Das macht ihnen ihre Gesellschaft so bedeutsam, aber stößt sie letztlich wohl auch voneinander ab. Wenn Krzys mit seinem Freund Adam (Adam Repucha) in einem Bad über das Leben und die Liebe sinniert, um festzuhalten “it might be a few years before I understand all that”, gibt dies den Kern der Sache wieder.

Noch fehlt diesen jungen Menschen die Einordnung und ein Blick auf das große Ganze. Sie leben im Jetzt und Hier und wenn sie nachts oder frühmorgens durch die leere Straßen Warschaus spazieren, auf dem Heimweg von der letzten Party, fühlen sie sich naturgemäß wie “the gods of the city”, wie es Eva ausdrückt. Laut der Inhaltsangabe sind Krzys und Michał Kunststudenten, zu sehen kriegt der Zuschauer davon nichts. Wir begleiten beide nur von einem Event zum nächsten und manchmal auch dazwischen. Und kriegen ihre Streitereien mit, sei es wegen Krzys Umgang mit Eva oder seiner Haltung zu einer weiblichen Bekanntschaft seines besten Freundes auf einer später Party. Alles, so scheint es, ist im Wandel.

Jeder von ihnen sucht wie Krzys nach etwas Bestimmtem, ohne zu wissen, was. Sie alle haben aber eine Ahnung, eine Erwartung. “So much was supposed to happen and nothing happend”, bringt es gegen Ende eine Bekannte von Krzys auf den Punkt. Sie habe gewusst, woher er komme, erzählt Krzys in Bezug auf Evas Reflektion zu seiner Verarbeitung des Beziehungsendes mit Monika. Wohin er will, so scheint es, wusste Eva aber genauso wenig wie Krzys selbst. Sodass ihre Beziehung im Laufe von All These Sleepless Nights auch zum Scheitern verurteilt ist. Zwischen Partys, Frauen, Musik und Drogen mäandert Krzys daher durch das Nachtleben seiner Stadt, wirkt dabei aber nie vollends zufrieden oder glücklich.

Faszinierend ist die Tatsache, dass Michał Marczak weniger einen Spielfilm als eine Dokumentation abliefert. So spielen sich Krzys, Michał, Eva und Co. scheinbar selbst – respektive Versionen von ihren Persönlichkeiten. Die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen somit, angesichts des narrativen wie visuellen Flusses des Films ist es dennoch bemerkenswert, dass selbst große Teile von ihm nicht gespielt im klassischen Sinne sind. Die drei Hauptfiguren sind dabei eindringlich und charismatisch, vom pragmatischen Michał Huszcza über die bezaubernde Eva Labeuf hin zum nachdenklichen Krzysztof Bagiński. Fast schon ein Charakter für sich ist dabei die Musikauswahl, die als Soundtrack des Lebens der Figuren dient.

All These Sleepless Nights inszeniert das Leben als eine Momentaufnahme. Und genauso als eine Abfolge von Momenten. Manche von ihnen waren für Krzys, Michał und Eva schöner als andere. Getreu dem “reminiscence bump” werden sie sich an alle jedoch eindringlicher erinnern als an später in ihrem Leben gemachte Erfahrungen. Nicht nur – aber natürlich auch – weil sie nun filmisch von Michał Marczak festgehalten sind. Als Zuschauer verliert man sich wie bei Terrence Malick in diesen das Leben abbildenden ruhelosen und doch beruhigenden Bildfragmenten. “We all have an archive of beautiful moments in our minds”, philosophiert Adam gegenüber Krzys gegen Ende des Films. All These Sleepless Nights ist letztlich selbst solch ein Archiv.

7/10

27. Oktober 2017

The Meyerowitz Stories (New and Selected)

Was that a spot?

Künstler sind oft exzentrisch – von Vincent van Gogh bis hin zu Salvador Dali. Hierin liegt wohl auch mit ein Faktor für die Faszination mit jenen Künstlern. Der Bildhauer Harold Meyerowitz (Dustin Hoffman) ist ebenfalls leicht exzentrisch, wenn er im Trenchcoat Sohn Danny (Adam Sandler) und Enkelin Eliza (Grace Van Patten) daheim empfängt. Die Faszination der Kunstwelt mit ihm hält sich inzwischen jedoch in Grenzen. Auch deswegen organisieren Danny und seine Schwester Jean (Elizabeth Marvel) eine Retrospektive für den Vater, der aktuell plant, sein Haus sowie Kunstbestand aufzulösen. Noah Baumbach erzählt in seinem neuen Film The Meyerowitz Stories (New and Selected) in Auszügen aus dem Leben dieser Familie.

Zu ihr gehört auch Matthew (Ben Stiller), der jüngste Sohn Harolds, der aus der Ehe mit seiner zweiten Frau stammt. Er ist der Gegenentwurf zu seinem Halbbruder: Beruflich erfolgreich als Finanzberater genießt er die Zuneigung seines Vaters, auch wenn er diesen in seiner Heimat New York als Angelito eher selten besucht. Danny hingegen hat nur eine gescheiterte Karriere als Pianist vorzuweisen, seit Elizas Geburt hat er gar nicht gearbeitet, sondern war Hausmann. Da die Tochter nun selbst ein Filmstudium beginnt, können auch die Eltern endlich ihre gescheiterte Ehe offiziell machen. Was Danny wiederum obdachlos macht, weshalb er vorerst bei Harold und dessen vierter Ehefrau und Alt-Hippie Maureen (Emma Thompson) unterkommt.

Weitestgehend erinnert The Meyerowitz Stories dabei an eine Mischung aus Woody Allen und Wes Anderson, der Humor ist subtil und nuanciert. Baumbachs Film dreht sich im Kern um die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern. So hat Danny zwar weder eine Arbeit noch eine Bleibe, dafür aber ein sehr inniges Verhältnis zu seiner jugendlichen Tochter, die er bereitwillig bei ihren pornografischen Avantgarde-Kurzfilmen unterstützt. Die Beziehung von Danny und Eliza kontrastiert dabei die von Danny zum eigenen Vater. Von Harold wurde Danny meist außen vor gelassen, was mit dadurch begünstigt war, dass Letzterer zumeist bei seiner Mutter und getrennt vom Vater lebte. Der wiederum konzentriert sein Interesse auf Matthew.

Zwar ist Matthew selbst kein Künstler, kommt aber ganz nach dem Vater. Der Kontakt zu Harold ist ähnlich eingeschränkt wie der zum eigenen Sohn, der bei der Ex-Frau lebt. Per Facetime kommuniziert Matthew zwischendurch, ist aber mehr unterwegs als im Leben des Sohnes präsent. Missgunst von Danny und Jean ist dennoch kaum vorhanden, auch wenn Matthew später vom großen (Halb-)Bruder vorgeworfen wird: “You make me feel real bad about myself.” Noch weniger leicht hatte es Jean, die den Brüdern bei einem offenen Austausch gesteht, sie würden nie nachvollziehen können “what it means to be me in the family”. Obschon weniger geliebt als Matthew sind es trotzdem gerade Danny und Jean, die sich mehr um Harold kümmern.

Der weiß dies wenig zu schätzen, selbst als er im Verlauf stürzt und Zeit im Krankenhaus verbringt. Baumbach nutzt diesen Umstand, um die drei Geschwister, speziell die Brüder, wieder einander näher zu bringen. Dabei steht Adam Sandler im Zentrum, der eine seiner seltenen ernsthaften Rollen spielt und dabei wie jeher überzeugt. Das gefällige Ensemble, zu dem auch Judd Hirsch als Harolds erfolgreicherer Kunstkollege L.J. Shapiro gehört, trägt den Film die meiste Zeit insgesamt sehr gut. Garniert mit kurzweiligen Gast-Auftritten von Sigourney Weaver, Candice Bergen und Adam Driver. Nur wenn The Meyerowitz Stories gegen Ende zeitweilig eine emotionale Richtung einschlägt, fällt speziell Ben Stiller leicht aus dem Rahmen.

Ob es für die Beziehung von Harold zu seinen Kindern zu spät ist, bleibt dabei offen. Zumindest die der Geschwister untereinander wirkt jedoch zum Schluss der Geschichte(n) gestärkt. “It’s always been the same, same old story”, sang Cat Stevens in seinem Evergreen “Father and Son” über das schwierige Verhältnis eines Vaters zu seinem Sohn. Noah Baumbach inszeniert seine Version dieser Beziehung mit seiner gewohnten unernsten Ernsthaftigkeit, der im Vergleich zu seinen letzten Filmen Frances Ha und Mistress America – mit Muse und Freundin Greta Gerwig – etwas die Leichtigkeit fehlt. Exzentrisch genug ist The Meyerowitz Stories aber allemal. Womit ihm eine gewisse Faszination nicht abgesprochen werden kann.

6.5/10

20. Oktober 2017

mother!

You gotta fight for your right to party.
(Beastie Boys, [You Gotta] Fight for Your Right [to Party])


Der US-Zirkuspionier P.T. Barnum wird mit dem Ausspruch “there’s no such thing as bad publicity” assoziiert. Selbst negative Werbung sei letztlich trotz allem noch Produktwerbung – das gilt bei Filmen vielleicht noch am ehesten, je weiter das Meinungs-Pendel in die qualitative Gegenrichtung schlägt. Nach dem Motto: So schlecht, wie der Film gemacht wird, kann er gar nicht sein. Daraus folgert gegebenenfalls ein Drang zur Selbstüberzeugung. Immer öfter drohen Hollywood-Filme dennoch, früh zu Kassen-Flops zu werden, indem ihnen ihr vermeintlich schlechter Ruf vorauseilt. Ohne dass sie deswegen jedoch schlecht sind – mitunter, wie Gore Verbinskis vergnüglicher The Lone Ranger, sogar im Gegenteil ausgesprochen gelungen ausfallen können.

Ob nun eine Note F der US-Film-Marktforscher von CinemaScore, die schlechteste mögliche Wertung seitens der Befragten, hierunter fällt, sei dahingestellt. Zumindest ist die Wertung wahrlich eine Auszeichnung, wird sie doch relativ selten vergeben (u.a. an Richard Kellys The Box). Dass sein jüngster Film die Meinungen spalten würde, hat Darren Aronofsky sicher kalkuliert. Das Feedback zu mother! umfasst das volle Spektrum von Meisterwerk bis Katastrophe. Er wollte einen “Punk-Film“ machen, erklärte Aronofsky im Nachhinein. Einen Film, der das Publikum konfrontiere und provoziere. Die Ablehnung, so folgert der Regisseur, ist somit letztlich ein Eingeständnis für den Wahrheitsgehalt der intendierten Filmaussage.

Erzählt wird im simpelsten Sinne von einer jungen Frau (Jennifer Lawrence), die mit ihrem Mann (Javier Bardem), einem Poeten, in einem Landhaus wohnt, das sie soeben renoviert. Bis zuerst ein kränkelnder Orthopäde (Ed Harris), kurz darauf seine egozentrische Gattin (Michelle Pfeiffer), dann deren Söhne (Domhnall Gleeson, Brian Gleeson) und schließlich eine ganze Horde von Verehrern des Poeten inklusive dessen Publizistin (Kristen Wiig) auf der Bildfläche erscheinen und die Nerven der Hausherrin (über-)strapazieren. Im weitesten Sinne verfilmt mother! derweil lose Passagen aus der Bibel, vom 1. Buch Mose hin zu den Evangelien und kulminierend in der Offenbarung des Johannes als sozio-ökologischen Kommentar.

So repräsentiert Jennifer Lawrences im Laufe des Films schwanger werdende Frau die titelgebende Mutter Natur, Bardems an Schreibblockade leidender Poet dagegen steht für Jahwe, ihr gemeinsames Haus, um welches sich die Frau kümmert (“I wanna make a paradise”), für die Erde. Ihr Leben verläuft weitestgehend harmonisch, bis zum Eintreffen der Menschen an ihrer Pforte. Erst ist es Harris’ Double für Adam, das die Aufmerksamkeit des Hausherren auf sich zieht. Mit Eintreffen von Pfeiffers Eva-Vertretung geraten die Dinge noch schneller aus den Fugen. Sie steckt ihre Nase in Angelegenheiten und Orte, die sie nichts angehen. Korrumpierende Aktionen, die verstärkt drohen, das sie aus dem „Paradies“ des Hauses vertrieben werden könnten.

Die Idee, das 1. Buche Mose um Adam und Eva sowie den Brudermord von Kain, hin zum Gericht über Sodom und Gomorra, der Geburt Jesu und seinen Tod und schließlich der Apokalypse in ein zeitgenössisches, fast kammerspielartiges Szenario zu pressen, ist sicher nicht verkehrt. Die Umsetzung dieser Idee in Form von mother! dann allerdings schon. Bereits mit seinen früheren Werken wie The Fountain mag sich Aronofsky den Vorwurf der Prätention verdient haben, doch mother! setzt dem Ganzen die Krone auf. Die verschiedenen ineinander überfließenden Vignetten sind nie wirklich nuanciert oder subtil, vielmehr überaus plump und uninspiriert. Sie passieren und lösen einander ab, kommunizieren aber nicht wirklich etwas.

Da treten Kain (Domhnall Gleeson) und Abel (Brian Gleeson) auf und nach dem Brudermord gleich wieder ab. Nach einem ausufernden Leichenschmaus mit Sintflut-Referenzen (“could you come down, the sink’s not brazed”) macht der Film mit der einsetzenden Schwangerschaft eine kurze Pause, ehe sich das Chaos erneut Bahn bricht. Der Schlussakt ist eine Tour de Force für die Mutter-Figur. Der sich in seiner Eitelkeit verlierende Poet wird von der Zuneigung der Menschen geblendet, ein privates Abendessen mutiert zur wilden Hausparty, die ein Sonderkommando aufzulösen versucht, ehe die Lage eskaliert. Das ist wenig spitzfindig, auch nicht, als später Jesu geboren und buchstäblich verspeist wird („Nehmt, das ist mein Leib“, Mk, 14,22).

mother! ist eine mit dem Holzhammer kommunizierte Allegorie auf die Umweltzerstörung durch die Menschheit. Verächtlich blickt und agiert diese mit der Figur von Lawrence, wird am Ende sogar gewaltsam. Sie unterminiert das Konstrukt des Hauses – erneut buchstäblich. Die Botschaft: Wir zerstören den Planeten und ignorieren die Klagen von Mutter Natur. Gott selbst interveniert nicht, zu sehr ist er in der durch die Anhimmlung der Menschen ausgelösten Eitelkeit verloren. Die Mutter-Figur ist dabei auch eine solche für den Poeten, doppeldeutig zitiert Aronofsky nach hinten raus in einer Szene zwischen Ihr und Ihm daher aus Shel Silversteins The Giving Tree (“I wish that I could give you something but I have nothing left”).

Aufgrund der Bibel-Allegorien ist der Film zugleich ein Kommentar auf das Christentum – hier jedoch kritischer beäugt als in Aronofskys jüngster Bibel-Adaption Noah. Nur fehlt es wie in der Umwelt-Metapher einer genauen Motivation des Gezeigten. Die Affektion für den Poeten wird nicht erklärt, seine Barmherzigkeit ebenso nicht. Von der Reue Jahwes aus dem Alten Testament hinsichtlich der Menschen fehlt viel in mother! – und den Bildern ein gewisses Gewicht. Es reicht nicht, die sinnbildliche Abendsmahlgabe des Leib Christi in der eucharistischen Gestalt der Hostie ins buchstäbliche Grafische umzumünzen, wenn die gezeigte Handlung nicht eingeordnet wird. Positive Menschenbilder (z.B. Mose, Abraham) fehlen zudem gänzlich.

Grundsätzlich spricht nichts dagegen, die Zerstörung des Planeten anhand von in die Gegenwart übertragene Bibelstellen zu kommentieren. Ein Kommentar sollte jedoch mehr sein, als eine simple Kritik ohne Einordnung. mother! hätte in der Form als Allegorie womöglich besser funktioniert, wenn der Film nicht zugleich seine Botschaft mit einem Sauseschritt durch die einprägsamsten Momente der Bibel verknüpfen wollte. Generell hätte dem Film deutlich mehr Subtilität gut zu Gesicht gestanden, die mother! jedoch gänzlich vermissen lässt. Für Darren Aronofsky ist dies der nächste filmische Rückschritt nach den zuletzt enttäuschenden Noah und Black Swan. Insofern ist mother! letzten Endes doch weniger “punk” und eher “junk”.

4/10

13. Oktober 2017

Testről és lélekről [Körper und Seele]

Date of first seminal emission?

Früher waren die Geschlechter ein gemeinsames Kugelwesen, ehe sie Zeus in einer göttlichen Trennung in zwei Hälften teilte. So legt es der Philosoph Platon in seinem Dialog Symposion seiner Figur Aristophanes in den Mund. „Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind“, erzählt Platon durch seine Figur. „Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte.“ Zwei verwandte Seelen treffen auch in der Geschichte von Testről és lélekről – bei uns: Körper und Seele – der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi aufeinander. Die Jury der Berlinale 2017 um Paul Verhoeven lobte das Mitgefühl des Films und zeichnete ihn mit dem Goldenen Bären aus.

Als auf einem Schlachthof die Qualitätskontrolleurin in die Elternzeit geht, wird sie durch Mária (Alexandra Borbély) ersetzt, eine soziale Außenseiterin mit Asperger-Charakteristika. Nach dem Diebstahl einiger Tier-Potenzmittel lädt der Finanzdirektor des Schlachthofs, Endre (Géza Morcsányi), auf Anraten der Polizei eine Psychologin ein, um das Personal zu profilieren. Dabei stellen Mária und Endre fest, dass sich beide nachts in ihren Träumen treffen. Dort streifen sie gemeinsam als Hirsch und Hirschkuh durch den verschneiten Wald. Fortan tauschen sich die Zwei regelmäßig über ihre Träume aus und kommen einander näher. Doch Márias soziale Störung und Berührungsängste drohen, ihrer zarten Romanze in die Parade zu fahren.

Mit Ruhe und Bedacht erzählt Ildikó Enyedi ihre Geschichte von zwei Figuren, die gemeinsam ihre Einsamkeit bekämpfen wollen. Mária ist aufgrund ihres autistischen Verhaltens ein Außenseiter, meidet körperlichen Kontakt und geht ihr Leben gänzlich strukturiert und nach Regeln geordnet an. Da wird dann auch schon mal Rindfleisch abgestuft, weil es minimal an der Top-Auszeichnung vorbei schrammt. Endre wiederum ist durch die Lähmung seines linken Arms gebeutelt, lebt seither zurückgezogen und hat in der Folge dem anderen Geschlecht abgeschworen. Die Faszination des geteilten Traums treibt die Charaktere anfangs zueinander, ein romantisches Interesse aneinander und die Suche nach Liebe ergibt sich erst danach daraus.

Inspiration für ihre Handlung könnte sich Enyedi von Brian Wilsons Song Meet Me in My Dreams Tonight geholt haben. “Tonight I’ll drive home all alone / And maybe later we'll talk on the phone / But it takes a little more to get me through / If we can’t get together here’s what we’ll do / Hold on / And meet me in my dreams tonight”, sang der Musiker darin 1988. Fortan ist Mária bestrebt, über ihre soziale Störung hinwegzukommen, um die Affektion zwischen ihren tierischen Traumbildern auf ihre reale Beziehung zu Endre zu übertragen. Testről és lélekről generiert seinen subtilen Humor aus vielen solchen Momenten, beispielsweise wenn Mária nach Feierabend zu „Studienzwecken“ mit griffbereiten Gummibärchen Pornofilme goutiert.

Dieses Bestreben, „aus zweien eins zu machen und die menschliche Schwäche zu heilen“, um nochmals aus Platons Symposion zu zitieren, eint nun Mária und Endre. Gänzlich harmonisch verläuft ihre Geschichte deswegen aber nicht. Wie auch die Beziehung der beiden Figuren nicht die einzige im Film ist, die das Zwischenmenschliche zum Thema hat. So hadert der Schlachtmeister damit, dass seine Gattin bereits mit anderen Angestellten des Schlachthofs liiert war, und Endre selbst verdächtigt erst einen neuen extrovertierten Schlachter des Potenzmittel-Diebstahls, ehe der Konflikt bereinigt wird. Ihren Fokus richtet Ildikó Enyedi jedoch klar auf ihre zwei Protagonisten, ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Zuneigung.

Der Film lebt speziell von Alexandra Borbélys zurückgenommenem Spiel, das sich aufgrund der Persönlichkeit der Figur dabei auf bloße Blicke beschränkt. Gerade auch mit den Tiermotiven – sei es im Traum oder als Kontrast dazu im Schlachthof – gelingt es Enyedi oft, teils anmutige Bilder zu finden. Das tröstet etwas über das etwas ungeschickte Drama zum Ende des zweiten Aktes und die Vorhersehbarkeit der Geschichte hinweg. „Allein ist der Mensch ein unvollkommenes Ding; er muss einen zweiten finden, um glücklich zu sein“, wusste auch Blaise Pascal getreu der Rede des Aristophanes. Dennoch hätte Testről és lélekről nicht zwingend ins Genre des Liebesfilms abgleiten müssen – zwei lediglich verwandte Seelen hätten schon ausgereicht.

6.5/10

6. Oktober 2017

Silence

The price for your glory is their suffering.

Das Leben ist Leiden – das galt früher noch mehr als heute. So entstand dann konsequenter Weise die Religion. „Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet Alles“, schrieb Friedrich Nietzsche in „Der Antichrist“ nieder. „Es galt eine Religion zu erfinden, in der geliebt werden kann: damit ist man über das Schlimmste am Leben hinaus, – man sieht es gar nicht mehr.“ Ähnlich interpretiert werden könnte auch der Glaube der Kakure Kirishitan in der Edo-Zeit Japans, die nach Verbot ihres Katholizismus’ Mitte des 17. Jahrhunderts ihren Glauben im Geheimen ausleben mussten. Sie stehen im Zentrum der Geschichte von Martin Scorsese Passions-Projekt Silence, welches er nach einem Vierteljahrhundert verwirklichen konnte.

In der Adaption von Endō Shūsakus gleichnamigem Roman von 1966 geht es um die vermeintliche Apostasie des Jesuiten-Priesters Ferreira (Liam Neeson) in Japan. Als diese zu seinem Kollegen Valignano (Ciarán Hinds) in der portugiesischen Kolonie Macau in China durchdringt, machen sich Ferreiras ehemalige Jünger Rodrigues (Adam Garfield) und Garupe (Adam Driver) auf, um den Fall zu überprüfen. Begleitet vom verstoßenen Kichijiro (Kubozuka Yōsuke) treffen die zwei Jesuiten auf Mokichi (Tsukamoto Shinya) und sein Dorf von Kakure Kirishitan. Während sie für dessen Bewohner wieder klerikale Dienste verrichten, erfährt das Shogunat um seinen Großinspekteur Masashige (Ogata Issey) von den Praktiken und ermittelt gegen das Dorf.

Die Suche nach Ferreira gerät dabei bald in Vergessenheit, wenn für Rodrigues und Garupe das Leiden der Kakure Kirishitan greifbar wird. Sie stehen sinnbildlich für all jene Gläubigen des christlichen Glaubens, die in ihrer Liebe zu Gott über das Schlimmste am Leben hinauskommen wollen. Wie Dürstende in der Wüste lechzen sie nach dem Segen, der Kommunion, der Beichte, die nun wieder dank der jungen Jesuiten Einzug in ihr Dorf gefunden haben. “I worry they value these poor signs of faith more than faith itself”, realisiert Rodrigues. “But how could we deny them?” Ein Kreuz, ein Rosenkranz sind für die Gläubigen Liebe genug, während gerade Rodrigues nach einer höheren Identifikation mit seiner Religion strebt.

Im Verlauf von Silence wird Rodrigues, der bald zur alleinigen Hauptfigur avanciert, in eine fast schon messianische Rolle gedrängt. “Your faith gives me strength”, bedankt er sich da bei Mokichi und Co., während diese alsbald für ihren Glauben an ihn und das, was er repräsentiert, bestraft, gefoltert und getötet werden. Mit dem strauchelnden Kichijiro erhält Rodrigues seinen ganz eigenen abtrünnigen „Judas“ an die Seite gestellt, kann diesem trotz seiner wiederholten Verrate jedoch zugleich nicht die christliche Absolution seiner getätigten Sünden absprechen. Für das Shogunat sind die Kirishitan eher ein formales Ärgernis. Mit einer simplen Apostasie in Form von einem Betreten eines Götterbildnisses ist der Vorfall meist aus der Welt geschafft.

Ähnliches wird auch von Rodrigues erwartet, um dem Leid der Kakure Kirishitan ein Ende zu bereiten. Die Figur sieht sich also mit der Frage konfrontiert, ob sie das Leben ihrer Gemeinde oder ihre Seelen retten soll. Dabei bleibt fraglich, inwiefern die Apostasie in Form des Tretbildes (fumie) überhaupt eine solche ist. Schließlich lautete schon Gottes Gebot an Moses: „Du sollst dir kein Gottesbild anfertigen“ (Ex 20,4). Inwieweit nun das Betreten eines von Gott verbotenen Gottesbildnisses eine Apostasie darstellt – zumal eine letztlich nur vorgegebene –, erörtert Silence nicht. “Why must their trial be so terrible?”, fragt Rodrigues dennoch und deutet somit an, dass der dargestellte Konflikt zuvorderst ein psychologischer ist.

Gott selbst wohnt dem Ganzen mit dem titelgebenden Schweigen bei. Das fumie des Shogunats wird als Prüfung verstanden, als Glaubensbeweis und Bekenntnis. Eine Abwendung von Gott zum eigenen Wohl, ähnlich der Verleugnung Petri von Jesus (Mt 26, 69-75), für die Kirishitan. Zugleich aber auch ein Test der Abwendung für Rodrigues, ähnlich wie ihn zuvor Ferreira wohl durchstehen musste. Und versagte. Scorsese erzählt mit Silence von Stärke und Schwäche des Glaubens und seine Bedeutung für die Religion. Wo manche Figuren ihre Standhaftigkeit zum Christentum mit dem Leben bezahlen, ordnet Kichijiro seine Gesundheit über seiner Religion ein. Was jedoch deshalb keineswegs heißt, dass diese für ihn ohne Bedeutung wäre.

Scorsese beleuchtete dies selbst im Gespräch mit der Jesuiten-Zeitschrift La Civiltà Cattolica als es um das Ausüben seines eigenen Katholizismus’ ging. “Practicing is not something that happens only in a consecrated building during certain rituals performed at a certain time of day”, erklärt Scorsese da. Vielmehr äußere es sich in den alltäglichen Handlungen. In gewisser Weise leben also Rodrigues und Kichijiro auf ihre eigene Art und Weise ihre Religion aus. Silence widmet sich dieser Frage dank seiner großen Laufzeit gebührend und aufrichtig, wenn auch mitunter redundant. Dabei jedoch aufgrund Rodrigo Prietos Kameraarbeit stets wundervoll anzusehen und von dem Ensemble um Garfield, Driver und Kubozuka eindringlich gespielt.

Der im September verstorbene Heiner Geißler war selbst in jungen Jahren Jesuit, der mit der Zeit angesichts des Leidens in der Welt hinsichtlich Gott zweifelte. Und ähnlich wie Nietzsche realisierte: „Millionen Menschen können das jetzige Leben nur in der Hoffnung auf ein besseres Leben ertragen.“ Für Geißler reichte die „Sehnsucht nach der Sehnsucht, glauben zu können“, um sich noch als Christ zu identifizieren. In gewisser Weise handelt auch Silence von dieser Sehnsucht nach der Sehnsucht des Glaubens. Mit seinem Passions-Projekt gelang Scorsese sein bester Film in diesem Jahrhundert. Insofern gibt Silence dem Zuschauer ebenfalls Glauben zurück. Wenn auch eher den Glauben daran, dass Scorsese doch noch gute Filme drehen kann.

7/10

29. September 2017

Abacus: Small Enough to Jail

I wish the story could end the same way as ‘It’s a Wonderful Life’.

Der „kleine Mann“ ist eine wirkungsvolle Sozialfigur, die zur Identifikation einlädt. Die Zeche, so eine oft neuinterpretierte Redewendung, zahlt zum Beispiel immer der kleine Mann. Auch passend wäre der englische Ausspruch von “shit rolls downhill” – Verantwortung wird nach unten durchgereicht. So verwundert es nicht, dass im Zuge der weltweiten Finanzkrise von 2007 und 2008 auf dem Hypothekendarlehenmarkt weder Goldman Sachs noch Bear Stearns, JP Morgan oder Deutsche Bank und Co. wirkliche Konsequenzen für ihr Handeln fürchten mussten. “Too big to fail”, lautet die systemrelevante Begründung hierfür. Nicht so jedoch die kleine New Yorker Bank Abacus Federal Savings, die im Mai 2012 für ihre Verwicklungen vor Gericht landete.

“Small enough to jail”, kommentiert es der Journalist Matt Taibbi – und leiht Regisseur Steve James damit den Untertitel für dessen dokumentarische Aufarbeitung des Falls. Abacus: Small Enough to Jail widmet sich dabei nicht sonderlich intensiv der Finanzkrise als solcher und der Rolle von Abacus innerhalb dieser. Vielmehr beleuchtet James die Bank selbst und ihre Ursprünge. Thomas Sung gründete sie einst Mitte der 1980er Jahre im New Yorker Stadtteil Chinatown speziell für die Bewohner des Viertels, wo die Immigranten aus der fernöstlichen Republik ihr Geld anlegen konnten. Mit der Zeit wuchs die Bank um ein paar Filialen, später stießen auch Sungs zwei älteste Töchter Jill und Vera zu dem Finanzunternehmen dazu.

Im Vorfeld der Finanzkrise geschah nun bei Abacus, was auch bei anderen Banken geschah: Es wurden Hypotheken an Fanny Mae in Millionenhöhe verkauft. Der Unterschied war, dass Abacus von dem Betrug seitens ihres Mitarbeiters Ken Yu erfuhr und ihn den Behörden meldete. “To make sure this didn’t happen again”, wie Journalist David Lindorf sagt. Als Dank erwartete die Bank der Sungs eine Anklage der Staatsanwaltschaft New Yorks. Wo die anderen Banken als zu systemrelevant (“too big to fail”) angesehen wurden, als dass man sie strafrechtlich verfolgen konnte und sie daher mit Bußgeldern belegte, negierte der Staat dies Abacus. So entsteht der Eindruck, als solle an der kleinen Bank ein Exempel statuiert werden.

“This is an attack on a community”, findet dagegen der Chinatown-Aktivist Don Lee. “We’re easy prey.” Dabei wird jedoch nicht wirklich klar, inwieweit der ethnische Hintergrund von Abacus tatsächlich eine Rolle – und wenn ja, inwiefern – gespielt hat. Stattdessen erscheint es so, dass der kleinen Bank schlicht die Systemrelevanz fehlte, damit ihr die Fehler vergeben werden, die auch all die anderen gemacht haben. Was natürlich nicht fair ist, Steve James’ Doku über die prinzipiell sehr sympathisch gezeichnete Familie Sung jedoch einen gewissen David-gegen-Goliath-Faktor verleiht. Der Regisseur ist dabei wie gewohnt sehr nah dran an seinen Protagonisten und konstruiert seinen Blick auf die Finanzkrise via einer persönlichen Geschichte.

Als solche stehen die Sungs eher im Vordergrund wie das Schicksal ihrer Bank oder dessen Kunden. Zum Beispiel wenn wir mit Chantarelle die Jüngste kennenlernen, die ursprünglich in der Staatsanwaltschaft New Yorks tätig war, bis diese Anklage gegen ihre Schwester und Vater erhob. Vielleicht wäre es nie zu einer Anklage gekommen, wenn Abacus den Betrug seines Angestellten nicht selbst gemeldet hätte. Was das juristische Verfahren nur noch unfairer macht. Zugleich wird das sehr altruistische gezeichnete Bild der Sungs in Mitleidenschaft gezogen, durch ein Verhalten, mit dem diese augenscheinlich nichts zu tun haben. Aber natürlich als Bankleitung dennoch die Verantwortlichkeit tragen. Am Ende die als Sündenbock für die Krise.

Derart tief in die Materie wie ein Inside Job dringt Abacus: Small Enough to Jail nicht ein. Schafft aber aufgrund seines Fokus’ auf die Menschen hinter der Krise respektive in diesem Fall einer für die Krise verantwortlich gemachten Bank eine Sicht auf die Dinge, die anderen Dokumentationen zum Thema abgeht. Dass mit Abacus Federal Savings zugleich eine ganze Gemeinschaft – hier: Chinatown – mitbetroffen werden könnte, treibt die Ironie der Folgen der Finanzkrise letztlich in gewisser Weise auf die Spitze. Der kleine Mann zahlt somit irgendwie tatsächlich doch am Ende die Zeche. Wenn auch nicht immer, wie der Schluss von Abacus: Small Enough to Jail zeigt. Auch wenn es nicht ganz das Ende von It’s a Wonderful Life wurde.

6.5/10

Info: Abacus: Small Enough to Jail ist gratis bei PBS: Frontline streambar (OV).